Ein Netz von Fachleuten in der Region steht für Betroffene und Angehörige bereit.

Harburg. "Man kann lernen, damit umzugehen - aber das Übel bleibt", sagt Karl* (65) und schaut auf die Tischplatte. Sein Gesicht scheint ausdruckslos, tiefe Falten auf braun gebrannter Haut. Helles Licht tut ihm gut, genau wie Wandern oder klassische Musik hören.

Seit wann das Übel sein Leben beherrscht, kann er nicht genau sagen. Vor Jahren hat es sich von hinten angeschlichen, fast unbemerkt, hat ihn gepackt und bis heute nicht mehr losgelassen. Sicher, manchmal spürt er es kaum und dann drückt es wieder so fest zu, dass Karl kaum ein noch aus weiß. An diesen Tagen bleibt er am liebsten im Bett, die Vorhänge zugezogen, das Leben ausgesperrt. Karl ist depressiv.

"Die Depression gehört zu den meist unterschätzten Krankheiten unserer Zeit", sagt Dr. Hans-Peter Unger, Leitender Arzt der Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapie in der Asklepios Klinik (AK) Harburg und Mitbegründer des Harburger Bündnisses gegen Depression. 2004 ins Leben gerufen, ist es eine Allianz aus Medizinern, Psychotherapeuten, Selbsthilfegruppen, psychosoziale Einrichtungen. Lange Zeit galt das Thema Depression als tabuisiert. Viele Ärzte wussten zu wenig darüber, um eine Depression diagnostizieren zu können, Betroffene, die über ihre Krankheit sprachen, stießen auf Unverständnis, wurden stigmatisiert. Erst in den letzten Jahren ist das Thema mehr und mehr Gegenstand der öffentlichen Diskussion geworden - nicht zuletzt durch so prominente Fälle wie der des Fußballprofis Robert Enke. Dr. Hans-Peter Unger: "Durch das Harburger Bündnis wollten wir das Hilfenetz für die Betroffenen und ihre Angehörigen in der Region Harburg verbessern und somit Erkrankten die Chance auf Heilung geben."

Karl besucht eine Selbsthilfegruppe der Vereinigung Kiss-Harburg, Kontakt- und Informationsstelle für Selbsthilfegruppen - auch sie ist im Netz des Bündnisses eng mit anderen Einrichtungen verwoben.

Jeden Donnerstagnachmittag trifft er im ersten Stock des Harburger Kulturzentrums Rieckhof die anderen Gruppenmitglieder. "Manchmal sind wir zu sechst, manchmal auch zu acht und dann wieder nur drei, das ist ganz unterschiedlich", so Karl. Eine Leitung gibt es nicht, jedes Mitglied ist gleichberechtigt.

Um das zu ändern, setzt das Harburger Bündnis gegen Depression auf vier Ebenen an: Aufklärung der Öffentlichkeit, Kooperation mit Haus- und Fachärzten, Zusammenarbeit mit Lehrern, Pastoren oder Betriebsräten, Angebote wie Selbsttests oder Unterstützung von Selbsthilfegruppen.

Auch für Petra (66) ist das Gruppen-Treffen ein Pflichttermin. Genau wie Karl gibt ihr der Austausch mit anderen Betroffenen Halt. "Hier kann ich sagen, wenn es mir richtig schlecht geht." So schlecht, dass sie manchmal am liebsten nicht mehr weiter machen würde. Sie sitzt an diesem Nachmittag neben Karl, links von ihr hat Elke (61) Platz genommen. Zwei Jahre hat sie gebraucht, bis sie an den Gruppen-Treffen teilnehmen konnte. "Ich bin so oft gekommen", erinnert sie sich, "meistens habe ich unten an der Tür wieder kehrt gemacht. Ich hatte einfach Angst."

Warum sie heute hier sitzen? Karl ist als Baby vernachlässigt worden, Petra als Kind missbraucht. Bei ihr liegt die Veranlagung zur Depression in der Familie. Ihr Vater war depressiv, ihr Sohn wollte sich mit elf Jahren das Leben nehmen.

In Psychotherapie sind die Gruppenmitglieder alle, auch Psychopharmaka oder Antidepressiva gehören zu ihrem Leben und einige haben sogar schon einen Klinikaufenthalt hinter sich. Ihre Angehörige wollen die meisten Erkrankten mit diesen Problemen nicht zu sehr belasten und Außenstehende haben oft kein Verständnis. "Aber in der Gruppe habe ich gelernt, über meine Probleme zu reden", so Elke. "Schon allein der Satz 'das kenne ich auch' tut so gut."

Dr. Unger und sein Team freuen sich über solch positive Rückmeldung. Hilfestellung für den Aufbau des Harburger Bündnisses sei aus Nürnberg gekommen, wo sich 2001 das erste Bündnis gegen Depression formiert hatte, gefördert durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung. Anfang Mai 2003 startete die bundesweite Ausweitung des erfolgreichen Modellversuchs aus Nürnberg. Dr. Unger: "Nach wissenschaftlichen Erhebungen haben sich die Suizidversuche dort um ein Viertel verringert." Ein Erfolg, den man auch in Harburg anstrebt.

Vorträge, Entspannungskurse und Informationsveranstaltungen für Angehörige depressiv Erkrankter: Karl, Petra und Elke sind froh über das gute Angebot in Harburg. Trotzdem müsse noch viel passieren: "Es ist sehr schwer, einen Psychotherapeuten zu finden", so Karl. Die meisten haben Wartelisten von einem halben Jahr. Kostbare Zeit, in der Betroffenen hätte geholfen werden können. "Aber wir haben uns", so Petra, "und das ist ganz viel Wert."

* Namen der Selbsthilfegruppe-Mitglieder von der Redaktion geändert