Hamburg. Tatjana Schlag treibt trotz Behinderung Sport, geht „wegen der Blicke“ aber nicht ins Fitnessstudio. Wie ein Verein ihr hilft.

Ihr altes Leben endete auf einer Landstraße in Sachsen-Anhalt. Das Motorrad, eine türkisfarbene Suzuki 125, lag neben ihr. Und auch ihr linkes Bein, von dem der Fuß fast abgerissen war. „Ich weiß noch alles“, sagt Tatjana Schlag aus Hamburg-Eppendorf über den Unfall, den ein entgegenkommender Autofahrer beim Überholen verursacht hatte. An diesem Tag vor fast genau neun Jahren war sie erst 18 Jahre alt.

Sein altes Leben endete in einer Röhre aus Stahl. Nach einem Tauchunfall in Südfrankreich im Herbst 2008 lag HNO-Professor Thomas Grundmann in der Druckkammer des Militärkrankenhauses in Toulon – von der Brust an abwärts gelähmt. „Aus dem Sportler war ein Gelähmter geworden, aus dem Chefarzt ein Patient“, sagt der 65 Jahre alte Eimsbüttler heute. „Das war schwer zu akzeptieren.“

Hamburg-Nord: Wie sich Eppendorferin nach Motorradunfall ins neue Leben boxt

Tatjana Schlag und Thomas Grundmann haben sich beide mit unerschütterlichem Optimismus und eisernem Willen durch monatelange Reha-Aufenthalte gekämpft und den sich anschließenden Jahren das Maximum an Lebensqualität abgewonnen. Entscheidend geholfen hat ihnen dabei ihre Begeisterung für Sport und Bewegung – und die hat sie jetzt auch zusammengebracht.

Mit seiner Lebensgefährtin Nadine Witt, die als Integrationslotsin beim Landessportverband Schleswig-Holstein e.V arbeitet, hat Thomas Grundmann im Februar dieses Jahres den Verein zur Förderung von Mobilität & Vielfalt (VMV) gegründet. Dessen Ziel ist es, Menschen mit Handicap zu ermöglichen, sich sportlich zu betätigen – und zwar außerhalb der herkömmlichen Angebote.

Kaifu Eimsbüttel: Boxtraining bei Ex-Sparringspartner der Klitschko-Brüder, Peter Okoroji

Tatjana etwa hat gerade mithilfe des Vereins mit dem Boxen begonnen. Einmal in der Woche trainiert die schlanke junge Frau, die seit vier Jahren in Hamburg lebt, mit dem ehemaligen Amateur- und Profiboxer Peter Okoroji. Der war schon Sparringsparnter für die Klitschko-Brüder, Dariusz Michalczewski und Rocchigiani Graciano und vermittelt sein Können nicht nur im legendären Box-Club Ritze, sondern jetzt auch im Reha-Zentrum am Kaifu in Eimsbüttel.

„Es ist so großartig, dass Nadine und Thomas mir das ermöglichen“, sagt Tatjana in unverkennbarem Sächsisch. Denn der Unfall habe ihrem Leben zwar eine positive Wendung gegeben. Doch ins Fitnessstudio sei sie schon lange nicht mehr gegangen. „Ich war die einzige mit einer Behinderung und habe die Blicke dort nicht mehr ausgehalten.“ Jetzt ist sie beim Boxen nicht mal mehr die einzige Rolli-Fahrerin: auch Daniela Möller, deutsche Vize-Meisterin im Parafechten, ist mit von der Partie.

