In Hamburgs Blumengarten gedeihen nicht nur Tulpen und Rosen, sondern auch mehr Kinder als anderswo.

Die Vergangenheit beginnt wenige Autominuten hinter der Brücke über die Autobahn 25, nur ein paar Hundert Meter links ab von der Kreuzung, an der der ehemalige Gasthof Zur Schiefen Brücke steht. Umgeben von einem bunten Bauerngarten duckt sich hier hinterm Curs-lacker Deich das 1553 errichtete Rieck-Haus, Herzstück des Vierländer Freilichtmuseums und eines der ältesten erhaltenen Hufnerhäuser in den Vier- und Marschlanden. Für den Besucher ist der historische Hof eine Schatzkiste voller Alltagsgegenstände, die aus dem Leben der Vierländer Bauern in den vergangenen vier Jahrhunderten erzählen. Für viele Menschen hier in Curslack aber ist es mehr: ein Aushängeschild ihrer Heimat, ein Teil ihrer Tradition und Geschichte, für die es sich zu kämpfen lohnt.


Sorge um ein Stück Brauchtum

Gartenpflege, Schneeräumen, Reparaturen, Führungen - ohne den Einsatz von Christa und Wolfgang Eggers, deren Familie den Hof 1954 an das Altonaer Museum übergeben, ihn aber "zu Schauzwecken" bis 1982 bewirtschaftet hat, geht hier nichts, sagen viele. Und dabei schwingt stets die Sorge mit, dass sich dieses Engagement vielleicht gar nicht auszahlt: Tatsache ist schließlich, dass das Rieck-Haus laut Bürgerschaftsbeschluss aus der Verantwortung der Stiftung Hamburger Museen in die Obhut des Bezirks übergehen soll, der es in eine Bergedorfer Museumslandschaft einbetten will. Ein zäher Prozess, bei dem es (natürlich) ums Geld geht und der sich bis auf den heutigen Tag hinzieht.

Eine Schließung der Anlage mag sich in Curslack niemand vorstellen, erst recht nicht der Freundeskreis, der sich seit 2011 für das Rieck-Haus starkmacht. Es wäre nicht nur das Aus für die Museumsführungen, die amüsant enthüllen, woher Redensarten wie "einen Zacken zulegen" oder "ins Fettnäpfchen treten" stammen - eine Tradition, die die 2011 verstorbene Christel Eggers begründet hat und die Schwiegertochter Christa fortsetzt. Es wäre auch ein Schlag für den Tourismus. Mehr als 25 000 Besucher lockt das Museum jährlich an, das dort stets im Juni gefeierte Erdbeerfest gehört zu den Hauptattraktionen der Region.

+++++Kurz & knapp+++++

+++++Töchter & Söhne+++++

+++++Zahlen & Fakten+++++

+++++Name & Geschichte+++++

Fachwerk-Idyll am Deich

Wer das Rieck-Haus verlässt und nach einem Abstecher zur heute als Wohnhaus genutzen Rossmühle den schmalen Deich in Richtung Osten spaziert, entdeckt Postkartenmotive: Backsteingebäude wechseln sich ab mit prächtigen Fachwerkhäusern unter Reet, zur rechten Hand lässt sich kurz die träge fließende Dove Elbe blicken, immer wieder blitzt die Sonne im Glas der Treibhäuser. Nach halbstündigem Fußmarsch fällt das Auge auf die Kreuzkirche St. Johannis und ihren frei stehenden Glockenturm - auch sie ein Kleinod, das Vierländer Geschichte wach werden lässt. Reich verzierte Hutständer an den Bänken verraten die Berufe ihrer einstigen Besitzer, die Sitzplätze im blau gestrichenen Gestühl tragen die Namensschilder alteingesessener Familien - zum Teil in der für die Vierlande typischen Intarsienarbeit. Selbst Besucher aus den USA haben sich hier schon ins Gästebuch eingetragen.

Traditionelle Landwirtschaft prägt Curslack seit Langem nicht mehr. 23 Bauernhöfe habe es hier Anfang der 60er-Jahre noch gegeben, gerade fünf seien geblieben, sagt Bäuerin Hanna Wörmbke, 70. Kaum einer kennt den Ort so gut wie sie: Hanna Wörmbke hat die "Veer- und Marschlanner Rundümwieser" mitgegründet, die Touristen und Neugierige seit 1986 durch Vierländer Brauchtum und Geschichte führen.

