Die Sallers, die im Marco-Polo-Tower wohnen, haben mit dem gebürtigen Husumer Huhn Lotte das wohl ungewöhnlichste Haustier der HafenCity.

Hamburg. Ihre Lieblingsfernsehserie ist "Neues aus Büttenwarder". Wenn die Sendung läuft, ist Lotte ganz aufgeregt und platziert sich vor dem Fernsehgerät. Vielleicht liegt es daran, dass in der Serie, die auf dem Land spielt, eigentlich in jeder Folge Hühner auftauchen. Ihre Artgenossen bekommt Lotte ja sonst nicht mehr zu sehen. Schließlich lebt sie als Stadthuhn in einer der exklusivsten Adressen der Stadt: im Marco-Polo-Tower in der HafenCity.

Bevor Lotte anfing, sich für die Serie zu interessieren, kannte ihre Halterin Susi Saller diese gar nicht. Mittlerweile setzt sie sich regelmäßig neben Lotte auf das helle Ledersofa, und sie gucken gemeinsam fern. Während Menschen dabei vielleicht gern Kartoffelchips knabbern, ist es das größte Glück für ein Huhn wie Lotte, Bienenmaden oder Mehlwürmer zu picken. Neben Sechs-Korn-Biomischung und Bio-Hirse, Apfel-, Gurken- und Paprikaschnitzen sind das ihre absoluten Lieblingsspeisen. Kuchen und Torten liebt sie auch, bekommt sie aber nicht. Weil das ungesund ist und weil Lotte Sahnetorten quer durch die Wohnung schleudern würde. Und das würde sich auf dem hellen Parkettboden von Familie Saller gar nicht gut machen.

Es ist schwer zu sagen, was Lotte lieber mag: fernsehen oder telefonieren. Ist der Ehemann von Frau Saller am Telefon, hört Lotte ganz genau zu. "Wenn sie seine Stimmt hört, wird sie ganz ruhig und entspannt", sagt die 37-Jährige. Sie sei eben ein ganz besonderes Huhn. Lotte hört auf ihren Namen, läuft den Menschen, die sie mag, hinterher. Wenn Susi Sallers Mann abends nach Hause kommt, läuft Lotte schnell zur Haustür und begrüßt ihn, ähnlich wie ein Hund. Und sie ist, wie viele andere Haustiere, auch empathisch. Sie spürt, wenn es ihrer Halterin nicht gut geht. "Dann lässt sie mich in Ruhe. Ansonsten spielt sie sich gern mal auf wie eine Diva", sagt Susi Saller. Und auf Wellensittich Louis ist die Hühnerdame natürlich eifersüchtig. In jeder Hühnerschar, sagt Frau Saller, gebe es wohl immer ein Huhn, das anders ist und aus der Reihe tanzt.

In ihrem Leben dreht sich seit vier Jahren alles ums Huhn. Denn Lotte kann nicht länger als eine Stunde allein sein. "Sie ist stubenrein und würde niemals in die Wohnung machen", sagt Frau Saller, die früher als Industriekauffrau gearbeitet hat. An eine Berufstätigkeit ist mit Lotte aber nicht zu denken: Alle 15 bis 30 Minuten meldet sich das braune Haushuhn und macht mit Gackern und Hacken darauf aufmerksam, dass sie mal muss. Dann wird sie auf den Balkon hier oben im fünften Stock des Marco-Polo-Towers gelassen, um ihr Geschäft zu erledigen. Ihre Hinterlassenschaften werden dann sofort mit einem Papiertuch wieder weggewischt. Und weil Lotte aber auch die Möglichkeit braucht, ein bisschen im Sand scharren zu können und im Gras zu zupfen, gehen die Sallers mit ihrem ungewöhnlichen Haustier raus in die HafenCity. In einer Tragetasche, die eigentlich für kleine Hunde oder Katzen gedacht ist, wird Lotte zum Picken im Gras an die Marco-Polo-Terrassen getragen oder neben das SAP-Gebäude. Dort gibt es noch eine unbebaute Fläche - ideal für ein Huhn zum Scharren und um ein Bad im Sand zu nehmen. Das dient ihrem Reinigungsbedürfnis.

Sie schämt sich manchmal ein bisschen für ihre Liebe zu einem Huhn, sagt Susi Saller. Eigentlich sei sie zurückhaltend, aber ihre Schüchternheit muss sie mit Huhn im Schlepptau überwinden: Lotte zieht schnell alle Blicke auf sich. Wenn das Huhn mal muss, steht Frau Saller daneben und wartet. "Ich komme mir dann doof vor", sagt sie. Dabei reagierten die Menschen ausgesprochen freundlich auf ihr Huhn. Man komme sofort ins Gespräch. Und: Die Sallers sind nicht die Einzigen mit dieser, sagen wir mal liebevoll, kleinen Macke. Es gibt mehr Hühnerhalter wie sie als gedacht.

