Winterhude. Kann man seinem Kopf Beine machen? Ja, das geht. Mit Gehen. Am besten an der frischen Luft wie hier im Stadtpark. 25 Teilnehmerinnen haben sich am Sonntag vor dem Wasserturm versammelt, sie werden in der nächsten Stunde „eine Wundertüte an sinnlichen Eindrücken“ erleben, wie Stefanie Probst sagt. Probst ist lizenzierte Gehirntrainerin. Sie trägt eine pinkfarbene Jacke mit einer weißen Schärpe darüber, das könnte auch als Prinzessinnen-Look durchgehen, doch auf der Schärpe steht „Brainwalking“. Der Begriff setzt sich aus den Englischen Wörtern Brain für Gehirn und Walking für Gehen zusammen.
Bevor es losgeht, fragen sich die angetretenen Brainwalkerinnen, warum eigentlich kein einziger Mann zum Gehirntraining unter freiem Himmel erschienen ist? „Sie haben den Termin vergessen“, sagt eine Teilnehmerin, die anderen lachen. Die meisten kennen sich nicht, doch sie sind schon jetzt vereint durch die Neugierde auf Neues. „Ich konnte mir unter Brainwalking gar nichts vorstellen, also bin ich hingegangen“, sagt Anke Hansen aus Langenhorn. Offen sein für Dinge, die man nicht kennt, ist die beste Voraussetzung dafür, im Kopf fit zu bleiben. „Routine bekommt dem Gehirn nicht“, sagt Stefanie Probst. Die 48-Jährige greift nun in ihre Tasche und eröffnet die Wundertüten-Stunde.
Das beste Kopf-Fitnessstudio liegt bei jedem gleich um die Ecke: ein Park
Los geht es mit einer Übung, bei der Bewegungen und Denken miteinander kombiniert werden müssen. Jeder bekommt einen Igelball, den er in die Hand nehmen soll, die er im Alltag nicht so häufig benutzt. Probst ordnet Zahlen von 1 bis 7 eine bestimmte Bewegung zu: Wenn sie 1 sagt, sollen die Teilnehmerinnen den Ball in der Hand kreisen lassen, bei 2 um den Körper führen, bei 3 hin und her werfen, bei 4 auf der Schulter kreisen, bei 5 unter dem Bein durchführen, bei 6 miteinander tauschen und bei 7 in die Luft werfen. Die Gruppe setzt sich in Bewegung und versucht auf die Zahlen, die Probst ihnen zuruft, richtig zu reagieren. Was war noch mal 3? Und 5? Bei der Nachbarin abgucken ist erlaubt, in der Gemeinschaft lernt es sich schneller.
In den ersten Minuten wirkt das Ganze wie ein chaotischer Haufen Leute, die zum ersten Mal im Leben einen Ball in der Hand haben. Andere Stadtpark-Spaziergänger bleiben stehen und gucken irritiert. Was machen die da? Kopftraining regt anscheinend auch Beobachter zum Nachdenken an. Nach und nach wird die Gruppe sicherer. Von einer Parallelität in Synchronschwimmer-Manier sind sie noch weit entfernt, doch wenn Probst die Zahl 7 ruft, dann fliegen immerhin 20 Bälle gleichzeitig in die Luft.
„Können wir noch die Zahlen 8 und 9 hinzufügen?“, fragt Probst. Die 7 stellt so was wie eine magische Grenze im Gedächtnis dar. Sieben Dinge auf einmal zu erinnern, das bekommen wir gerade noch hin, „darüber hinaus wird es schwierig“, sagt Probst. Die Brainwalker nehmen die Herausforderung an, und tatsächlich wird es plötzlich wieder viel unkoordinierter. Stefanie Probst erklärt, warum es schwer ist, sich viele Dinge auf einmal zu merken und wie es mit dem Einsatz mehrerer Sinne besser funktioniert. Unser Gedächtnis besteht keineswegs aus einem großen Ganzen, sondern aus verschiedenen Bereichen, dem sensorisches Register, dem Arbeitsspeicher, dem Kurzzeitgedächtnis und dem Langzeitgedächtnis. Der Arbeitsspeicher ist die zentrale Stelle der bewussten Informationsverarbeitung. Hier wird gedacht und geplant. Die Speicherdauer im Arbeitsspeicher beträgt nur fünf bis sechs Sekunden. Werden Informationen als unwichtig betrachtet oder sind wir nicht voll konzentriert, vergessen wir sie praktisch sofort. „Der Arbeitsspeicher muss unbedingt fit gehalten werden, denn seine Leistung wird mit zunehmendem Alter langsamer“, sagt Stefanie Probst.