Unübersehbar ist Curslack der Blumengarten Hamburgs, eine Tradition, die ins 17. Jahrhundert zurückreicht. Etwa 30 Betriebe ziehen hier vor allem Schnittblumen - Rosen insbesondere, aber auch andere Arten wie Tulpen, Gerbera oder Chrysanthemen. Teure Energie und starke Auslandskonkurrenz setzen die Betriebe zwar unter Druck, doch immer noch kommt jede zweite Blume auf Hamburgs Großmarkt aus den Vier- und Marschlanden. Hanna Wörmbke ist sicher, dass die Vierländer diese Herausforderung meistern: "Geschäftstüchtigkeit liegt uns im Blut." Ebenso optimistisch ist Norbert Deiters, 64, der die Firmengruppe Deiters & Florin zum größten deutschen Produzenten von Sprossen und Keimlingen aufgebaut hat. Die EHEC-Krise, die den Betrieb mit mehr als 40 Mitarbeitern unverschuldet in Not brachte, war ein herber Rückschlag. Aber Deiters lässt keinen Zweifel: "Wir überstehen das."

Hamburgs größtes Wasserwerk

Weiter nördlich am Curslacker Heerweg versteckt sich hinter Bäumen das Wasserwerk, das 2004 die bereits 1928 errichtete Aufbereitungsanlage ersetzt hat. Mehr als 350 000 Menschen werden von hier aus mit Frischwasser versorgt. Es stammt aus 16 Tief- und 220 Flachbrunnen, die sich über sieben Kilometer in Richtung Altengamme hinziehen. Mit 21,3 Millionen Kubikmeter Jahresleistung ist die Anlage das größte Wasserwerk der Stadt.

Wasser ist für Curslack von jeher Segen und Fluch zugleich. Zum einen haben erst die Ablagerungen aus dem eiszeitlichen Urstromtal der Elbe den fruchtbaren Kleiboden entstehen lassen. "He harr Klei anne Feut", hieß es früher über reiche Marschbauern. Zum anderen ist das Wasser und dessen Regulierung eine nicht enden wollende Herausforderung. Immer wieder werden Teile Curslacks überflutet, weil die Entwässerungsgräben überfordert sind. Starkregen und der steigende Grundwasserspiegel sind die Auslöser. Mancher Zugezogene, der zu tief gebaut habe, dürfe sich über einen nassen Keller nicht wundern, sagt Hanna Wörmbke: "Wir liegen zum Teil 80 Zentimeter unter Normalnull."

"Tante Emma" gibt es noch

Auch wenn Brauchtum großgeschrieben wird - Curslack ist ein vergleichsweise junger Stadtteil und ein dynamischer dazu. Jeder fünfte Einwohner ist noch keine 18, nur in wenigen anderen Stadtteilen ist der Anteil von Familien mit Kindern so hoch. Allein von 2000 bis 2008 stieg die Zahl der Einwohner um gut 22 Prozent. Das ist eine der höchsten Zuwachsraten in Hamburg und leicht zu erklären: Man wohnt grün - und doch ist die "Stadt", wie man Bergedorf nennt, nur einen Katzensprung entfernt und die City für Autofahrer in gut 20 Minuten zu erreichen. Grundschule und Kindergärten sind vor Ort, dasselbe gilt für Supermarkt, Sparkasse oder Arzt, dazu kommt mit dem SV Curslack-Neuengamme ein agiler Sportverein mit guter Jugendarbeit.

Den Tante-Emma-Laden übrigens gibt es auch noch: Helmut Küsters kleines Geschäft am Curslacker Deich 133, dessen Ladenschild (A & O) an eine längst vergessene Handelskette erinnert, gehört seit Jahrzehnten zum Ortsbild. Wer will da behaupten, Tradition und Fortschritt könnten sich nicht wunderbar ergänzen? "Im alten Sinne ließ ich's ausgestalten, mög' auch der alte Frieden stets drin walten", heißt es an einem restaurierten Wohnhaus am Curslacker Deich.

Treffender kann man es kaum ausdrücken.

In der nächsten Folge am 15.9.: Groß Borstel

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