Familie

Zwei Väter und zwei Pflegekinder: Wie das Modell klappt

| Lesedauer: 7 Minuten
Henrik Müller hat mit seinem Mann Sven zwei Pflegekinder aufgenommen.

Henrik Müller hat mit seinem Mann Sven zwei Pflegekinder aufgenommen.

Foto: Mark Sandten / FUNKE FOTO SERVICES

Henrik und Sven Müller haben ihre zwei Söhne bei sich aufgenommen. Nicht immer ist es für alle Beteiligten einfach. Was sie raten.

Hamburg.  Als sie Eltern wurden, überfielen sie die gleichen Gefühle wie alle anderen auch: Glück, Aufregung, Beklommenheit und die Gewissheit, dass dies ein unvergleichlich wichtiger Moment in ihrem Leben ist. Aber Henrik und Sven Müller (Namen geändert) waren nicht bei der Geburt dabei. Ihre beiden Söhne, heute drei und sechseinhalb Jahre alt, lernten sie erst im Alter von etwa eineinhalb Jahren kennen – und dann sehr bald lieben. Die Müllers haben Pflegekinder bei sich aufgenommen.

„Wir wollten schon immer Kinder haben und haben uns auch mit dem Thema Adoption beschäftigt“, erzählt Henrik Müller, der seit rund 20 Jahren mit seinem Mann zusammen ist. „Aber es ist schwierig, Kinder zu adoptieren – für alle Paare; gerade für gleichgeschlechtliche Paare ist es ein langer Weg.“ Irgendwann hörten sie von der Möglichkeit, Pflegekinder anzunehmen. Sie bewarben sich, absolvierten Kurse zum Thema. Und dann kam der entscheidende Anruf: Liebe Müllers, wir haben hier ein Kind, haben Sie noch Interesse?

Familie: Zuerst wurde eine Beziehung aufgebaut

Hatten sie. Den Augenblick, in dem sie den kleinen Jungen zum ersten Mal im Kinderschutzhaus trafen, wird Henrik Müller nie vergessen: „Dieser Tag ist für immer in meinem Kopf eingebrannt. Er kam um die Ecke gelaufen, und dieser Moment bleibt für immer. Wenn man das Kind das erste Mal sieht, ist das fast mit einer Geburt vergleichbar“, erzählt er. Die Anbahnungsphase dauert aber, nichts wird überstürzt. Die Müllers kamen immer wieder ins Kinderschutzhaus, verbrachten Zeit mit dem Jungen, aßen abends mit ihm und durften ihn irgendwann auch ins Bett bringen.

„Man schaut, ob ein Kontakt, eine Bindung entsteht. Wenn es nicht funktioniert, kann man auch abbrechen.“ Die Müllers stellten mehr und mehr fest: Es gibt eine Bindung, die Chemie stimmt und ihre Herzen sind berührt. Der kleine Junge kam aus einer Situation, die sehr belastend und auch gefährlich für ihn war, mehr möchten die Müllers dazu nicht sagen.

Der Junge musste seine Grenzen austesten

Als sie den Einhalbjährigen mit nach Hause genommen haben, sei das fröhlich und aufregend gewesen, „aber nach und nach packt das Kind aus“, wie Henrik Müller erzählt. Der Junge hatte viel psychisches Gepäck in seinem Rucksack und musste erst mal testen, wer diese neuen Menschen sind, wie belastbar die Beziehung ist, was passiert, wenn sie sich aufregen. „Erst mal wird alles gegessen, was angeboten wird, aber irgendwann sagt er, nee, das möchte ich nicht, und guckt, als wollte er fragen: Darf ich das sagen? Das ist ganz normal. Es gibt schwierige Phasen und lustige Phasen. Meiner Erfahrung nach – und die haben auch andere Pflegeeltern gemacht, braucht es etwa ein Jahr, bis sich das wirklich eingespielt hat.“

Das bedeute nicht, dass es während dieses Jahres immer herausfordernd ist, aber so lange dauere es, bis man das Gefühl habe, das Kind ist wirklich angekommen. „Und es braucht ein bisschen Zeit, bis man selbst sagt: Das ist mein Kind, das ist mir wirklich vertraut.“

„Ich finde es völlig richtig, dass die das machen"

Das Jugendamt stehe beratend zur Seite, man könne da jederzeit anrufen, so Müller. Die Mitarbeiter kämen auch vorbei, um zu sehen wie es läuft und ob sie helfen könnten. Sind solche Überprüfungen, auch im Vorfeld, belastend?

