Hamburg. Die große Abendblatt-Geburtstagsserie mit den 75 wichtigsten Geschichten aus diesen Jahren. Heute: Die Bahn-Katastrophe von 1961.

Es ist ein Unglück, das auch Jahrzehnte später nichts von seinem Schrecken verloren hat, und das heute noch genauso erschütternd ist wie 1961.

Damals ereignet sich in der Nähe des Bahnhofs Berliner Tor der schwerste Unfall in der Geschichte der Hamburger S-Bahn. 28 Menschen lassen ihr Leben, weil ein Fahrdienstleiter eine falsche Entscheidung trifft.

Das Drama beginnt am späten Abend des 5. Oktober 1961, einem Donnerstag, als eine S-Bahn um 22.30 Uhr im Hauptbahnhof in Richtung Bergedorf startet. Der sogenannte Halbzug besteht aus drei Wagen.

Er ist voll besetzt, auch mit Nachtschwärmern, die aus dem Kino oder Theater nach Hause fahren wollen. Ein eigenes Auto haben damals noch längst nicht alle Menschen in Hamburg. Für viele von ihnen wird die Heimfahrt zu einer Reise in den Tod.

S-Bahn-Unglück in Hamburg: 28 Menschen starben nahe des Berliner Tors

Um 22.34 Uhr gibt Fahrdienstleiter Alfred M. für den im Bahnhof Berliner Tor wartenden Zug mit der Nummer 3819 im nahe gelegenen Stellwerk grünes Licht – ein Fehler mit katastrophalen Folgen.

Denn M. hat in diesem Moment nicht bedacht, dass ein mit riesigen Doppel-T-Trägern beladener Bauzug südöstlich des Bahnhofs auf demselben Gleis rangiert – und das, obwohl dieser Zug das Stellwerk nur Minuten zuvor passiert hatte. „Einfach vergessen“ habe er diesen Sachverhalt, wird M. später in einer Aussage zugeben.

Wie das geschehen kann, bleibt für immer ein Rätsel. Möglicherweise, so wird später rekonstruiert, ist M. an diesem Abend mit Schreibarbeiten abgelenkt. Hinzu kommt: Die elektrische Streckensicherung ist wegen der Rangierarbeiten des Bauzuges abgeschaltet.

Zeugen berichten: Lärm beim Zugunglück glich einer Bombenexplosion

Das Verhängnis nimmt seinen Lauf. Mit rund 70 Stundenkilometern prallt die S-Bahn um 22.37 Uhr auf den unbeleuchteten Bauzug, dessen Fahrer im letzten Moment abspringen kann.

Zeugen berichten später von ohrenbetäubendem Lärm, vergleichbar einer explodierenden Bombe. Nur 16 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs ist ein solches Geräusch vielen Menschen immer noch allzu vertraut.

Die rund 15 Meter langen Träger haben sich circa 13 Meter tief in den Wagen gebohrt

Und an einen Bombenangriff erinnert auch das desaströse Bild, das sich den eintreffenden Rettungskräften vor Ort bietet. Die rund 15 Meter langen Träger haben sich von der Frontscheibe an rund 13 Meter tief in den ersten Wagen der S-Bahn gebohrt und ihn dabei buchstäblich aufgespießt.

Zwei Polizisten mit Taschenlampen führen in der Morgendämmerung nach dem Unglück eine verletzte Frau über die Bahngleise.
Zwei Polizisten mit Taschenlampen führen in der Morgendämmerung nach dem Unglück eine verletzte Frau über die Bahngleise. © ullstein bild | ullstein bild

Makaber: Die geladenen T-Träger passen von den Abmessungen nahezu genau in die Kabine der S-Bahn und drücken diese zusammen. Das Ganze wird später mit dem Mechanismus von Stempel und Kolben verglichen. Viele Fahrgäste sind wie bei einer hydraulischen Presse nach hinten gedrückt worden, eingeklemmt zwischen zerquetschten Sitzbänken, Holz- und Metallteilen.

