Hamburg. Unheilbar kranke Eltern können in Hamburg über das „Familienhörbuch“ ihre Geschichte erzählen. So wie Rahel Jahre-Gottweis.

Viel dabei hat Rahel Jahre-Gottweis nicht. Einen Koffer mit Kleidung und allem, was man sonst noch für drei Tage in Hamburg samt Übernachtungen braucht. Dazu einen Zettel mit ein paar Notizen und wenigen Stichworten. Erst wollte sie ein durchgeschriebenes Manuskript mitnehmen, hat es dann aber doch gelassen. Alles, was sie braucht, hat sie in ihrem Kopf.

Und dann hat sie noch ein Foto von ihren Kindern in der Tasche. Schlichter Glasrahmen ohne Fassung. Es zeigt ihre zehnjährige Tochter und ihren achtjährigen Sohn. Sie strahlen in die Kamera. Sie will die beiden ansehen, wenn sie die Geschichte ihres Lebens erzählt, aus der später ein Hörbuch werden soll.

Die 42-Jährige ist auf dem Weg nach Hamburg-Wandsbek. Dort trifft sie eine Audiobiografin, die für das Projekt „Familienhörbuch“ arbeitet, das Menschen wie sie unterstützt: Eltern, die lebensverkürzend erkrankt sind und die möchten, dass ihre Stimme bleibt, wenn sie selber nicht mehr da sind.

Eltern mit unheilbarer Krankheit: Was ich dir noch sagen will – Hörbuch für Kind

Rahel Jahre-Gottweis hat Krebs. Vor drei Jahren bekam die Sportlehrerin aus Gifhorn bei Wolfsburg die Diagnose. Ein bösartiger Blinddarmtumor. Zunächst hoffte sie auf Heilung. Inzwischen hat sie Bauchfellmetastasen und wird palliativ behandelt.

Projekt „Familienhörbuch“: Bei dieser Aufnahme spricht die an Krebs erkrankte Rahel Jahre-Gottweis. Dabei blickt sie auf ein Foto ihrer Kinder.
Projekt „Familienhörbuch“: Bei dieser Aufnahme spricht die an Krebs erkrankte Rahel Jahre-Gottweis. Dabei blickt sie auf ein Foto ihrer Kinder. © Kerstin König | Kerstin König

Konkret heißt es: Heilen können sie die Medikamente und Therapien nicht mehr. Aber sie können den Krankheitsfortschritt verlangsamen und ihre Lebensqualität verbessern. Wie lange sie damit noch leben wird, weiß sie nicht.

Todkranke erzählen ihre Geschichte – „Familienhörbuch“ startete 2017

In dem Hörbuch will Rahel Jahre-Gottweis in die Vergangenheit eintauchen und auch klassische Fragen beantworten, die Kinder ihren Eltern irgendwann stellen: Wie war meine Geburt? Habe ich nachts durchgeschlafen? Habe ich oft geweint? Hast du dir oft Sorgen um mich machen müssen? Und wie warst du eigentlich selbst als Kind? Wie bist du aufgewachsen? Was war der größte Mist, den du je verzapft hast? Hattest du einen geheimen Traum?

Während die 42-jährige Mutter noch auf dem Weg ist, richtet die „Familienhörbuch“-Audiobiografin Kerstin König ihre Wohnung in Hamburg-Wandsbek her. Kocht Tee, platziert die Stühle so, wie sie es brauchen werden, baut das Mikrofon auf, checkt ein letztes Mal die Technik.

Die Idee für das Projekt „Familienhörbuch“ stammt aus Köln, ins Leben gerufen von der Medizinjournalistin Judith Grümmer, die sich irgendwann fragte: „Was würde ich machen, wenn ich eine verheerende Diagnose bekäme und müsste meine Kinder zurücklassen?“ Ihre Antwort was das „Familienhörbuch“, das 2017 als Pilotprojekt startete.

Audiobiografin arbeitet auch für Eimsbütteler Trauerbegleitung

Inzwischen arbeiten über das ganze Land verteilt 34 freiberufliche Audiobiografinnen und Audiobiografen sowie 21 (ab Oktober 32) Sounddesigner und -designerinnen gegen eine kleine Vergütung für das Projekt. Dazu kommen etliche ehrenamtliche Mitarbeiter in Bereichen wie Pressearbeit, Rechtsberatung, Controlling, Krisenintervention und vieles mehr. Die Mütter oder Väter, die ihre Geschichte erzählen, müssen nichts bezahlen.

Kerstin König ist seit zwei Jahren beim „Familienhörbuch“ mit dabei. Der Schritt sei ein absoluter Herzenswunsch gewesen, erzählt die ehemalige „Tagesschau“-Redakteurin. Nach vielen Jahren im Nachrichten-Geschäft krempelte sie ihr Leben komplett um.