„Ich finde es völlig richtig, dass die das machen, sie bringen schließlich ein Kind bei völlig fremden Leuten unter und müssen sich vergewissern, dass das auch gut so ist“, sagt Henrik Müller. „Sie wollen auch wissen, welche Unterstützung man hat, von der Familie und Freunden. Es werden Seminare angeboten, da wird viel über Hintergründe von Pflegekindern erzählt, das ist schon manchmal erschreckend. Sie wollen zeigen: So ist die Realität, und diejenigen, die das nicht aushalten können, sollten es nicht versuchen.“

Mit der Pandemie kam das zweite Kind

All das ist genauso bei heterosexuellen Paaren, die Pflegekinder aufgenommen haben. Das Umfeld der Müllers reagierte sehr positiv auf die neue Familienkonstellation. „Viele wussten, dass wir uns mit dem Thema beschäftigt haben.“ Dann kam die Pandemie und mit ihr das zweite Kind. Die Müllers wollten immer schon zwei Kinder haben, und als das Leben draußen heruntergefahren war, fragten sie sich: Wenn nicht jetzt, wann dann? Auch ihr Sohn wünschte sich ein Geschwisterkind.

Der Große freute sich sehr über den kleinen Bruder, manchmal ist er auch genervt, die beiden haben ein ganz normales Verhältnis zueinander, wie andere Geschwister auch, erzählt Henrik Müller. Der jüngere Sohn sei vom Charakter ganz anders als der Ältere. „Er ist viel temperamentvoller und sehr lustig und charmant, aber auch er bringt sein Gepäck mit. Wir konnten damit gut umgehen, weil wir schon Erfahrung hatten.“

„Die Pflegeeltern werden ja für sie zu ihrer Familie"

Kontakt zu den leiblichen Eltern gibt es nicht. Am Anfang war da eine Unsicherheit, ob das Kind zu ihnen zurückgeführt werden könnte, auch wenn das nur selten vorkommt. „Man geht mit diesen Gedanken um. Die Ämter – das Jugendamt und die Gerichte – haben das Kindeswohl im Blick, und je länger das Kind in einer Pflegefamilie ist, desto unwahrscheinlicher wird es, dass es wieder herausgenommen wird“, sagt Müller.

„Die Pflegeeltern werden ja für sie zu ihrer Familie, genau wie sie selbst für die Pflegeeltern zu ihren Kindern werden.“ Eine Adop­tion ist nur möglich, wenn die leiblichen Eltern die elterliche Sorge aufgeben. „Sollte das passieren, wären wir auf jeden Fall dazu bereit“, sagt Müller, den seine Kinder Papa nennen, während sein Mann für sie Papi ist.

Familie: Manchmal kann es auch schwierig sein

Henrik Müllers Bilanz: „Ein Pflegekind zu nehmen ist eine Option, über die man auf jeden Fall nachdenken sollte. Man muss nur wissen: Es sind nicht nur Pflegeeltern und -kind involviert, sondern viele andere Parteien und Instanzen. Das kann sehr gut laufen, aber manchmal auch schwierig sein. Man muss sich bewusst sein, dass diese Konstellation ihre eigenen Herausforderungen hat. Das lässt sich meist lösen. Wir haben sehr positive Erfahrung gemacht, aber das geht nicht allen so. Nichtsdestotrotz: Fast alle Pflegeeltern, die ich kenne, waren froh, diesen Schritt gemacht zu haben. Sie lieben ihre Kinder.“

Informationen: www.pflegefamilie-werden.info

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