Hamburg. Die Vergangenheit lässt sich nicht ändern, aber es gibt die Chance für einen Neuanfang. Vergebung ist Schwerpunkt im neuen „Himmel & Elbe“.

Man kann die Vergangenheit nicht ändern, so gern ich das manchmal auch möchte. Das klingt banal, ist aber eine wichtige Grunderkenntnis, um sich mit Vergebung zu beschäftigen. Die Ereignisse, die dazu geführt haben, dass ich jemanden vergeben möchte, oder darauf hoffe, dass mir etwas vergeben wird, fanden in der Vergangenheit statt. Anzuerkennen, dass ich nur in der Gegenwart oder in der Zukunft etwas verändern kann, ist ein erster Schritt auf dem Weg der Vergebung. Die Hoffnung, Vergangenes ungeschehen zu machen, muss ich loslassen.

Aber was genau ist Vergebung? Es ist die freiwillige Lossprechung von Schuld. Wer aus freien Stücken einem anderen vergibt, nimmt dem Schuldigen die Last der Verfehlung von der Seele. Und die Vergebende kann sich dadurch von eigener Wut, von Schmerz und Traurigkeit befreien. Vergebung kann auch ohne ein reales Gegenüber geschehen, z. B. wenn ein Verstorbener mir Unrecht getan hat und ich ihm oder ihr im Nachhinein vergebe.

Brüche und Verletzungen in der Lebensgeschichte

Als Pastorin in der Hamburger Innenstadt begleite ich Menschen in der Seelsorge. Sie kommen mit ihren Brüchen und Verletzungen in der Lebensgeschichte, die manchmal nur schwer auszuhalten sind und schon beim bloßen Hören wehtun. Oft geht es um Lieblosigkeit oder Kälte in der Kindheit, die dazu geführt haben, dass man sich selbst und anderen gegenüber auch wenig Mitgefühl aufbringt. Manche haben Schuld auf sich geladen, andere erfuhren Gewalt an Leib und Seele oder übten sie selbst aus.

Wie ein roter Faden läuft in vielen dieser Gespräche die Sehnsucht nach Vergebung mit, manchmal ausgesprochen, oft stumm. Es geht darum, dass einer selbst vergeben wird oder es möglich wird, einem anderen zu vergeben. Manchmal hat sich jemand an sich selbst schuldig gemacht und verletzt an Leib und Seele und schafft es nicht, sich das zu vergeben.

Den hohen Anforderungen der Eltern genügen

Ich denke an die junge Frau, die immer funktioniert und sich abgekämpft hat, den hohen Anforderungen der Eltern zu genügen, einfach um geliebt und gesehen zu werden. Wie kann sie ihren Eltern begreiflich machen, dass sie ihrer Tochter nicht gutgetan haben?

Und wie kann sie sich selbst vergeben, dass sie so lange so hart zu sich gewesen ist, um dem Fremdbild der Eltern zu folgen, statt anzufangen zu leben, wie es für sie selbst sinnvoll und gut ist?

Das eigene Bild von der Supermutter infrage stellen

Sich selbst ehrlich anzuschauen, auch dorthin zu sehen, wo es dunkel ist und der Blick am liebsten ausweichen möchte – das erfordert Mut und Ausdauer.

Es ist unangenehm, wenn meine Kinder mir zu Recht sagen, dass ich oft den Beruf vor ihre Bedürfnisse gestellt habe. Und doch muss ich zugeben, dass das passiert ist. Das eigene Bild von der Supermutter wird infrage gestellt, was unerfreulich und schmerzhaft ist, aber auch entlastet. Denn dem genüge ich niemals, egal, wie viel Mühe ich mir gegeben habe.

