Kliniken unterschätzen oft Seelenstress

Führende Anästhesisten und Chirurgen sind sich einig: Das sogenannte "postoperative Delirium" - von der leichten Bewusstseinseintrübung bis hin zu langanhaltenden Wahnvorstellungen oder Angstpsychosen - ist eine häufige und mitunter lebensbedrohliche Komplikation nach Operationen. Lebensbedrohlich nicht nur für die betroffenen Patienten, wie die Messerattacke im Bethesda-Krankenhaus zeigt. Offenbar hatte der 65-jährige Patient nach einer schweren Krebsoperation angsteinflößende Halluzinationen, griff zum Messer und stach im Wahn auf die Stationsschwester (57) und die ihr zu Hilfe eilende Psychologin (28) ein. Der zuvor völlig unbescholtene und friedfertige Mann habe geglaubt, die Klinikmitarbeiter wollten ihn entführen und verkaufen, gab er nach seiner Festnahme zu Protokoll.

20 bis 40 Prozent der Patienten, so schätzt Dr. Claas Happach, seien nach einer Operation mehr oder minder schwer verwirrt und könnten ihre reale Situation nicht mehr realitätsnah einschätzen. "Sie wissen nicht wo sie sind, warum sie im Krankenhaus sind und wer ihnen gegenübersteht", beschreibt der 53-jährige Chef der Klinik für Psychiatrie und Psychologie im Bethesda-Krankenhaus. "Solche Bewusstseinseintrübungen lösen mitunter heftige Angstattacken aus. Freunde werden dann zu Feinden."

Beim Delir geraten die Patienten im Sinne des Wortes aus der Spur (lateinisch "Lira", die Furche). Happach spricht lieber vom "Durchgangssyndrom", unter Medizinern auch postoperatives kognitives Defizit (POCD) genannt. Die Anfälligkeit steige mit der Schwere der Operation und fortschreitendem Alter. Demenzpatienten oder Patienten unter starkem seelischem Stress seien besonders gefährdet. "Es kann jeden treffen, für unsere Kollegen auf der Intensivstation ist das ein Alltagsphänomen." Nur selten äußere sich das Delir in gewalttätigen Übergriffen, betont Dr. Happach: "So einen Angriff auf Krankenhausmitarbeiter habe ich in den 20 Jahren meiner Tätigkeit noch nie erlebt." Oftmals würden sich verwirrte Patienten zurückziehen und selbst aufgeben. Gerade bei älteren Menschen könne dies lebensbedrohlich sein. Beim hyperaktiven Delir zögen Patienten an Kathedern und wickelten sich Verbände ab.

Eine vorgeschriebene Untersuchung auf Bewusstseinstrübungen nach Operationen, etwa nach der internationalen Nursing Delirium Screening Scale (Nu-DESC), gäbe es im Bethesda Krankenhaus nicht. "Wir setzen auf die Erfahrung unserer Ärzte und Pflegekräfte", so Happach: "Das wichtigste Diagnosemittel ist, mit den Patienten zu sprechen." Wird eine Durchgangsstörung festgestellt, bekommen Patienten in Bergedorf große Uhren, Bilderrahmen mit Angehörigenfotos oder Tagespläne in ihre Zimmer gehängt. "Klare Umgebungsstrukturen helfen bei der Einordnung der Realität."

Mit der Erfahrung aus der Suchtbehandlung und der Psychiatrischen Klinik sei man in Bergedorf gut aufgestellt. Dennoch müsse man den seelischen Faktoren eines Krankenhausaufenthalts noch mehr Bedeutung zumessen. Dr. Happach: "Bei der rasanten Entwicklung der Apparatemedizin und Medikamentenforschung ist die sprechende Medizin gefährlich ins Hintertreffen geraten, auch bei den Kostenträgern."