Grenzöffnung: Heute möchte Anette Hoffmann-Knitter die Vierlande nicht mehr missen

Anette Hoffmann-Knitter, die damals noch ihren Mädchennamen "Behrens" trug, ging an diesem Donnerstagabend zeitig ins Bett. Einen Fernseher gab es nicht in der 18 Quadratmeter kleinen Rostocker Wohnung. Anette Behrens musste am nächsten Tag zur Arbeit, ihre Tochter Jenny in die Schule. So verschlief sie die Öffnung der deutsch-deutschen Grenze am 9. November 1989.

Am nächsten Tag traute sie ihren Ohren nicht, denn die Kollegen von der "Ostsee-Zeitung", bei der sie als Sachbearbeiterin für Anzeigen beschäftigt war, kannten nur ein Thema: "Ich hab's nicht geglaubt", sagt die heute 49-Jährige, obwohl sie die Wochen zuvor "jeden Tag wie gebannt bei Mutti Westfernsehen geguckt" hatte. "Die Menschen in der Prager Botschaft, die Montags-Demonstrationen - das war Gänsehaut pur. Ich empfand all diese Ereignisse als spannend - wie ein Abenteuer, das uns alle aus der Lethargie reißt." Und nun, da die Mauer gefallen war, wollte sie es nicht glauben. "Ich hatte Angst, dass dieser Zustand nur kurz währt, und die alles gleich wieder dicht machen."

Aber die Grenzen blieben offen. Trotzdem zog es Anette Behrens nicht in den Westen. Ganz im Gegenteil. "Ich habe mich für meine Mitbürger geschämt, weil die nur rüberfuhren, um sich die 100 Mark Begrüßungsgeld abzuholen." Sie blieb, wollte ihre Stadt mit aufbauen. "Uns ging's gut", sagt sie rückblickend.

Zwar kannte sie keinen Luxus, war mit ihren vier Brüdern in einer Zweieinhalb-Zimmer-Wohnung in Rostock Reutershagen aufgewachsen, aber ihr Vater fuhr für die Deutsche Seereederei auf einem der Handelsschiffe. "Er brachte uns immer etwas mit", erinnert sich Anette Hoffmann-Knitter. "Jeans und andere tolle Sachen." In den Ferien arbeitete auch sie in Papas Betrieb, half beim Zählen des Stückguts und fing Bananen oder andere Früchte auf, die ihr vom Schiff heruntergeworfen wurden.

Mit 17 lernte sie eine andere Seite der DDR kennen. In der zehnten Klasse der Polytechnischen Oberschule wurde sie schwanger, beendete die Schule aber nach der Geburt ihrer Tochter im Jahr 1982. Danach suchte sie eine Lehrstelle. Vergebens. "Keiner wollte eine junge, alleinerziehende Mutter einstellen." Ihr Vater brachte sie schließlich bei sich unter, wo sie eine Lehrstelle als Facharbeiterin für Schreibtechnik antrat. Nach der zweijährigen Ausbildung und dem Pflichtjahr bewarb sie sich bei der Nationalen Volksarmee. "Auch die wollten keine Mutter mit Kind", sagt Anette Hoffmann-Knitter.

Bei der "Ostsee-Zeitung" hatte ihre Bewerbung schließlich Erfolg. Sie erfasste für die Parteizeitung Anzeigen auf Lochband. "200 Anzeigenkarten trafen pro Tag ein", sagt sie rückblickend. Für die Anzeigenkunden bedeutete das eine Wartezeit bis zu einem Vierteljahr. Die Karten wurden redigiert und notfalls aussortiert, "denn Arbeitssuchende gab es offiziell in der DDR nicht". Die Staatssicherheit kam jede Woche ins Verlagshaus, interessierte sich vor allem für Hausverkäufe. Das war verdächtig, plante da etwa jemand die Republikflucht?

Bis heute kann sich Anette Hoffmann-Knitter nicht erklären, warum sie sich erfolgreich um einen Parteieintritt drücken konnte. "Ich hab' immer gesagt, was ich dachte", sagt sie. "Vielleicht hatte ich einfach Glück, dass ich nicht so die Petzer um mich hatte."

1994 heiratete sie und hieß seitdem Knitter. Ein Jahr später kam ihr Sohn Mirko zur Welt. In den folgenden zwei Jahren ließ sie sich nebenbei zur Verlagskauffrau ausbilden. "Freitagsnachmittags und sonnabends, das war ganz schön anstrengend." Nach fünf Jahren ging die Ehe in die Brüche - trotz komfortabler Vier-Zimmer-Wohnung im Rostocker Ortsteil Lütten Klein.

Als sich ihrer Tochter eine Ausbildung in Hamburg bot, parallel dazu ihr Sohn eingeschult werden sollte, beschloss sie 2001, in die Vierlande zu ziehen. Dort wartete schon Burkhard Hoffmann auf sie - "ein Freund der Familie", den sie mittlerweile liebte. Sieben Monate später klappte es auch mit einem Job. Die Bergedorfer Zeitung stellte sie ein - auf vertrautem Terrain in der Anzeigenabteilung. 2010 bauten sie und ihr Mann gemeinsam mit Nachbarn ein Doppelhaus in Neuengamme. "Ich hab' Hamburg schon immer gemocht", sagt Anette Hoffmann-Knitter. "Papa hat uns von dort öfters Karten geschickt." Aus Vierlanden möchte sie nicht wieder weg. Sie mag das Dörfliche, Familiäre, dieses genaue Gegenteil von Anonymität.

Im Rückblick denkt Anette Hoffmann-Knitter, dass sich nach der Wende viele Menschen aus der DDR "überfordert gefühlt" haben. Vorher sei es so bequem gewesen. Der Staat habe für einen gedacht. "Und dann mussten die Menschen plötzlich für sich die Verantwortung übernehmen", sagt sie. "Das konnte nicht jeder auf Anhieb."