Die drei Jahre alte Yagmur kommt nach einem Leberriss ums Leben. Mordkommission ermittelt gegen die Eltern. Frühere Nachbarin empört über Behördenentscheidung.

Hamburg. Die Vorhänge im dritten Stockwerk sind vergilbt und zugezogen, die Fenster verstaubt. In dem schmucklosen Wohnhaus des städtischen Wohnungsbauunternehmens Saga GWG an der Großen Holl ist am Mittwoch die drei Jahre alte Yagmur, genannt Yaya, gestorben – möglicherweise durch die Hand der eigenen Eltern.

Am Nachmittag, als die Spurensicherer und Ermittler den Tatort längst verlassen haben, herrscht gespenstische Stille in dem Viertel. Vor der Haustür haben Trauernde Blumen und ein Kuscheltier hingelegt. Nur wenige Passanten laufen an dem Wohnhaus vorbei.

Wenn man jemanden fragt, ob die Familie Y. bekannt sei in der Gegend, erhält man als Antwort meist ein Achselzucken. Oder den Kommentar: „Hier kennt niemand niemanden.“ Selbst die Bewohner, die mit der deutsch-türkischen Familie in dem rot geklinkerten Haus gelebt haben, wussten offenbar nicht allzu viel über Melek Y., die 26 Jahre alte Mutter, und Hüseyin Y., den ein Jahr jüngeren Vater. Man habe sich „Hallo“ gesagt, und die Eltern hätten stets freundlich gegrüßt, wenn man sich im Hausflur begegnet sei, erzählt eine Hausbewohnerin. Die Tochter habe ihr stets fröhlich zurückgewinkt. „Ich habe nie Schreie gehört, und die Kleine wirkte nicht eingeschüchtert.“ Manchmal sei auch noch ein Junge dabei gewesen, Meleks siebenjähriger Sohn aus einer früheren Beziehung. Er lebt bei den Eltern der 26-Jährigen.

Yagmur ist nach Abendblatt-Informationen erst im Sommer zu ihren leiblichen Eltern nach Billstedt gekommen. Das Mädchen wurde seit seiner Geburt von Jugendämtern in mehreren Bezirken begleitet – auf Wunsch der Eltern. Wie es hieß, hätte sie sich überfordert gefühlt. Zum einen seien sie bei der Geburt der Tochter noch jung gewesen. Zum anderen hatte das Paar keine gemeinsame Wohnung. Deshalb hätten sie die Tochter in eine Pflegefamilie gegeben – aber das Sorgerecht behalten.

Allerdings habe es einen regelmäßigen Kontakt zwischen Tochter und leiblichen Eltern gegeben. Seit dem Jahr 2012 habe laut Andy Grote (SPD), dem Leiter des Bezirksamts Mitte, das „damals zuständige Jugendamt die Perspektive einer Rückkehr in den elterlichen Haushalt verfolgt“. Nach allem, was bislang bekannt ist, handelt es sich dabei um das Jugendamt Eimsbüttel.

Anfang 2013, als das Mädchen noch in der Pflegefamilie war und gleichzeitig Kontakt zu seinen leiblichen Eltern hatte, kam es mit schweren Verletzungen in ein Krankenhaus. Die Ärzte stellten äußere Gewalt fest, unter anderem eine Schädelverletzung. „Eine Ursache oder eine Verantwortung für diese Verletzungen konnte nicht geklärt werden“, sagte Grote. Allerdings ermittelt seitdem die Polizei. Anschließend sei das Mädchen in staatliche Obhut gekommen. Das Jugendamt beendete die Pflegschaft der Pflegefamilie.