Feuerwehr Hamburg: Bergung gilt als eine der schwierigsten in der Stadt

Innerhalb kurzer Zeit sind 18 Unfallwagen, zwei Großraumkrankenwagen und 25 Streifenwagen vor Ort. 200 Polizeibeamte, 150 Feuerwehrleute, dazu Einsatztrupps des Technischen Hilfswerks, des Arbeiter-Samariter-Bundes und der Bereitschaftspolizei treffen ein. Der nun folgende Einsatz ist für die Rettungskräfte so belastend wie nur ganz wenige in Hamburgs Nachkriegszeit.

Der damalige Oberbranddirektor Hans Brunswig nennt das Unglück später gemeinsam mit der Flutkatastrophe von 1962 „die wohl schwierigste Bergungsaktion in der Geschichte der Hamburger Feuerwehr“.

Ein Bild, das den Schrecken des Hamburger S-Bahn-Unglücks verdeutlicht: Nach der Kollision haben sich die Träger (Pfeil) rund 13 Meter weit in den ersten Wagen des „Halbzugs“ gebohrt.
Ein Bild, das den Schrecken des Hamburger S-Bahn-Unglücks verdeutlicht: Nach der Kollision haben sich die Träger (Pfeil) rund 13 Meter weit in den ersten Wagen des „Halbzugs“ gebohrt. © ullstein bild | ullstein bild

Zugunglück am Berliner Tor: Den Helfern bieten sich schockierende Szenen

Denn fatalerweise liegt die Unfallstelle am Anfang einer Brücke über den Peutekanal. Der Bahndamm ist an dieser Stelle rund zwölf Meter hoch und schwer zu erreichen.

Hinzu kommen die schockierenden Szenen, welche die Helfer unvorbereitet erleben. Überall schreien eingeklemmte Menschen, andere irren unter Schock in zerfetzter Kleidung an den Bahngleisen herum. Aus den Zugfenstern hängen Verstümmelte, der Bahndamm ist voller Blut.

S-Bahn-Unglück: Die Bergung der Opfer dauert am Bahndamm viele Stunden

Es dauert Stunden, bis die Opfer in dem zusammengepressten Wagen mithilfe von schwerem Gerät erreicht werden können. Faktisch muss das riesige Metallknäuel schrittweise auseinandergebogen werden, um Tote und Schwerverletzte zu bergen.

Feuerwehr und Rettungssanitäter leisten vor Ort fast Übermenschliches, auch das Technische Hilfswerk und viele Freiwillige helfen. Sechs Ärzte sind auf dem Bahndamm im Dauereinsatz, um den Schwerverletzten so gut wie möglich beizustehen.

Schockierende Auszüge aus einem Protokoll der Hamburger Feuerwehr

In einem Protokoll der Feuerwehr sind die Arbeiten minutiös vermerkt – es ist ein Dokument des Grauens (abgedruckt in dem Buch „Das große Feuerwehr Buch Hamburg“), das noch heute schockiert.

Einige Auszüge: „2.05 Uhr: erste lebende Frau nach Notamputation Unterschenkel befreit. 2.15 Uhr: ein junger Mann lebend. 3.25–3.30 Uhr: Notamputation beider Füße an jungem Mann, danach lebend geborgen. 3.35 Uhr: eine weibliche Leiche, ein älterer Mann bei vollem Bewusstsein. 3.40 Uhr: eine weibliche Leiche.