Kerstin König begleitet die Aufnahmen vom Projekt „Familienhörbuch“. Sie arbeitet auch für die Eimsbütteler Trauerberatung- und begleitung „Vergiss Mein Nie“.
Kerstin König begleitet die Aufnahmen vom Projekt „Familienhörbuch“. Sie arbeitet auch für die Eimsbütteler Trauerberatung- und begleitung „Vergiss Mein Nie“. © FUNKE Foto Services | Thorsten Ahlf

Sie machte eine Ausbildung zur Systemisch-Integrativen Sozialtherapeutin sowie zur Trauer- und Hospizbegleiterin und begann, für die Eimsbütteler Trauerberatung- und begleitung „Vergiss Mein Nie“ zu arbeiten. Durch Zufall stieß sie irgendwann durch einen Facebook-Beitrag auf das Projekt „Familienhörbuch“.

Hamburgerin macht Aufnahmen für das „Familienhörbuch“ zu Hause

Noch während sie den Beitrag las, dachte sie: „Da geht es um genau das, was ich gelernt habe – und ich liebe es, wenn mir Menschen ihr Leben erzählen.“ Noch am selben Abend schrieb sie eine E-Mail nach Köln. Und als das Projekt größer wurde, kam Kerstin König als Audiobiografin ins Team.

Seit rund zwei Jahren ist sie nun dabei und übernimmt die Aufnahmen für das Familienhörbuch. Die finden meist bei ihr zu Hause statt. Damit sich ihre Gäste bei ihr wohlfühlen, hat König ihre Wohnung zu einem gemütlichen, warmen Ort gemacht. Warme Rottöne und viele flauschige Decken und Kissen.

Todkranke Eltern: Manche kommen mit Manuskripten, andere mit Stichworten

Eine Wendeltreppe führt nach oben auf eine zweite Ebene, die fast komplett mit Matratzen und wieder vielen Kissen und Decken ausgelegt ist. „Wenn zwischendurch die Kräfte nachlassen, können sich die Erzählerinnen und Erzähler hier ausruhen.“

Wenn König davon erzählt, ist spürbar, dass es eine Herzensangelegenheit ist. Elf Hörbücher hat sie inzwischen als Audiobiografin begleitet. Und sie sagt: „Es ist jedes Mal anders. Manche kommen mit fast fertigen Manuskripten, andere haben nur ein paar Stichworte dabei.“ Bevor es losgeht, macht es sich König mit dem jeweiligen Erzähler auf dem Sofa im Wohnzimmer gemütlich.

„Bei einer Kanne Tee schauen wir, was erzählt werden will und gehen dann die Struktur durch. Wir sammeln, welche Kapitel es geben könnte und überlegen, was grob wohin passt. Das ist wichtig, damit alles nachvollziehbar bleibt und damit die Kinder später wissen, was sie in einem Kapitel erwartet.“ König betont aber auch: „Wenn beim Erzählen plötzlich noch ein anderes Thema hochkommt, dann nehmen wir das auch mit. Ich melde mich nur zu Wort, wenn ich glaube, dass der eigentliche Erzählstrang zu sehr verlassen oder es zu unübersichtlich wird – oder auch, wenn zum Beispiel eine Erzählung nicht kindgerecht ist.“

Audiobiografin aus Hamburg: „Wichtig ist, dass ich mitfühle, aber nicht mitleide“

Die Geschichten, die ihr die Mütter und Väter beim „Familienhörbuch“ erzählen, die gehen unter die Haut, manche bleiben lange im Kopf. Denn immer geht es auch um den Tod, um die Auseinandersetzung mit dem eigenen Leben und damit, was davon bleiben soll.

Auf die Frage, ob sie das alles nicht belaste, antwortet König: „Ich bin ein emphatischer Mensch, und natürlich berührt mich das. Wichtig ist, dass ich mitfühle, aber nicht mitleide.“ Dabei würde es ihr helfen, dass die Menschen, die sich dazu entschlossen haben, das Familienhörbuch aufzunehmen, ihr Schicksal auf eine Art akzeptiert haben. „Sonst macht man das wohl eher nicht.“

An Krebs erkrankte Mutter: „Ich wollte kein Todeshörbuch“

Das ist auch bei Rahel Jahre-Gottweis so. Sie spricht mit fester Stimme von ihrer Erkrankung. Mit dem Schritt, das Hörbuch aufzunehmen, habe sie trotzdem lange gehadert. Bereits kurz nach der Erstdiagnose vor rund drei Jahren hatte ihr ein Bekannter von dem Projekt erzählt.

Damals aber sei sie noch nicht bereit gewesen. „Ich dachte, wenn man das aufnimmt, dann stirbt man danach. Und ich wollte kein Todeshörbuch“, sagt sie.

Als dann immer klarer wurde, dass es keine Heilung mehr für sie geben wird, war die Idee mit dem Hörbuch doch wieder da. Und dann griff Jahre-Gottweis irgendwann zum Telefon, rief beim „Familienhörbuch“ in Köln an und berichtete von ihrer Situation und von ihren Ängsten. „Innerhalb kürzester Zeit konnten mir diese genommen werden“, so die zweifache Mutter.

