Deutschland und seine Bürger sind auf einen großflächigen Stromausfall schlecht vorbereitet. Das Szenario ist beängstigend.
Hamburg. Eigentlich müsste Deutschland gewarnt sein – denn ein Buch hielt sich vor zehn Jahren über viele Wochen auf den Bestsellerlisten: „Blackout“ von Marc Elsberg. Die Bundesnetzagentur und das Innenministerium adelten den Autor, der einst als Werber in Hamburg gearbeitet hatte, mit Einladungen ins eigene Haus. Ihre Botschaft war eindeutig: Mit der Lektüre des Thrillers erhält man nebenbei einen Einblick in die katastrophalen Folgen eines Blackouts.
Wie ein Stromausfall ein Land ins Chaos stürzt
Elsbergs Plot, der gerade als Serie bei Joyn läuft, ist schnell erzählt: Terroristen hacken intelligente Stromzähler und manipulieren zugleich die Steuerungssoftware, um das Wiederanfahren der Kraftwerke zu verhindern. Ganz Europa sitzt an einem kalten Februartag plötzlich im Dunkeln. Einem italienischen Hacker fällt die Manipulation als Erstem auf – er versucht, den Terroristen das Handwerk zu legen. Wie in jedem guten Thriller muss er Widerstände überwinden, Feinden entgegentreten, um sein Leben kämpfen.
Noch packender als die Story ist die Kulisse eines ins Chaos abgleitenden Kontinents. Elsberg nimmt den Leser auf eine Reise mit durch ein Europa, in dem nichts mehr funktioniert: An Tankstellen lässt sich kein Benzin zapfen, Toilettenspülungen und Duschen versagen, die Städte tauchen ins Dunkel ab.
Landwirtschaftliche Betriebe kollabieren, weil Kühe nicht mehr gemolken, Ställe nicht mehr beheizt werden, die Versorgung mit Lebensmitteln und Bargeld bricht zusammen, weil Lieferketten implodieren. Kommunikationsnetze brechen zusammen, die Börsen crashen, in den Krankenhäusern regiert das Chaos. Seuchen breiten sich aus, und weil Kühlsysteme ausfallen, havarieren Atomkraftwerke. Es ist ein apokalyptisches Bild, das an Hieronymus Bosch erinnert.
Großflächiger Stromausfall gilt als das größte Risiko
Es liegt vielleicht näher an der Wirklichkeit, als uns lieb ist: Der Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV) hat nun die Gefahr eines Blackouts betont – und dass die Republik auf eine solche Krise ähnlich schlecht vorbereitet ist wie auf die Pandemie. Das Auftreten eines Sars-Modi-Virus hatten die Bevölkerungsschützer in einer Risikoanalyse 2012 durchgespielt – hätte diese Bundestagsdrucksache die Aufmerksamkeit bekommen, die sie verdient hätte, wäre das Land besser vorbereitet durch die Corona-Pandemie gekommen.
Ein flächendeckender, längerer Stromausfall wäre in seinen Folgen weitaus dramatischer als Covid-19. Zwei Drittel der Deutschen haben sich mit dieser Gefahr Umfragen zufolge nie befasst. Wolfram Geier, Abteilungsleiter für Risikomanagement und Internationale Angelegenheiten im Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK), sagt: Ein Blackout gehöre aktuell „zu den größten Risiken für unser Land“. Auch die Politik weiß um die Gefahren – hier hatte der Bundestag 2011 eine Technikfolgenabschätzung beauftragt. Spätestens seit dem Krieg in der Ukraine muss man das Undenkbare denken.