4.28 Uhr: eine Frau tot (letzte Reisende). Danach Umreißen der zusammengepressten Triebwagenfront, um an den unter der Wagendecke eingeklemmten Triebwagenführer heranzukommen. 4.45 Uhr: Triebwagenführer tot geborgen. Ende der Bergungsarbeiten.“

Verletzte müssen abgeseilt werden, auch Taxis und Privatautos als Hilfstransporter

Die Verletzten müssen mühsam zu den unterhalb des Bahndamms wartenden Rettungswagen abgeseilt werden, auch die vielen Helfer sind mit Seilen gesichert. Bis zum Morgen werden die umliegenden Kliniken ununterbrochen angefahren, alleine im AK St. Georg versorgen 22 Ärzte die Opfer. An diesen Fahrten beteiligen sich, so wird es später berichtet, auch zahlreiche Taxifahrer und andere Privatpersonen mit ihren Autos.

Schließlich steht die traurige Bilanz fest: 28 Menschen haben das Unglück nicht überlebt, fast 100 sind verletzt. Viele der Schwerverletzten leiden ihr Leben lang körperlich und seelisch unter den Folgen des Unglücks.

Einige Mitreisende lesen erst im Abendblatt vom Ausmaß des Zugunglücks

Verblüffend: Einige Reisende im mittleren und letzten Wagen bekommen in dieser Nacht vom ganzen Ausmaß des Unglücks gar nicht viel mit. Ihnen wird nach dem Aufprall von Bahnbediensteten lediglich gesagt, dass es einen Unfall gegeben habe. Danach werden sie aufgefordert, zu Fuß zur Station Berliner Tor zu laufen.

Was genau geschen ist, lesen sie dann erst am nächsten Tag in der Zeitung oder hören einen entsprechenden Bericht im Radio. „Bild des Grauens am Berliner Tor“ titelt das Abendblatt am Morgen des Folgetags. Und auch: „Der Fahrdienstleiter brach zusammen.“

Nach Zugunglück: Der Fahrdienstleiter wird verhaftet und vor Gericht gestellt

Nur Stunden nach dem Unglück wehen die Flaggen aller öffentlichen Gebäude auf halbmast, Hamburg trauert. Der Verantwortliche für die Katastrophe, Alfred M., wird verhaftet und vor Gericht gestellt, ein mitangeklagter Kollege mangels Beweisen für eine strafbare Handlung freigesprochen.

M. jedoch erhält ein Jahr Gefängnis auf Bewährung, kann aber nie wieder Schritt fassen. Nach mehreren Aufenthalten in psychiatrischen Kliniken und der Frühpensionierung zieht er sich, von Schuldgefühlen gequält, völlig zurück und stirbt als gebrochener Mann.

Vermutlich drosselte der Fahrer der S-Bahn im letzten Moment das Tempo

Nach Aussagen eines Rangierers soll der Lokführer des Arbeitszuges die näher kommende S-Bahn noch gesehen haben. Nachdem er daraufhin mit einer roten Lampe Warnsignale gegeben habe, soll der Führer des S-Bahn-Zuges eine Vollbremsung versucht haben. Dass dadurch die Geschwindigkeit gedrosselt wurde, rettete vermutlich etlichen Menschen das Leben.

Hamburger S-Bahn-Unglück1961 – sechs Jahre später kracht es in der Nähe erneut

Nur wenige Hundert Meter entfernt vom Ort des Schreckens kommt es im Juni 1967 erneut zu einem schweren Zugunglück. Diesmal fährt eine S-Bahn einem D-Zug in die Flanke, der daraufhin entgleist. Aus den umgekippten Waggons werden 130 Menschen gerettet, 34 von ihnen sind verletzt. Tote gibt es nicht zu beklagen.

Dramatischer verläuft der Zusammenstoß eines Güterzugs mit einem Nahverkehrszug in Hausbruch im Juli 1975. Damals kommen elf Menschen ums Leben, 70 werden verletzt.

Ebenfalls im Jahr 1961 ereignet sich das erste große Unglück auf dem Flughafen Fuhlsbüttel, das allerdings glimpflich ablief: Eine Boeing 707 der Air France gerät beim Start infolge eines gebrochenen Bugrads ins Schleudern und stürzt in eine Baugrube. Neun Menschen werden verletzt, Tote sind diesmal nicht zu beklagen.