Hamburg. Der Laptop für das Zoom-Gespräch wackelt hin und wieder auf den Knien, Sofakante, weiße Wand – und Piotr Anderszewski, gerade in seiner Wahlheimat Paris, wirkt sehr entspannt im Hier und Jetzt. Auf die Idee, einem der hörenswertesten Pianisten der Gegenwart virtuell gegenüberzusitzen, käme man jedenfalls so schnell nicht.
Seit Jahren dreht der 52-Jährige konsequent abseits der Virtuosen-Rennstrecken seine Einzelgänger-Runden. Sein Bühnen-Repertoire hat von vielem einiges zu bieten, massenkompatibel ist er damit aber eher nicht. Will er auch gar nicht.
Anderszewski: „Wenn Chopin-Mazurken, dann möglichst alle im Stück“
Mit seiner letzten Das-kann-man-doch-auch-mal-anders-machen-Idee ist Anderszewski am 16. April in einem Livestream aus dem Großen Saal der Elbphilharmonie zu hören: Bachs „Wohltemperiertes Klavier“, Band Zwei – doch nicht so, wie es geschrieben steht und normalerweise unantastbar ist, sondern nach seinem Gefühl und Geschmack umsortiert.
Als Anderszewski vor knapp zwei Jahrzehnten begann, das WK II zu spielen, hatte alles noch seine Ordnung gehabt. „Aber es fühlte sich nie so an, als ob das emotional so funktioniert“, berichtet er, „die Stücke sind auch nicht dafür gemacht, öffentlich in chronologischer Reihenfolge gespielt zu werden. Normalerweise bin ich sehr puritanisch: Wenn Chopin-Mazurken, dann möglichst alle im Stück.“
Bloß nicht übertreiben mit den Eigenwilligkeiten
Er ließ das Bach-Umbau-Projekt also wieder einschlafen, doch vor drei Jahren begann das Experiment wieder sein Recht zu fordern. „Ich lasse sie ja, wie sie sind – aber warum nicht so spielen, dass sie in Beziehungen zueinander stehen? Das ist eine Freiheit, die ich mir erlaube.“ Mit seinem absoluten Gehör, das womöglich mit bestimmten Tonartwechseln nicht klarkäme, hat das nichts zu tun, betont er.
„Und meine Intuition sagt mir, dass Bach damit ganz und gar nicht unfroh wäre.“ Nächste Haltestelle: Auch den ersten „Wohltemperiertes Klavier“-Band neu durchmischen? „Nun ja…“, kommt aus dem Monitor zurück, „der ist sehr anders und als Ganzes zusammenhängender.“ Ein Subtext: Bloß nicht übertreiben mit den Eigenwilligkeiten. „Diese Musik ist ja auch extrem schwierig zu spielen. Ich wollte etwas freundlicher zu mir sein. Alles sehr subjektiv.“
Erlebt man Anderszewski live, bleiben viele Fragen
So ist das nämlich: Wenn man Anderszewski live erlebt, bleiben immer angenehm viele subjektive Fragen offen im Raum. Er spielt, so gut es geht, aber das ist kein Armdrücken mit dem Repertoire, vielmehr ein Dialog, ein gründliches Abwägen von Argumenten vor Publikum. Deswegen ist es für ihn bei Konzerten mit Orchester auch am schlimmsten, wenn der jeweilige Dirigent so gar keine eigene Meinung hat, so gar kein Konzept mit Nährwert.