Es geht nicht nur um bloße Gedankenspiele, wie größere Stromausfälle in der Geschichte lehren. Im August 2003 löste der Ausfall in einem E-Werk in Manhattan einen Dominoeffekt aus, der das gesamte Netz mitriss. New York, Detroit, Cleveland, Ottawa und Toronto waren betroffen. 50 Millionen Menschen in acht US-Staaten und dem Osten Kanadas blieben bis zu drei Tage ohne Strom, auf den Straßen spielten sich chaotische Szenen ab: Weil Ampeln ausfielen, kam es zu Unfällen und langen Staus, Zehntausende Menschen saßen in dunklen Zügen oder Fahrstühlen fest. Menschen strandeten in der Stadt und mussten unter freiem Himmel übernachten. Der Schaden belief sich auf bis zu zehn Milliarden Dollar.
100 Millionen Euro Schaden nach Stromausfall im Münsterland
Zweieinviertel Jahre später traf es das Münsterland: Heftige Schneefälle und Sturm hatten viele Hochspannungsleitungen zerstört. Rund 250.000 Menschen waren betroffen, manche mussten bis zu eine Woche warten, bis der Strom wieder aus den Steckdosen floss. Schätzungen der IHK Nord-Westfalen gingen hier von einem wirtschaftlichen Schaden von 100 Millionen Euro aus.
Einer der wohl skurrilsten Blackouts folgte 2006: Um ein Kreuzfahrtschiff der Meyer Werft von Papenburg in die Nordsee zu überführen, wurde ein Stromkreis über der Ems abgeschaltet – allerdings anders als zuvor besprochen. Eine Kettenreaktion führte zu automatischen Abschaltungen in ganz Zentraleuropa, das Verbundnetz geriet binnen Sekunden aus dem Gleichgewicht. Es dauerte, den östlichen Teil des Netzes mit dem Südwesten wieder zusammenzuschalten. Teile von Deutschland, Frankreich, Belgien, Italien, Österreich und Spanien waren teilweise bis zu zwei Stunden ohne Strom. Die Abschaltung an der Ems war noch in Marokko spürbar.
Im Februar 2019 traf es den Berliner Stadtteil Treptow-Köpenick. Dort fiel der Strom in 30.000 Haushalten aus, auch zwei lokale Heizkraftwerke liefen nicht mehr. In einem Krankenhaus havarierte ein Notstromaggregat, die Feuerwehr musste Patienten in andere Stadtbezirke verlegen. Ein lokaler Ausfall ist zu händeln, ein nationaler Blackout aber katastrophal. Schon wenn eine ganze Metropole vom Netz geht, können andere nicht mehr aushelfen. Die Vernetzung der Gesellschaft schreitet immer weiter fort – entsprechend verletzlich ist das Land geworden. Und wegen der wachsenden Abhängigkeit unseres Lebens vom Strom potenzieren sich die Risiken.
Die Mobilität wäre abrupt gestoppt
Als in der Schneekatastrophe 1978/1979 der Strom in Teilen von Schleswig-Holstein tagelang ausfiel, traf dies eine weniger elektrifizierte Gesellschaft: Beispielsweise konnten landwirtschaftliche Mitarbeiter auf den Höfen noch die Kühe melken und die Tiere versorgen, heute würde das Nutzvieh bald qualvoll verenden. Während analoge Telefone auch im Falle eines Ausfalls noch funktionieren, sind Mobiltelefone schnell tot, weil die Basisstationen ausfallen. Viele empfindliche elektronische Systeme wie Rechenzentren und Leitzentralen könnten heute Schaden nehmen mit unabsehbaren Folgen.
Bahnen bleiben stehen und Fahrzeugtüren können sich nicht mehr öffnen, die Mobilität wäre abrupt gestoppt. Flugzeuge könnten bald weder starten noch landen, der Betrieb im Hafen käme zum Erliegen. Auch in Supermärkten ginge rasch nichts mehr: Die Kassen laufen eine halbe Stunde mit Notstrom, Tiefkühlregale funktionieren noch ein paar Stunden – aber Geld gäbe es keines mehr aus den Automaten. Hinzu kämen Panikkäufe. Zwar haben Discounter Waren für mehrere Tage, ja Wochen vorrätig – aber schon die Hamsterkäufe bei Toilettenpapier- und Mehl im März 2020 haben gezeigt, wie schnell eine Gesellschaft an ihre Grenzen stößt.