Motorradunfall auf Landstraße: Eppendorferin gibt Leben positive Wendung

Moment mal. Wie kann ein Unfall, bei der eine lebenslustige junge Frau ein Bein verliert, ihrem Leben eine positive Wendung geben? Tatjana lacht. „Ich war davor ein ziemlich verrücktes Ding und habe auch schlechten Umgang gehabt. Der Unfall hat mir gezeigt, worauf es im Leben wirklich ankommt: auf Familie und Freundschaft.“

Tatjana Schlag hat bei einem Unfall ein Bein verloren, aber nicht ihren Mut. Das Boxtraining, sagt sie, „erweitert mein Lebensglück“.
Tatjana Schlag hat bei einem Unfall ein Bein verloren, aber nicht ihren Mut. Das Boxtraining, sagt sie, „erweitert mein Lebensglück“. © Funke Foto Services | Michael Rauhe

Ihre Eltern, ihr damaliger Freund und die besten Kumpels besuchten sie acht Monate lang fast täglich in Krankenhaus und Reha und kamen gemeinsam mit ihr in der neuen Realität an. „Bei meinen Eltern habe ich mich dafür entschuldigt, dass ich ihnen vorher oft Kummer gemacht habe.“ Mit ihrem Freund sei sie danach noch eineinhalb Jahre zusammen gewesen.

Eppendorferin schminkt Bräute und weist auf Website auf ihre Behinderung hin

Doch dann verliebte sie sich in Daniel – er hatte ihr damals regelmäßig Briefe ins Krankenhaus geschickt. Nach einem Praktikum als Make-up-Artist in ihrer alten Heimat ging Tatjana Schlag mit ihrem Partner nach Hamburg, weil es hier eine Schule gab, an der sie eine richtige Ausbildung machen konnte. Das Paar landete zunächst in einer völlig überteuerten möblierten Wohnung in Hamm, und dank eines freundlichen Maklers schließlich in einer Wohnung nahe dem UKE.

Heute arbeitet Tatjana selbstständig für die Brautstylistin Henrieke Bleil. Dass sie nur ein Bein hat, steht auf der Website. Weil das aber nicht immer gelesen wird, erzählt sie es den Kundinnen auch bei der Terminverabredung. „Es ist allerdings schon vorgekommen, dass ich das vergessen habe und Braut und Brautjungfern einen Schrecken gekriegt haben, als eine Einbeinige zur Tür reinkam.“ Doch der habe sich immer schnell wieder gelegt.

Hamburger Verein vermittelt Eppendorferin nach Motorradunfall passendes Angebot

Der Unfall habe bei ihr „einen Schalter umgelegt“, sagt Tatjana. Und fügt ohne Verbitterung hinzu: „Ich bin extrem und brauchte wohl einen extremen Arschtritt.“ Viermal sei sie in der ersten Zeit zusammengebrochen und habe sich heulend gefragt: „Warum ich?“ Doch sie habe sich jeweils schnell wieder beruhigt und schließlich beschlossen: „Auf die Frage gibt es keine Antwort. Daher stelle ich sie mir nicht mehr.“

Obwohl sie bestmöglich in ihrem neuen Leben angekommen ist, bedeutet ihr das Angebot des VMV viel: „Die Möglichkeit, Sport machen zu können, ohne Außenseiterin zu sein, erweitert mein Lebensglück gewaltig.“ Das dürften auch die 50 anderen Menschen so sehen, denen der Verein passende Sportangebote vermitteln konnte.

Hamburger Verein zur Förderung von Mobilität und Vielfalt ist einzigartig in Deutschland

„Wir sind unter den etwa 90.000 Sportvereinen in Deutschland meines Wissens der einzige, der ausschließlich durch die Kooperation mit Sportvereinen oder Einrichtungen Sportprojekte für Menschen mit Behinderungen ins Leben ruft und umsetzt“, sagt die Vereinsgründerin und -vorsitzende Witt im Garten der Reha am Kaifu, vor den geöffneten Türen zu dem Raum, in dem einmal pro Woche das Boxtraining stattfindet.

Eigentlich entwickelt die von der Insel Fehmarn stammende 48-Jährige als Integrationslotsin Sportprojekte für Menschen mit Migrationshintergrund. In dieser Funktion nahm sie vor einigen Jahren auch an einer Vorführung der NDR-Doku „Schwerelos“ teil. Dort lernte sie Thomas Grundmann, einen der Protagonisten, kennen. Mittlerweile wohnen die beiden zusammen, nicht weit weg von der Reha, in der auch Grundmann seit zwei Jahren trainiert.