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Es gibt für Anderszewski keine Schublade, wie es sie für eine Martha Argerich gibt, einen Sokolov, einen Pogorelich oder Trifonov. „Ein großes Kompliment!“, findet er. „Es stimmt, ich gehöre in keine Kategorie. Ich bin halb Pole, halb Ungar, in Frankreich aufgewachsen, nach Amerika gegangen, die Karriere begann in England… Ich versuche nur mir und meiner Auswahl treu zu bleiben. Und das sind normalerweise spontane Entscheidungen.“
Auf manche Komponisten reagiert Anderszewski allergisch
Der starke Drang, ein Stück zu spielen, kann dann alles treffen, Schumann, Bach, Szymanowski, „ganz egal“. Alle 32 Beethoven-Sonaten, den kompletten Brahms im Paket, weil man das nun mal so macht? Nicht seine Tasse Tee. „Es muss bei einem Stück die Chance geben, dass für mich etwas Neues in der Konfrontation passiert.“
Entweder Liebe auf den ersten Blick – oder eben Hass. Auf manche Komponisten reagiert er allergisch; zu Liszt findet er keinen Zugang „und ich hatte so meine Probleme mit Brahms.“ Erst vergangenes Jahr gab sich das, es bewegte sich etwas im Inneren, „vielleicht finde ich ja doch noch den Schlüssel für diese Tür.“
In jungen Jahren war er Umblätterer für Svjatoslav Richter
Die vergangenen Monate, das Eingesperrtsein mit sich, den vielen Noten und dem Flügel? Für Anderszewski war das offenbar kein fundamental verwirrendes Problem. „Wo gehöre ich hin, was mache ich hier – so habe ich mich schon die letzten 25 Jahre gefühlt“, sagt er, „ich fühlte mich ziemlich… friedlich. Ja, wir haben diese Aufnahme gemacht, viele Konzerte waren geplant, Berlin, London, Paris, New York – natürlich ist es eine Schande, dass all das nicht möglich ist. Aber: So ist das jetzt. Es ist, was es ist. Hamburg passiert, was mich sehr freut, weil ich den Saal liebe. Andere Menschen haben ganz andere Tragödien auszuhalten.“
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In einem Porträt-Nebensatz über ihn versteckt: Anderszewski war in jungen Jahren Umblätterer für den großen Svjatoslav Richter, einen Jahrhundert-Pianisten, der jeden Störer im Konzert mit einem Blick in Asche verwandeln konnte.
Zu Anderszewskis Karriereverlauf gehören mehre Konzert-Auszeiten
Die Zeit neben Richter, war allerdings nur kurz, berichtet Anderszewski. Zufall war das, in Warschau wurde jemand gesucht, und er hatte gerade Zeit, drei, vier Konzerte, mehr war es nicht. „Er war unglaublich nett und höflich“, Richter sei damals schon alt und schwach gewesen, „überwältigende Musik. Doch er war nicht mehr dieser gigantische Titan, sondern fast wie ein Kind, sehr naiv und höflich.“
Zu Anderszewskis Karriereverlauf gehören mehre Konzert-Auszeiten, eine unter anderem in einem Kloster in Japan. Dass die letzte Pause nicht freiwillig war, hat seine Grund-Einstellung zu Sabbaticals allerdings nicht verändert. Wäre er ohne diese Pausen ein schlechterer Pianist?
Druck des Spielens vor Publikum von Zeit zu Zeit anhalten
„Wahrscheinlich wäre ich ein besserer“, amüsiert er sich. „Ich muss diesen unglaublichen Druck des Spielens vor Publikum von Zeit zu Zeit anhalten. Andere Dinge erforschen. Normalerweise gibt es diese Abläufe aus Reisen, Proben, Spielen… Wenn man sich darauf einlässt, wird man besser. Alles wird natürlicher. Aber langfristig ist es womöglich doch nicht gut. Vielleicht endet man leer. Es ist unglaublich schwer, nach einer Auszeit wieder anzufangen. Aber für mich lohnt es sich. Diese Pausen lassen mich erkennen, wie unglaublich schwer es ist, gut zu spielen. Also arbeite ich anders. Und meine Interpretationen werden langfristig vielleicht interessanter.“
Livestream: 16. April, 20 Uhr, auf www.elbphilharmonie.de, zu sehen im Anschluss in der Mediathek der Elbphilharmonie, auf deren Facebook- und YouTube-Kanal; Piotr Anderszewski im Internet: www.anderszewski.net
Aufnahme: „Bach: Das Wohltemperierte Klavier II“ (Warner Classics, CD ca. 17 Euro).
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