Unter dem Sakralraum von Hamburgs berühmtester Kirche, in der Gruft mit identischem Grundriss, liegt ein historischer Friedhof. Seine spannende Geschichte.

Die wenigsten Besucher des Michel wissen, dass sich direkt unter dem Kirchenraum ein Raum mit exakt identischem Grundriss verbirgt. So weit, hell und freundlich, wie die Kirche oben die Menschen empfängt, so gedrungen und niedrig ist die Unterkirche, bei der es sich um einen großen historischen Friedhof handelt. Für die Menschen des 18. Jahrhunderts, jener Zeit, in der der Michel in heutiger Gestalt erbaut wurde, war die räumliche Nähe der Lebenden zu ihren Verstorbenen noch selbstverständlich. Vom Mittelalter bis zur Reformation und oft darüber hinaus waren Kirchen Begräbnisstätten. Wer die Gottesdienste besuchte, konnte sich auch seinen verstorbenen Angehörigen nahefühlen.

Sterben und Tod werden heute weitgehend tabuisiert. Im 18. Jahrhundert ging man unverkrampft damit um. Eine Beisetzung „in aller Stille“ war im Hamburger Bürgertum undenkbar. Der Aufwand, mit dem ein Kaufmann, Senator oder ein Reeder zu Grabe getragen wurde, sollte auch dessen Bedeutung zu Lebzeiten widerspiegeln. Kein Wunder, dass die Leichenzüge der Hamburger Oberschicht pompös gestaltet wurden. Umso schlichter waren die Grabstätten im Gruftkeller des Michel, wo es beinahe so etwas wie eine klassenlose Gesellschaft gab. Die Sandsteinplatten waren weitgehend gleich gestaltet, Unterschiede ergaben sich fast nur aus der Lage der Grabstätten, mit deren Verkauf die Baukosten des Michel eigentlich finanziert werden sollten.

Archäologen fanden 149 Särge mit Inschriftenblechen und Verzierungen

„Wenn du die Todten wirst an jenem Tag erwecken/ so thu auch deine Hand ausstrecken/ und lasz hören deine Stimm und meinen Leib weck auf/ und führ ihn schön verklärt zum auserwählten Hauff“, heißt die Inschrift auf einer der vielen Grabplatten. Der schlichte Text zeugt von Gottvertrauen und der Gewissheit auf ein Leben im Himmelreich, lässt aber auf anrührende Weise die Bitte anklingen, bei der Auferstehung am Jüngsten Tag nicht aus Versehen vergessen zu werden.

Es waren die französischen Besatzungsbehörden, die 1813 die Beerdigungen innerhalb der Stadt – und damit eben auch im Michel – per Dekret verboten. Das Gruftgewölbe, das seine eigentliche Bestimmung verloren hatte, geriet immer mehr in Vergessenheit.

Während des Zweiten Weltkriegs wurde der Raum als Luftschutzkeller genutzt, viele Menschen fanden in den Bombennächten hier eine sichere Zuflucht. Später kümmerte sich kaum jemand mehr um das Gruftgewölbe. Nicht nur in der Öffentlichkeit, auch bei den Pastoren und Kirchenmitarbeitern war weitgehend in Vergessenheit geraten, dass sich in der Krypta der bekanntesten Hamburger Kirche ein einzigartiger Friedhof befindet. Das änderte sich erst, als 1986 der Verein Michaelitica hier eine Dauerausstellung mit Urkunden, Büchern, historischen Abbildungen, Dokumenten und Objekten zur wechselvollen Geschichte des Gotteshauses eröffnete.

Anfang des neuen Jahrtausends konzipierten die Architekten Paul Gerhard Scharf und Joachim Reinig eine komplette Neugestaltung der Krypta, die nun auch für Gottesdienste, Konzerte und Veranstaltungen genutzt werden konnte. Die Archäologen Andreas Stöbl und Dana Vick begleiteten die Sanierungs- und Umbaumaßnahmen.

Dabei fanden sie 149 Särge in unterschiedlichen Erhaltungszuständen. Ihre Form war weitgehend einheitlich, doch bei der Ausstattung trieb man teilweise erheblichen Aufwand. Die Archäologen fanden gut erhaltene Verzierungen sowie Griffe, Inschriftenbleche und Beschläge mit ornamentalen und symbolischen Formen.

Auch viele Todes-Motive

Viele Sargbeschläge zeigen neben gebräuchlichen christlichen Symbolen antikisierende Motive, die häufig mit dem Tod in Verbindung gebracht werden: trauernde Genien (Schutzgeister), den griechischen Gott Chronos oder einen Uroboros, eine sich in den Schwanz beißende Schlange, die die Ewigkeit versinnbildlicht. All diese Symbole sind zwar seit dem 18. Jahrhundert in der Grabmalplastik üblich, als Schmuck von Särgen jedoch eine Besonderheit.

In den vergangenen Jahren besuchten Hunderttausende die Michaelitica-Sammlung. Außerdem wurde das Grab von Carl Philipp Emanuel Bach zum Anziehungspunkt für Musikfreunde und Touristen, die sich für Kultur und Geschichte interessieren. Mit den erst vor wenigen Jahren entdeckten kostbaren Beschlägen gewinnt die Sammlung zusätzlich an Bedeutung. Es sind wichtige Zeugnisse der Hamburger Kulturgeschichte, die uns vor Augen führen, wie sich die Menschen des 18. und frühen 19. Jahrhunderts mit dem Tod und der Hoffnung auf dessen Überwindung auseinandergesetzt haben.

„Geheimnisse im Michel“, heißt ein kleiner Band von Matthias Gretzschel (Text) und Michael Zapf (Fotos), an der Turmkasse für 11,90 Euro erhältlich

Mehr über Hamburgs Kirchen: „Hamburgs Kirchen – Geschichte, Architektur und Angebote“, Kirchenführer des Abendblatts mit den schönsten und interessantesten Gotteshäusern Hamburgs, 14,95 Euro, im Handel, unter www.abendblatt.de/shop oder 040/347-26566