VMW Hamburg: „Jeder kann mitmachen und von unseren Kooperationen profitieren“

„Das Angebot des VMV passt gut zu uns und erweitert unser Therapieangebot“, sagt Reha-Leiterin Anna Runnebaum. Neben dem Boxen soll es in der Einrichtung bald auch gemeinsame Projekte wie Gerätetraining für Rollstuhlfahrer, Falltrainig für Senioren, Achtsamkeitstraining und Yoga für Frauen mit Migrationshintergrund geben.

„Jeder kann bei uns mitmachen und von unseren Kooperationen profitieren – egal ob mit oder ohne Behinderung und unabhängig von Herkunft und Alter“, betont Nadine Witt. Bieten kann der Verein – nicht zuletzt durch private Kontakte – auch ungewöhnliche Angebote: etwa das Kiten in Ägypten, am Roten Meer. „Der Hersteller Core unterstützt uns mit kostenlosem Material“, sagt Thomas Grundmann, der mittlerweile selber begeisterter Kitesurfer ist.

HNO-Professor Thomas Grundmann ist trotz Querschnittslähmung begeisterter Kiter

Natürlich steht er dann nicht auf dem Brett, sondern sitzt in einem Gestell, das auf einem Kiteboard fest verschraubt wurde. Und weil diese Form des Kitens bislang noch wenig bekannt ist, sollen die Trainer in Deutschland von ägyptischen Freelancern eine spezielle Schulung erhalten, die der VMV in Kooperation mit Kommunen, der DLRG und anderen Kitevereinen anbieten möchte.

Mehr zum Thema

50 Euro kostet die Mitgliedschaft im Verein von Nadine Witt und Thomas Grundmann pro Jahr. Etwa 20 Mitglieder gibt es bereits und auch Menschen, die den VMV mit einer Spende unterstützen. Außerdem werden sie vom Deutschen Olympischen Sportbund durch kleine Förderprojekte unterstützt und haben gerade bei der wichtigsten Preisverleihung für Sportprojekte den Großen Stern in Bronze erhalten.

Verein aus Hamburg benötigt Spenden, um einen Transporter kaufen zu können

Dennoch ist das Geld knapp. Um Kiteboards und -segel, Kajaks, Strandrollstühle und anderes Equipment transportieren, Kinder mit Handicap zum Reiten bringen oder mit Blinden eine Klettertour machen zu können, würde Nadine Witt gerne einen Vereinsbus anschaffen.

Dafür werden 8000 Euro benötigt, von denen etwa ein Drittel bereits vorhanden ist. Weitere 800 Euro (zehn Prozent der benötigten Spendensumme) würde die Bank dazugeben, sofern das Spendenziel bis kommenden Sonntag erreicht wird. „Dann endet die Frist, innerhalb derer wir das Crowdfunding-Projekt erfolgreich abgeschlossen haben müssen“, sagt die Vorsitzende des Vereins zur Förderung von Mobilität & Vielfalt. Nur wenn das Spendenziel erreicht wird, wird die Summe an unseren Verein auch ausgezahlt.“

Sport mit Handicap in Hamburg: Bewegung für Menschen mit Behinderung sehr wichtig

Zum Schluss des Gesprächs verweist Thomas Grundmann noch einmal auf die Wichtigkeit, die Sport für Menschen mit Handicap hat. „Viele Behinderte denken, ihr Handicap sei gleichbedeutend mit Unbeweglichkeit. Dabei müssten eigentlich alle, wenn irgendwie möglich, Sport machen“, so der Arzt, der nicht nur kitet, sondern auch Monoski und Fahrrad (mit Handbetrieb) fährt.

Derzeit beschäftigt ihn der Gedanke, ein Rennrad für Rollstuhlfahrer zu entwickeln. Das wäre dann auch für Tatjana ein weiteres Stück Lebensglück.