Möglicherweise hat es danach weitere Übergriffe gegeben. Darauf deuten mehrere Hämatome am Körper des Mädchens hin. Entdeckt hat die Blutergüsse der Notarzt, der am Mittwoch erfolglos versuchte, das Mädchen wiederzubeleben, nachdem seine Mutter gegen kurz nach 5 Uhr morgens die Feuerwehr alarmiert hatte. Ihr Kind sei auf dem Weg vom Kinder- ins Wohnzimmer gestürzt, sagte Melek Y. dem Notarzt, und dass sie Erste Hilfe geleistet habe. Doch weil die Sanitäter längst einen anderen, schrecklichen Verdacht hegen, wird der kleine Leichnam umgehend in die Rechtsmedizin gebracht.

Am Nachmittag erhärtet sich der grausige Verdacht: „Das Mädchen ist infolge einer Ruptur (eines Risses, d. Red.) der Leber nach innen verblutet. Zudem weist der Körper des Kindes Verletzungen auf, die durch körperliche Gewalteinwirkung entstanden sein könnten“, sagt Polizeisprecher Andreas Schöpflin. Noch während der kleine Körper obduziert wird, werden Hüseyin und Melek Y. im Polizeikommissariat 42 an der Möllner Straße vernommen.

Melek Y. bleibt bei ihrer Schilderung, wonach Yagmur unglücklich gestürzt sei. Der Vater macht keine Angaben. Er war zum Tatzeitpunkt offenbar nicht in der Wohnung. „Aber wir halten es für durchaus möglich, sogar wahrscheinlich, dass das Kind zuvor massiv misshandelt worden ist und an den Folgen dieser Gewalteinwirkung verstorben ist“, sagt ein Polizeibeamter. Der Verdacht gegen die Eltern wiegt so schwer, dass die Staatsanwaltschaft am Abend einen Haftbefehl prüft.

Wie das Abendblatt erfuhr, lebte die leibliche Mutter von September 2011 bis November 2012 in einer öffentlichen Unterbringung des städtischen Dienstleistungsunternehmens fördern & wohnen an der Holsteiner Chaussee (Eimsbüttel), wo Obdachlose, Flüchtlinge und Asylbewerber wohnen.

Die Nachbarn von Yagmurs ehemaliger Pflegefamilie, die in einem Rotklinker-Altbau in Rotherbaum leben, bewegt vor allem eine Frage: Warum wurde Yaya, wie das Mädchen von der Pflegefamilie genannt wurde, den leiblichen Eltern wieder anvertraut? Viele Bewohner des Mehrfamilienhauses, aus dessen Wohnungen fröhliche Kinderstimmen ins Treppenhaus dringen, haben darauf keine Antwort. „Warum nur musste Yaya sterben? Warum musste sie zurück zu ihren leiblichen Eltern?“, sagte eine Nachbarin. Ebenso wie die anderen Bewohner des Mehrfamilienhauses hat sie die Nachricht vom Tod des dreijährigen Mädchens erschüttert.

„Ich kann es nicht fassen, dass Yaya wirklich tot ist“, sagt die Nachbarin, die mit der Pflegemutter befreundet ist. „Yaya war für sie wie ein eigenes Kind. Es hätte keine bessere Mutter geben können“, sagt die Frau, die selbst zwei Kinder hat. Das Mädchen mit den schwarzen Löckchen habe alles gehabt, was man sich für ein Kind wünschen kann. Liebe, Zuwendung, ein schönes Zuhause und Spielzeug. „Und sie hat eine private Kita besucht.“ Wenn die Nachbarin von Yagmur spricht, huscht ein Lächeln über ihre Lippen. „Sie war ein superliebes Mädchen, ein Strahlekind.“ Die Entscheidung der Behörden sei schuld, dass es sterben musste.

Dass Yaya sterben musste, macht auch andere Nachbarn fassungslos. Ein Mann, Mitte 30, sagt: „Wenn ich die Familie im Treppenhaus getroffen habe, hat mich das Mädchen immer angelacht. Dem Kind ging es sehr gut hier – ich verstehe nicht, warum es nicht hierbleiben durfte.“ Ende 2012 habe ihm die Pflegemutter erzählt, dass sie Yaya abgeben müssten. „Sie wirkte ziemlich traurig“, erinnert sich der Nachbar.