Seelsorge ist keine Therapie, die aufarbeitet

Sich um Vergebung zu bemühen ist nichts für Angsthasen. Ich kann allerdings aus eigener Erfahrung sagen: Es lohnt sich, sich das zuzumuten! Es erfordert Mut, zuerst die eigenen Anteile anzuerkennen, die zu verqueren Lebensentwürfen geführt haben, und nicht alles anderen zuzuschieben. Und dann die Geschehnisse anzusehen, die mir zugefügt wurden und auf die ich keinen Einfluss hatte. Seelsorge ist keine Therapie, die aufarbeitet. Wenn ich mit Menschen im Gespräch bin, glaube ich daran, dass eine dritte, unsichtbare Kraft anwesend ist, die mithört, mitleidet und dem oder der Verletzten hilft, liebevoll in den Spiegel zu schauen.

Ich hoffe, dass Gott uns begleitet, ein Gott, der an uns Menschen interessiert ist, empathisch ist, der keine Freude an unserem Scheitern hat. Ein Gott, der sich freut, wenn wir erkennen, wer wir sind – geliebte Wesen, die frei sind, sich zu entscheiden, und darin auch scheitern können. Einer, der heilen möchte, wenn wir mit unseren Entscheidungen uns selbst und andere verfehlen und verletzen.

Die Toten können nicht mehr vergeben

Nun gibt es Schuld, die so groß ist, dass es menschenunmöglich scheint, sie zu vergeben. Im vergangenen Jahrhundert haben sich Schriftsteller und Philosophen mit dem Holocaust beschäftigt. Der französische Philosoph Jaques Derrida meinte, dass, wer sich ernsthaft mit Vergebung beschäftige, sich unbedingt dem Unverzeihlichen stellen müsse. Vladimir Jankélévitch, ebenfalls französischer Philosoph, schrieb 1971 in seinem Essay „Pardonner?“, dass die Vergebung mit den Opfern in den Lagern gestorben sei. Damit habe die Bitte um Verzeihung keine Adressaten mehr. Die Toten können nicht mehr vergeben, und keinesfalls könne der Staat an deren Stelle den Tätern „verzeihen“.

Nur Betroffene können den Tätern vergeben

Die Schuld bleibt. Es gibt also eine Grenze für menschliche Vergebung, die auch durch juristische Vokabeln wie „keine Verjährung“ nicht aufgehoben werden kann. Staatliche Entschuldigungen oder Ausdrücke des Bedauerns, auch wenn sie von den Betroffenen gefordert werden, befreien nicht von Schuld. Nur die Betroffenen selbst können den Tätern vergeben. Das konnte beispielsweise Victor Frankl, ein jüdischer Psychiater und Vater der Logotherapie. Er überlebte die Todeslager und setzte sich trotzdem für die Versöhnung und Vergebung ein. Menschen wie er berichten davon, dass zu vergeben, sie von der lebenslangen Last befreit hat, ein Opfer zu sein. Zu vergeben kann einen selbst entlasten, das geschieht auch bei weitaus geringerer Schuld: Wenn ich nach einer ehrlichen Auseinandersetzung mit mir widerfahrenem Unrecht, einem anderen vergeben kann, bin ich frei von den Stricken, die mich an die Vergangenheit binden. Ein Neuanfang wird mir möglich.

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Wer vergeben kann, kann auch sich selbst befreien und sein Leben in die Hand nehmen. Als Christin ist mir die Verschränkung der göttlichen mit der menschlichen Vergebung wichtig. Die erbitten wir in unseren Gottesdiensten und Andachten im Vaterunser: „Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern.“ Dieses Ineinander ist meine Rettung, um ehrlich zu bleiben oder zu werden.

Gott sieht uns in unserer Unvollkommenheit

Weil Gott mich in meiner Unvollkommenheit und Vergebungsbedürftigkeit sieht und mich trotzdem nicht angeekelt wegstößt, darf und kann auch ich immer wieder aufs Neue versuchen zu vergeben und meine Mitmenschen um Vergebung bitten. In dieser Bitte liegt für mich die Kraftquelle zur Vergebung und Versöhnung und damit auch für den Frieden, den wir so nötig haben.

Die Autorin ist Pastorin in der Hauptkirche St. Jacobi.