Paralympics-Sieger Henry Wanyoike informiert sich in Niedermarschacht über Milchkühe. Wer in seiner Heimat Kenia welche hat, dem geht's gut.

Niedermarschacht. Ängstlich stupst ein kleines Kalb, das in einem Auslauf auf den Hof von Bauer Hans-Peter Meyn in Niedermarschacht untergebracht ist, den kenianischen Spitzensportler Henry Wanyoike, 38, am Hosenbein. "Hello little cow, hallo Kälbchen", sagt Wanyoike, beugt sich vorsichtig nach unten und streckt seine Hand nach dem Tier aus. Er will sich bei Meyn über Milchwirtschaft informieren. Denn Kühe sind überlebenswichtig in seinem Land.

Henry Wanyoike ist blind. Und Paralympics-Goldmedaillengewinner. Im Jahr 2000 in Sydney, bei den Paralympics, den Olympiawettkämpfen für Behinderte, gewann er völlig überraschend das 5000-Meter-Finale. "From zero to hero", aus dem Nichts zum Helden, brüllten seine kenianischen Fans begeistert. Denn niemand hatte ihm, den Blinden aus Kikuyu, diesen Sieg zugetraut.

Danach ging es Schlag auf Schlag: 2002, bei den Afrika-Spielen in Kairo, gewann er zweimal Gold über 800 und 1500 Meter. Danach verbesserte der Kenianer in Japan die Weltbestzeit für Blinde im Marathon. Als bester blinder Läufer gewann Wanyoike das legendäre Straßenrennen in Boston über eine Distanz von 5000 Metern. Erneut holte er 2004 bei den Paralympics in Athen Gold, bei den Versehrten-Wettkämpfen 2008 in Peking immerhin noch Bronze.

Weshalb er ein Herz für Kühe hat? "Für viele Familien in Kenia bedeutet eine Farm mit Milchwirtschaft Reichtum. Auch mein Eltern haben fünf Tiere, und wir lieben sie", sagt er im Gespräch mit dem Abendblatt. Er weiß, dass die regelmäßige Versorgung mit Milch für viele Menschen des armen afrikanischen Landes lebensnotwendig ist. "Ich wollte etwas tun, nur Medaillen zu Hause vorzeigen und mich feiern lassen, das reichte mir nicht", sagt der Sportler. Deshalb gründete er 2005 die Henry-Wanyoike-Foundation.

Mit seinem Projekt "Cows for Kenya", Kühe für Kenia, hatte sich Wanyoike folgendes überlegt: "Von meinem Geld für meine Erfolge kaufe ich eine Kuh. Die überlasse ich einer Familie unter der Bedingung, dass wiederum das erste Kalb des Tieres an eine andere Familie verschenkt wird", sagt er. Der Plan geht auf: 40 Tiere hat Wanyoike schon nach Kenia bringen lassen und damit den Lebensunterhalt vieler Menschen auf Jahre gesichert. Seit zehn Jahren weicht ihm sein Guide Joseph Kibunya nicht von der Seite, auch er ist von dem Hilfsprojekt überzeugt.

Wie nun Milchwirtschaft in Deutschland funktioniert, das will er von Bauer Meyn aus Niedermarschacht erfahren. Vermittelt hat den Kontakt zum Landwirt der CDU-Bundestagsabgeordnete Michael Grosse-Brömer.

Der Rundgang über die Hofanlage ist für Wanyoike fast eine Art Kulturschock. Meyn hat 500 Kühe, und in seiner Hochleistungsmelkanlage können zwei Mitarbeiter 160 Kühe in einer Stunde melken. Es gibt eine ausfahrbare Gülleanlage - völlig andere Dimensionen als auf den Farmen seines Heimatlandes. Dort gehört Wanyoikes Familie mit ihren fünf Kühen, die sie liebevoll umsorgt und von Hand melkt, zu den Bessergestellten. "Es ist beeindruckend. Bei uns in Kikuyu würden hier 20 Menschen Arbeit finden, tatsächlich sind es sind es vier", sagt er und lauscht nachdenklich den Kälbchen. "Ich habe erfahren, dass die Landwirtschaft hier subventioniert wird, das erhoffe ich mir auch von unserer Regierung. Wir können viel von den Bauern und dem Leben hier lernen."

Wenn er nicht an Wettkämpfen teilnimmt oder sich um sein Hilfsprojekt kümmert, arbeitet Wanyoike in der von der Christoffel-Blindenmission geförderten Augenklinik in Nairobi. Dort macht er verzweifelten Menschen Mut. "Ich will ihnen einen Ausweg aus der Dunkelheit zeigen. Sie sollen erfahren, dass man trotz der Behinderungen ein erfülltes Leben haben kann."

Diese Einstellung imponiert vielen Kenianern: In seiner Heimat ist Wanyoike ein Held. Wenn er bei bedeutenden Wettkämpfen antritt, sitzen seine afrikanischen Fans vor den Radiogeräten und fiebern mit ihrem blinden Helden. Und sein Engagement hat ihm bereits den Laureus-Award, die wichtigste Sport-Auszeichnung, eingebracht. Derzeit wird ein Film über sein Leben gedreht. "Gold" heißt die Dokumentation, die im Frühjahr 2013 in die Kinos kommt.

Viel Zeit in Niedermarschacht hat Wanyoike nicht. Er muss sich auf die Wettkämpfe im Sommer in London vorbereiten. "Wenn ich laufe, bin ich glücklich", sagt er. "Aber wenn ich Farmarbeit mache und mit diesen Tieren zu tun habe, bin ich ebenso glücklich."