„Familienhörbuch“ in Hamburg – bei der Aufnahme wird auch viel gelacht

„Es hieß, dass ich das Hörbuch durchaus auch aufnehmen kann, wenn es mir gerade gut geht und ich vielleicht doch noch ein paar Jahre geschenkt bekomme“, erinnert sie sich. Man habe ihr gesagt: „Das Ganze darf etwas sein, das Freude bereitet – das hat mich dann überzeugt.“ Auch Kerstin König bestätigt: „Anders als man denken könnte, überwiegen bei der Aufnahme nicht die traurigen Momente.“ Im Gegenteil: „Es wird auch viel gelacht.“

Ohnehin sei es wichtig, dass die einzelnen Kapitel – auch, wenn es darin um die Krankheit oder andere schwierige Themen geht – auf eine Art versöhnlich ausgehen, sodass nach dem Hören ein gutes Gefühl bleibt. Aber was heißt das konkret? Was ist, wenn beim Erzählen doch die Tränen kommen oder die Stimme wegbricht?

„Wir wollen eine möglichst authentische Aufnahme haben, in der Mama oder Papa so klingen, wie sie sind“, erklärt König. „Und manche Themen sind traurig und schwer. Da dürfen Tränen auch sein und bleiben. Und oft geht es in der Erzählung danach von selbst wieder bergauf.“ Wenn es jedoch zu schwer werden sollte, würde König die Aufnahme pausieren.

Erkrankte Eltern nehmen Hörbuch auf: Schwere Themen kommen in den „Tresor“

Auch bei der Aufnahme von Rahel Jahre-Gottweis gab es emotionale Momente. Denn neben den vielen lustigen Anekdoten, die sie für die Aufnahme wieder herausgekramt hat, gab es auch schwierige Themen. „Ich habe mich dazu entschlossen, von einigen Schicksalsschlägen zu erzählen. Auch wenn ich weiß, dass meine Kinder dafür jetzt noch zu klein sind.“

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So hat Jahre-Gottweis auf der Aufnahme auch von ihrem dritten Kind erzählt – dem großen Bruder, der früh verstarb. „Grundsätzlich wissen meine Kinder, was passiert ist, aber zum jetzigen Zeitpunkt natürlich noch sehr kindgerecht. Wenn sie älter sind, sollen sie von mir mehr dazu erfahren.“

Für besonders schwere Themen bietet das „Familienhörbuch“ eine Option an, die Jahre-Gottweis unter anderem für dieses Thema genutzt hat: den „Tresor“. „Die Idee ist, dass wir Themen so auslagern können, dass sie im Inhaltsverzeichnis zunächst nicht zu sehen sind“, erklärt Kerstin König. „Der Erzähler oder die Erzählerin kann selber terminieren, zu welchem Zeitpunkt der Tresor geöffnet werden kann. Meist wird ein naher Angehöriger eingebunden und kann ihn dann übergeben.“

Erkrankte Mutter suchte für jedes Hörbuch-Kapitel ein Lied aus

Inzwischen ist Rahel Jahre-Gottweis wieder aus Hamburg abgereist. Auch Kerstin König hat das Aufnahme-Setting wieder abgebaut. Die Stühle stehen wieder am Esstisch. Das Mikrofon ist verstaut.

Wenn die Aufnahme vorbei ist und sie die Datei an den Sounddesigner verschickt hat, dann hört sie in der Regel nichts mehr von den Erzählern. „Tatsächlich ist das eher eine Einbahnstraße“, so König. „Die Erzähler gehen, und für mich ist das Projekt nach der Übergabe des fertigen Hörbuchs meistens vorbei. Und vielleicht ist das auch gut so.“

Auch für Rahel Jahre-Gottweis ist die Arbeit für das Familienhörbuch nun erledigt. Nach der Aufnahme hat sie erst mal eine Woche Urlaub an der Nordsee gemacht – eine Chemotherapie-Pause machte es möglich. „Die Zeit dort habe ich auch genutzt, um für jedes Kapitel ein Lied auszusuchen, das am Anfang gespielt wird.“ Wie es ihr selbst nun gehe, jetzt, wo die Aufnahme im Kasten ist? „Ich bin erleichtert“, sagt sie. „Es war schön, aber es war auch anstrengend. Da kommt in kurzer Zeit viel wieder hoch.“ Jetzt aber sei sie voller Vorfreude. Denn: „Aktuell geht es mir ganz gut. Ich habe den festen Plan, zumindest einen Teil des Hörbuchs noch mit meinen Kindern zusammen zu hören.“

Projekt „Familienhörbuch“ – hier können Sie spenden:

Derzeit hat das „Familienhörbuch“ mehr Zulauf als Spendenbereitschaft. Auch um Wartezeiten für die Bewerber zu vermeiden, ist das Projekt auf Zuwendungen angewiesen. Über diese Verbindung können Sie die gemeinnützige GmbH unterstützen:

Familienhörbuch gGmbH
Volksbank Köln Bonn eG
IBAN: DE 52 3806 0186 4906 5620 10
BIC: GENODED1BRS