Mit jedem weiteren Tag würde ein Blackout schlimmer – wie in Elsbergs Thriller. Die Drucksache des Deutschen Bundestages warnt, dass bei einem landesweiten Blackout „ein Kollaps der gesamten Gesellschaft kaum zu verhindern“ wäre. Binnen weniger Tage bräche das öffentliche Leben zusammen, eine Kommunikation liefe lediglich noch über batteriebetriebene Radios, Massenmedien funktionierten nicht mehr, weil sie keine Massen mehr erreichen. Bald stürben Menschen, weil die medizinische Versorgung zusammenbricht und Medikamente fehlen. Auch Generatoren helfen dann nicht mehr weiter, weil keine Kraftstoffe mehr transportiert werden.
Stromausfall: Die Achillesverse ist das Wasser
Es lohnt sich, genauer in den 2011 veröffentlichten Bericht zu schauen: „Es drohen erhebliche Engpässe bei der Versorgung der Bevölkerung, beispielsweise mit Lebensmitteln oder medizinischen Bedarfsgütern“, heißt es da. Die Achillesferse ist das Wasser, wo nach wenigen Stunden Probleme auftreten: „Die Wasserinfrastruktursysteme können ohne Strom bereits nach kürzester Zeit nicht mehr betrieben werden. Die Folgen ihres Ausfalls, insbesondere für die Versorgung der Bevölkerung mit Trinkwasser, wären katastrophal.“
Und das ist noch nicht alles – mit längeren Stromausfällen wächst die Feuergefahr „im industriellen Bereich etwa durch den Ausfall von Kühlungen und Prozessleitsystemen oder durch Versuche in den Haushalten, ohne Strom zu kochen, zu heizen oder zu beleuchten“. Das Fazit: „Die öffentliche Sicherheit ist gefährdet, der grundgesetzlich verankerten Schutzpflicht für Leib und Leben seiner Bürger kann der Staat nicht mehr gerecht werden. Damit verlöre er auch eine seiner wichtigsten Ressourcen – das Vertrauen seiner Bürger.“ Ein Desaster. Immerhin ein Sektor gilt als recht robust – Banken und Börsen. Der Crash fiele also nicht aus.
Christoph Unger, Präsident des Bundesamts für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe, hält den Blackout für das schlimmste vorstellbare Szenario: „Elektrizität ist unser Lebenselixier, mit ihr betreiben wir den Verkehr, das Mobilfunknetz, das Internet, Supermarkttüren und Geldautomaten. Fällt der Strom aus, können Sie Ihre Toilette nicht mehr spülen. Sie glauben gar nicht, wie schnell die voll ist.“ Seine Prognose: „Wenn er eintritt, bricht binnen ein, zwei Tagen Chaos aus.“
Versicherungswirtschaft warnt vor den Folgen
Der Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV) zitiert Albrecht Broemme, den langjährigen Präsidenten des Technischen Hilfswerks, der heute den Thinktank Zukunftsforum Öffentliche Sicherheit in Berlin leitet. Er hält Hackerangriffe für die größte Gefahr – so wie in Elsbergs Buch. Aber auch Terroranschläge oder Extremwettereignisse wie 2005 im Münsterland könnten die Netzstabilität in ganz Europa kippen.
„Die Sensibilität für die Folgen eines Blackouts ist in keiner gesellschaftlichen Gruppe vorhanden“, klagt Broemme. „Auf einen Blackout ist Deutschland überhaupt nicht vorbereitet.“ Der aber ist nicht gänzlich auszuschließen. Beim Übertragungsnetzbetreiber Tennet heißt es: Mit der aktuellen Netzsituation könnte ein strenger Winter mit starkem Frost von Russland bis Frankreich bei wenig Wind zum Risiko für unsere Stromversorgung werden.