Lotte sei aber wohl das meistgereiste Huhn Europas, vermuten ihre Halter. Bestimmt 15-mal sind die drei gemeinsam mit dem Auto nach Bayern gereist, an die Nord- und Ostsee. Sogar im italienischen Bibione waren sie schon auf einen Cappuccino mit Lotte. Es gibt auch Fotos von Lotte auf der Winklmoosalm - die Bilder dienen als Schreibtischhintergrund auf dem Rechner.

Sind die Sallers auf Reisen, führt ihr Mann Huhn Lotte stets an den Autobahnraststätten herum. Frau Saller sei das zu peinlich. Früher habe sie solche Leute für verrückt erklärt, die mit ihrem Hund so herumtüdeln. Inzwischen sagt sie: "Lotte ist mein Baby." Einmal die Woche wäscht sie ihr Huhn mit Babyshampoo, cremt das Hinterteil ein. Nachts steigt das Huhn zum Schlafen in einen offenen Umzugskarton mit Stroh und Heu und setzt sich auf eine Stange, die die Sallers jeden Abend anmontieren. Der Karton steht direkt neben dem Bett. Da sind die Sallers nicht anders als viele Hundehalter, die ihre Tiere auch ins Schlafzimmer lassen. Morgens zwischen 6 und 6.30 Uhr ist Lotte wach und erwartet sofort einen Toilettengang und Frühstück. Mit den Hühnern aufzustehen, das heißt im Sommer, dass die Nacht um 5 Uhr vorbei ist.

Genau wie bei einem Baby möchte Susi Saller mitbekommen, wenn etwas mit ihrem Huhn nicht stimmt. Denn dass Lotte überhaupt noch lebt, grenzt schon an ein Wunder. Eigentlich müsste sie laut Tierärzten längst tot sein. Sie hat chronische Bronchitis, Probleme mit dem Herzen, Wassereinlagerungen und Leukose, eine Form von Blutkrebs.

2008, als die Sallers noch in einem Haus mit Garten in Husum lebten, war ihnen Lotte eines Morgens von einem benachbarten Hühnerhof zugelaufen. Drei Wochen lang stand das Huhn jeden Tag bei ihnen auf der Terrasse, spazierte sogar ins Haus. Lotte hätte jederzeit zu ihrem Hof zurückkehren können. Doch es scheint, als habe sie sich die Sallers ausgesucht. Der damalige Halter wollte das Huhn schlachten und hatte schließlich Mitleid. Nicht mit seinem Huhn, aber mit der geschockten Susi Saller - er schenkte ihr das Tier. Sie nannte es Lotte, weil jedes zweite Huhn in ihrer bayerischen Heimat so heißt. Frau Saller ist tierlieb und jemand, der alle möglichen Tiere rettet - Tauben mit gebrochenen Flügeln zum Beispiel, Igel, auch ein Graureiher war schon dabei. Doch nur Lotte ist geblieben. Dabei hatten die Sallers versucht, sie loszuwerden und sie an eine andere Hühnerhalterin in Karlsruhe gegeben. Doch die hatte einen Hahn, den Julius, der sich sofort in Lotte verguckt hatte und sie nicht mehr in Frieden ließ. Als Susi Saller auf einem Foto sah, wie übel der Hahn ihre Lotte zugerichtet hatte, wie zerfleddert ihr Federkleid war, holte sie das Huhn wieder zurück. Weil die neue Halterin Lotte aber behalten wollte, gab es einige Streitereien. Dann musste Lotte auch noch operiert, ihr Legedarm entfernt werden - so ein Legehuhn besteht fast nur aus Legedarm. Doch Lotte überlebte die OP und die rund 1400 Euro teure Behandlung, sie kann bloß seitdem keine Eier mehr legen.

"Damals sagten die Ärzte, dass Lotte jeden Tag sterben könnte." Berufsbedingt sind die Sallers dann nach Hamburg gezogen, haben sich nur deshalb eine Wohnung im nicht gerade für Hühnerhaltung geplanten Marco-Polo-Tower gekauft, weil sie dachten, ihr Huhn lebe ohnehin nicht mehr lange. Inzwischen ist es sieben oder acht Jahre alt, älter als neun werden Hühner nicht. Wird es dann ein neues Huhn geben? Nein, sagen die Sallers. Dann wollen sie die Freiheit genießen.