Eigentlich war das Ende der Kneipe Dieze im Grindelviertel schon besiegelt. Doch jetzt kaufen die treuen Kunden Verzehrgutscheine.

Rotherbaum. Selten stand die Blume auf dem Bier so königlich, selten schmeckten die Buletten runder, selten ging es an der Theke derart turbulent zu wie gestern Abend. Dennoch ist Schluss mit lustig: Nach mehr als einem halben Jahrhundert hat das Ecklokal Dieze, eine der traditionsreichsten Pinten der Stadt, seinen Schankbetrieb mit sofortiger Wirkung eingestellt. Das letzte Glas ist gelenzt. Gegen Mitternacht machte sich im Kreis der Stammgäste Wehmut breit. Zapfenstreich!

Dennoch besteht für den großen Zirkel kultivierter Thekenfreunde und kommunikativer Philosophen Hoffnung, auch künftig nicht auf ihr zweites Zuhause verzichten zu müssen. Die Stammgäste haben zur Selbsthilfe gegriffen: Der Dieze soll neues Leben eingehaucht werden. Wenn alles nach Plan läuft, wird das Lokal im Juni wiedereröffnet - als Kellerkneipe schräg gegenüber.

+++ Kneipenretter +++

Da die Stammgäste, unter ihnen viele frühere Studenten, eine Menge von Volkswirtschaft verstehen, wurde ein finanzieller Notplan entworfen. Das Schlüsselwort: Crowdfunding. Auf Deutsch: Die Zeche wird im Voraus bezahlt. Gegen die Ausgabe von Verzehrgutscheinen, die bei 50 Euro beginnen, geben die Stammgäste quasi Kleinkredite, die Wirt Jens Hoenig einen Neustart ermöglichen. Das ist ungewöhnlich, vielleicht sogar einmalig. Zurückgezahlt werden die Minidarlehen in flüssiger Form. Oder durch Speisen wie Frikadellen, Erbsensuppe oder Bauernfrühstück, die Hoenigs Lebensgefährtin Ulrike weiter in bewährter Weise zubereiten will. Auch Kellnerin Beate, eine der profundesten Fußballkennerinnen Hamburgs, soll bleiben.

"Wir sind guten Mutes", sagt Rechtsanwalt Christian Hinnerk Hirdt im Namen der Rettungsgesellschaft. Gestern richtete er ein Anderkonto ein; die ersten Zahlungen sind geleistet. Unter dem Strich soll ein fünfstelliger Betrag zusammenkommen. "Sollten Hindernisse eine Konzessionierung der Gaststätte unmöglich werden lassen", garantiert Jurist Hirdt, "werden die überwiesenen Beträge komplett zurückgezahlt."

Da zwischen dem Vermieter der neuen Heimat und Hoenig grundsätzliche Einigkeit besteht, soll es so weit nicht kommen. Anwalt Hirdt ist dabei, die Verträge aufzusetzen. Binnen zwei Wochen sollen die Unterschriften geleistet werden. Eine Säule ist die Bitburger Brauereigruppe.

Eigentlich, so wissen Eingeweihte, wollte sich das Unternehmen nicht beteiligen. Tenor der ursprünglichen Ablehnung: Kellerlokale laufen nicht mehr. Der Schulterschluss der Stammgäste sowie das fantasievolle Finanzmodell jedoch sorgten für einen Meinungsumschwung. Der Brauereikredit ist zugesagt und soll gemeinsam mit den Verzehrgutscheinen und Eigenmitteln des Betreibers Grundlage einer neuen, florierenden Wirtschaft sein.

Trost für die Stammgäste: Von der Rappstraße 1a in die Heinrich-Barth-Straße sind es keine 100 Meter. Im Souterrain des dortigen Eckhauses scheiterten in den vergangenen Jahren mehrere Restaurants. Zuletzt stellten Pfälzer Wirtsleute 2010 den Betrieb ein. Seitdem steht der 75 Quadratmeter große Schankraum leer.

"Die Rettung ist nahe", stellte gestern auch Stammkundin Birte Jessen erleichtert fest. Die examinierte Psychologin lernte die Dieze - wie so viele andere - als Studentin kennen. 1972 war das. Auch sie hat der vor 56 Jahren von einem Gastronomen namens Dietze gegründeten Gaststätte die Treue gehalten.

An der Theke Altgediente schwänzten einstmals ihre Vorlesungen, um in der Dieze Wirtschaft zu studieren. Bis gestern saßen sie immer noch auf Holzbänken in den schnuckeligen Buchten, sind oftmals Professoren oder Dozenten und philosophieren mit jüngeren Semestern über den Gang der Welt. Die Balance zwischen Geschmack und Preis ist traditionell ein hohes Gut. "Muss ja", murmelt der nicht gerade mit sizilianischem Temperament ausgestattete Jens Hoenig. Auch diese gute Sitte will er künftig bewahren. Und natürlich dürfen weiterhin nach Herzenslust Karten gekloppt werden. So freut sich der pensionierte Oberstudienrat Bernd Oltmanns auf die seit gut 20 Jahren immer montags zelebrierte Skatrunde mit seinen Kumpels Hanno, Pauli und Heiko. Bock-Ramsch um einen halben Cent pro Punkt. Holger "Trecker" Wilken genießt es, seine Leidenschaft für Werder Bremen vor Ort unbehelligt ausleben zu können.

Stammgast Horst Tomayer, ein bajuwarischer Hanseat, dichtete in seiner Ode an die Dieze von "humanistischer Gastronomie". Diese soll auch fortan gepflegt werden, da ist man sich einig.