„Dann könnte es auch in Deutschland zu Versorgungsengpässen kommen.“ Wenn zusätzlich ein konventionelles Kraftwerk ausfällt und wegen einer Dunkelflaute kaum Wind- und Sonnenenergie ins Netz fließen, wird es eng. Und seit dieser Woche ist nicht einmal mehr klar, wie lange und wie zuverlässig das Gas fließt. Volker Weinreich, Leiter der wichtigen Tennet-Schaltleitung in Lehrte, sagt: Das deutsche Netz allein könne eine wochenlange Dunkelflaute nicht stemmen, „für solche Fälle sichern wir uns rechtzeitig Stromkontingente in Nachbarländern“.
Das Risiko wird durch die Politik noch erhöht: Mit jedem weiteren Meter der Energiewende leidet die Stabilität des Stromnetzes in Deutschland und auch der Nachbarländer – wenn auf der einen Seite grundlastfähige Kraftwerke abgeschaltet werden, der Zubau von alternativen Energien aber nicht im selben Tempo erfolgt und die großen Stromtrassen von Nord nach Süd weiterhin fehlen.
Wind- und Sonnenstrom machen das Netz anfälliger
„Kohle-, Gas- und Kernkraftwerke lassen sich sehr exakt steuern und liefern eine konstante Menge Strom. Mit einem hohen Anteil konventioneller Energie im Netz gibt es kaum Schwankungen“, sagt Weinreich. Wenn Ende 2022 die letzten drei verbliebenen Atomkraftwerke heruntergefahren werden, wächst das Risiko weiter. Anhänger der Energiewende verweisen darauf, dass es bislang keine gravierenden Stromausfälle in Deutschland gegeben hat. Das stimmt. Tatsächlich waren 2020 laut Bundesnetzagentur alle Deutschen im Durchschnitt weniger als elf Minuten ohne Strom – 2019 waren es noch etwas mehr als zwölf Minuten, 2006 sogar 21,5 Sekunden.
Es stimmt aber auch, dass die Zahl der Eingriffe der Netzbetreiber zur Stabilisierung des Stromnetzes deutlich gestiegen ist – gerade in Abhängigkeit vom Wetter. Diese Noteingriffe kosten schon jetzt erheblich: Im Jahr 2021 fielen nach Zahlen der Bundesnetzagentur rund für Netz- und Systemsicherheitsmaßnahmen rund 1,4 Milliarden Euro an – 100 Millionen Euro mehr als 2019. Die Kosten werden über die Netzentgelte auf den Strompreis umgelegt und landen am Ende beim Verbraucher.
Stromerzeugung in Deutschland ist schlechter planbar
Auch das Basler Prognos-Institut warnt vor einer wachsenden Gefahr vor einem Blackout. Es kommt im jährlichen Energiewende-Monitoring für die Vereinigung der bayerischen Wirtschaft (vbw) zum Ergebnis, dass die Versorgungssicherheit im Laufe der nächsten Jahre leiden könnte. Die Stromerzeugung in Deutschland ist mit steigendem Anteil wetterabhängiger Sonnen- und Windenergie schlechter planbar, gleichzeitig steigt der Stromverbrauch, weil auch der Verkehr und die Wärmeerzeugung zunehmend elektrifiziert werden. Mehr Verbrauch bei weniger Sicherheit sind eine explosive Mischung, das Land wird verwundbarer.
Ein Blackout ist wie ein schwarzer Schwan, nicht vorhersehbar, unwahrscheinlich, aber im Ernstfall extrem fatal. „Leider sind wir in Deutschland auf die Folgen eines flächendeckenden Stromausfalls nicht ausreichend vorbereitet“, sagt GDV-Hauptgeschäftsführer Jörg Asmussen. Die Schäden wären nach Verbandseinschätzung zu hoch, als dass die Versicherungsbranche diese allein auffangen könnte. Als Bürger kann man sich nur vorbereiten – Wasser und Nahrung vorrätig haben, Kerzen, ein Radio, einen Kocher. Wer Marc Elsberg gelesen hat, hat das alles längst im Keller.