Promenadologe Bertram Weisshaar erkundet mit 100 Buchholzern zu Fuß, was die Einwohner bewegt

Buchholz. Ein Talk Walk ist nicht einfach schnöder Spaziergang mit Gesprächen. Das gäbe es ja schon. Nein, er ist angewandte Wissenschaft, ein Instrument der Urbanismuskritik. Und so hat sich am Sonnabend die erstaunliche Anzahl von 100 neugierigen Bürgern vor dem Rathaus in Buchholz zu dem ersten promenadologischen Spaziergang in der Geschichte der Landkreises Harburg versammelt. Der Spaziergangswissenschaftler Bertram Weisshaar will auf 2,5 Kilometern die Diskussion in Gang bringen, wie die Menschen im Jahr 2030 in Buchholz leben wollen.

Die Stadt Buchholz entwickelt zusammen mit Bürgern einen Zukunftsentwurf, integriertes Stadtentwicklungskonzept (ISEK) genannt. Arbeitsgruppen entwerfen mehr als ein Jahr lang Leitbilder und planen einzelne Projekte. So etwas ist gerade en vogue in ganz Deutschland. 50.000 Euro lässt sich die Nordheidestadt das kosten. Im Vergleich zu anderen ISEKS in Niedersachsen sei das wenig, sagt Stadtbaurätin Doris Gronke. Üblich seien 80.000 bis 120.000 Euro.

Neben den typischen Versammlungen und Workshops hat die Stadt Buchholz dazu noch eine völlig neue Form der Bürgerbeteiligung gewählt: den promenadologischen Spaziergang, auch Talk Walk genannt. Die Stadt hat dazu den Spaziergangswissenschaftler Bertram Weisshaar aus Leipzig engagiert. „Ich mag keine Stadtplanung nur vom Schreibtisch aus“, sagt die Stadtbaurätin. Weisshaar hat den Braunkohletagebau in Ostdeutschland durchwandert und den Menschen gezeigt, dass diese „Dreckslöcher wunderschön sein können“.

Abhören ist bei einem Talk Walk erwünscht. Zwei Assistentinnen des Spaziergangsforschers tragen ein digitales Aufnahmegerät und einen Verstärker mit sich, um alle Gespräche an den insgesamt neun Stationen in Buchholz aufzunehmen. Keiner der 100 Teilnehmer hat etwas dagegen. Das Bürgerwort soll ja in das Zukunftsleitbild der Stadt Eingang finden und muss protokolliert werden.

Entschleunigung ist ein Element bei einem Talk Walk. Denn Ziel der Spaziergangsforschung ist das Weiterführen des bloßen Sehens zum Erkennen. Die Spaziergänger erfahren den ihnen eigentlich bekannten Raum durch die eigenen körperliche Bewegung neu. Bertram Weisshaar spaziert nicht nur eine halbe Stunde. Und so erfahren die Buchholzer zum Start, dass sie drei Stunden Zeit mitbringen sollen.

Bei 100 Teilnehmern kommt selbst ein Talk Walk ohne Beschleunigungsregeln nicht aus: „Drücken Sie sich knapp und konkret aus“, gibt der Spaziergangswissenschaftler den Leuten auf den Weg, „damit möglichst viele zu Wort kommen.“

Ein promenadologischer Spaziergang dient auch der Vermittlung von Wissen. Soziale Räume sind an diesem Tag das Thema. Das Jugendzentrum in Buchholz zählt dazu und so ergreift die Mitarbeiterin Simone Fehling das Wort, während die Spaziergänger Kurzfragebögen ausfüllen. Wie attraktiv Buchholz für Jugendliche sei, will der Wissenschaftler auf einer Skala von Doppelplus bis Doppelminus auf den verteilten Kärtchen wissen. Simone Fehling indes äußert den Wunsch von Jugendlichen, eine Möglichkeit zu schaffen, mit dem Mountainbike Sport machen zu können.

Bertram Weisshaar führt die Bürger zu einer Baustelle, an der 16 Eigentums- und Mietwohnungen für Gutsituierte entstehen. Ob es genug bezahlbaren Wohnraum in Buchholz gebe, will er wissen. Offensichtlich hat die Stadt hier Nachholbedarf: Für „normale Rentner“ ohne Einkünfte aus Kapitalanlagen werde das Leben in Buchholz zunehmend schwerer, sagt ein Mann. Eine Teilnehmerin erzählt von Bekannten, die nach Schneverdingen, also weg aus dem teuren Hamburger Speckgürtel, gezogen seien, weil sie dort 400 Euro Miete im Monat sparen könnten. Kleine Wohnungen für Studenten und Auszubildende würden ebenfalls fehlen. Mit Hilfe des Spaziergangswissenschaftlers wird deutlich, dass Buchholz in Zukunft städtisch geförderte Wohnungen schaffen müsse.

Beim Talk Walk erfahren die Bürger Wissenswertes aus ihrer Stadt. Peter Loginowski, Stadtplaner in der Verwaltung, berichtet, dass der Anteil der Fußgänger am Verkehr in Buchholz im Bundesvergleich eher niedrig sei. Dafür würden die Buchholzer besonders oft kurze Strecken, ein bis fünf Kilometer, mit dem Auto zurücklegen.

Bringt denn ein Talk Walk wirklich etwas? „Ich habe zum ersten mal das Gefühl, dass gehört werden möchte, was ich sage“, begrüßt Elke Riepshoff die neue Form von Bürgerbeteiligung. „Man erfährt Dinge, die man nicht wusste“, sagt Andrea Viercke. Einen zweiten promenadologischen Spaziergang plant die Stadt für Ende Oktober.