Je älter man wird, desto schwerer fällt es also, neue Informationen schnell aufzunehmen und darauf zu reagieren. Doch wer bei dem Begriff Alter an 70 oder 80 Jahre denkt, liegt leider total falsch. „Nein, dieser Prozess beginnt leider schon mit Ende 20.“
„Oh nein“, sagt eine etwa 50-jährige Teilnehmerin. „Dann trainieren wir am besten schnell weiter.“ Als nächstes geht es darum, Buchstaben mit geschlossenen Augen zu erfühlen und daraus ein Wort zu bilden. 4000 Nervenzellen durchziehen einen Finger, sie aktivieren eine große Anzahl an Gehirnzellen, ihre Durchblutung ist daher ganz wichtig. Stricken, Klavierspielen oder beim Telefonieren malen – alles gute Gehirnübungen. „Also niemals Hände in den Schoß legen“, sagt Agnes Landbeck aus Ottensen, die schon öfters dabei war. Sie macht zu Hause regelmäßig Übungen wie rückwärts buchstabieren. „Alle stählen ihre Muskeln, unser Kopf braucht das Training genauso.“ Hanteln fürs Hirn sozusagen.
Das beste Kopf-Fitnessstudio liegt bei jedem gleich um die Ecke: ein Park. Das Gehirn liebt frische Luft und Bewegung. Es verbraucht bis zu 70 Liter Sauerstoff in 24 Stunden und bringt 20 Prozent mehr Leistung, wenn der Körper aktiv ist. Genau deshalb findet das Brainwalking von Stefanie Probst draußen und im Gehen statt. Ihre Denksportaufgaben basieren auf einem Mentalen Aktivierungs-Training, das ein Team von Wissenschaftlern aus den Bereichen Informationspsychologie, Medizin und Pädagogik der Gesellschaft für Gehirntraining e. V. entwickelt hat. Um die Leistungsfähigkeit von Geist und Gedächtnis optimal zu fördern, kommt es darauf an, sowohl die logische als auch die kreative Gehirnhälfte anzusprechen.
70 bis 80 Prozent aller Sinneseindrücke nehmen wir über die Augen auf
Die nächste Aufgabe besteht daher darin, die Buchstaben eines Wortes zu zählen, diese Zahl einem Buchstaben in Alphabet zuzuordnen (1 steht für A, 2 für B usw.), und aus diesen Buchstaben wiederum ein Wort zum Thema Frühling zu bilden. Kompliziert? Nur die ersten zwei Minuten, dann flutscht es. „Parkbank“, sagt Stefanie Probst. Acht Buchstaben zählen ihre Schützlinge, also der Buchstabe H im Alphabet. „Hummel, Holunder, Heuschnupfen, Hausputz“ – den Teilnehmerinnen fällt ein Wort nach dem anderen ein. „Garten“, sagt Probst. Fitness, Fahrradtour, Ferien usw. Die Brainwalkerinnen haben nun sichtbar Vergnügen an ihren Aufgaben. „Gemeinsam fällt einem viel mehr ein, man ergänzt sich, das Kommunikative hier macht am meisten Spaß“, sagt Eva Maria Suhr. Die 66-Jährige schaut durch den Park und sagt, dass sie hier schon vor 60 Jahren mit ihren Eltern Drachen hat steigen lassen. Jetzt bringt sie frischen Wind in ihren Kopf und riecht mit verschlossenen Augen an verschiedenen Kräutern. „Oregano?“ „Genau.“ Das Programm von Stefanie Probst soll alle Sinne herausfordern, also auch den Riechsinn. „Stecken Sie Ihre Nase im Alltag ruhig in so viele Dinge wie möglich“, sagt Probst. 70 bis 80 Prozent aller Sinneseindrücke nehmen wir über die Augen auf, daher fällt es schwer, etwas nur mit der Nase zu bestimmen.
Die meisten Teilnehmer sind über 50 Jahre alt, was damit zusammenhängt, dass die Angst vor dem Verlust des Gedächtnisses erst im Alter kommt. Dabei braucht man seine geistige Fitness schon von Anfang an. Stefanie Probst trainiert zum Beispiel auch ihre Kinder. Ihre Tochter lernt die Englisch-Vokabeln im Gehen, ihr Sohn macht vor den Hausaufgaben eine Konzentrationsübung. „Das Gehirn ist wie ein Motor, es braucht immer ein bisschen, bis es anspringt“, erklärt Probst.
Ihre Anspring-Übung geht ganz einfach, sagt Probst, jeder könne sie zu Hause oder bei der Arbeit zwischendurch machen. Man liest einen Text und streicht zum Beispiel alle Wörter mit zwei E weg oder Wörter mit Doppelbuchstaben oder solche, die mit S beginnen. Diese Übung steigert die Konzentration, und die anschließende Informationsaufnahme fällt einem viel leichter. Ideales Hilfsmittel: eine Zeitung. Wie praktisch, dass diese gerade vor Ihnen liegt.
Nächste Brainwalking-Termine am 14. Juni im Hirschpark, am 12. Juli im Jenischpark und am 26. Juli im Inselpark Wilhelmsburg, jeweils 11 Uhr. Anmeldungen erwünscht unter Tel. 27807597. Die Teilnahme kostet 8 Euro, davon ein Euro für das Kinder-Hospiz Sternenbrücke e. V.
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