Abendblatt-Gespräch

Person oder Programm: Was entscheidet die Bundestagswahl?

| Lesedauer: 11 Minuten
Wollen nach der Bundestagswahl im September Bundeskanzlerin/Bundeskanzler werden: Annalena Baerbock (Grüne), Armin Laschet (CDU) und Olaf Scholz (SPD) (v. l.).

Wollen nach der Bundestagswahl im September Bundeskanzlerin/Bundeskanzler werden: Annalena Baerbock (Grüne), Armin Laschet (CDU) und Olaf Scholz (SPD) (v. l.).

Abendblatt-Chefredakteur Lars Haider spricht mit Uni-Präsident Dieter Lenzen über (große) Themen unserer Zeit.

Hamburg. Wie jetzt?“ heißt ein Gemeinschaftsprojekt von Hamburger Abendblatt und Universität Hamburg. Im 14-Tage-Rhythmus unterhalten sich Lars Haider und Dieter Lenzen über Fragen, die Wissenschaft und Journalismus gleichermaßen bewegen.

Diesmal geht es darum, was für den Erfolg bei der Bundestagswahl ausschlaggebend ist: der Spitzenkandidat/die Spitzenkandidatin oder doch das Programm der Partei?

Lars Haider: Bei der Suche der CDU/CSU nach einem Kanzlerkandidaten habe ich gedacht: Es geht gar nicht mehr um die Parteien und ihr Programm, es geht vor allem darum, dass Markus Söder Kanzler werden möchte.

Dieter Lenzen: Was auch nicht per se schlimm ist. Wer so ein Amt anstrebt, muss ehrgeizig, vielleicht sogar selbstbezogen sein. Die Vorstellung, dass es eine nennenswerte Zahl von Politikern gibt, denen es nur um das Gute für das Land, die Partei und die Menschen geht, ist naiv. Natürlich gibt es persönliche Motive, nach solchen Ämtern zu greifen, und die Macht, etwas entscheiden zu können, gehört auf jeden Fall dazu. Ich könnte eine ganze Reihe von sachfremden Gründen aufzählen, die dazu führen könnten, dass eine Person Bundeskanzlerin werden will. Geld spielt dabei übrigens keine Rolle.

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Und dass Armin Laschet am Ende Markus Söder aus dem Weg geräumt hat, zeigt, dass auch er dieses Amt unbedingt wollte. Und dass er eben nicht nur ein Versöhner und Zusammenbringer ist, sondern jemand, der genau weiß, wie man mit Macht umgeht. Soll heißen: Der eine, Söder, ist als Machtmensch sofort zu erkennen, der andere, Laschet, erst auf den zweiten Blick.

Es kommt darauf an, ob einer eher in die Wade beißt oder woanders hin. Die kleinen Wadenbeißer sind die Gefährlichen, nicht die, die auf Augenhöhe zum Gegner werden. Und ja: Es geht nicht ohne dieses Primärmotiv „Ich will Kanzler werden“, das gehört dazu und sollte uns trotzdem Sorgen machen. Denn wir möchten doch vor allem wissen: Wie geht es uns, wenn du Kanzler geworden bist, haben wir dann ein besseres Leben? Diese Frage hat in den Auseinandersetzungen, wie wir sie bei der CDU/CSU erlebt haben, gar keine Rolle gespielt.

Die Grünen haben gleichzeitig Spitzenkandidatin und Programm vorgestellt, und damit kommen wir zu unserer Kernfrage: Was ist wichtiger, um die Bundestagswahl zu gewinnen? Die meisten Menschen haben doch eine bestimmte politische Richtung und schauen dann, ob die jeweilige Kandidatin dazu passt, und ob sie das, was in den Parteiprogrammen steht, umsetzen kann.

Die Programme stehen in Broschüren oder im Internet, aber sie müssen vermittelt werden. Das ist die Aufgabe einer Spitzenperson, die zugleich das Parteiprogramm auch attraktiv machen und durchsetzen muss. Ich weiß bisher nicht, was Frau Baerbock, Herr Laschet oder andere inhaltlich vorhaben und welche Durchsetzungskraft sie dabei entwickeln.

Und dann spielen auch vermeintlich oberflächliche Fragen eine Rolle: Steht ein Mann oder eine Frau zur Wahl, ist sie 40 oder 60, hat er Kinder oder keine? Man sucht jemanden, mit dem man selbst etwas anfangen und in den man etwas projizieren kann.

Die Frage, ob sich der Wähler mit der Spitzenperson identifizieren kann, ist sehr wichtig. Wenn Sie, lieber Herr Haider, die Pflicht hätten, für einen der Kandidaten Reden zu schreiben: Bei wem würde es Ihnen am leichtesten fallen?

Wahrscheinlich könnte ich am leichtesten für Annalena Baerbock eine Rede schreiben, danach käme schon Armin Laschet, weil mir – wie ihm – dieses Versöhnende und Ausgleichende sehr wichtig ist. Olaf Scholz kenne ich von den drei Kandidaten am besten, und zugleich ist er mir am unähnlichsten. Für ihn eine Rede zu schreiben, würde mir schwerfallen, weil ich erstens nicht ansatzweise so klug bin wie er. Und weil ich zweitens immer versuchen würde, mit Reden Emotionen zu erzeugen.

Eine große Rolle wird auch die Frage der geschätzten Redlichkeit spielen. Sagt die Person, für die Sie eine Rede schreiben, was sie macht, und macht sie, was sie sagt, oder gibt es noch eine zweite Agenda im Hintergrund? Die leichteste Methode, darauf eine Antwort zu finden, ist, sich die Frage zu stellen, welchem der Kandidaten man es zutrauen würde, uns zu betrügen.

Inzwischen ist es so weit, dass man bei der CDU/CSU dem neuen, großen Gegner, also den Grünen, vorwirft, Hinterzimmerpolitik zu betreiben, weil Annalena Baerbock und Robert Habeck das Duell um die Kanzlerkandidatenschaft eben nicht auf offener Bühne und bei „Bild live“ ausgetragen haben.

Die scheinbare Harmonie, die die beiden vermittelt haben und weiter vermitteln, passt überhaupt nicht zu unserem Bild von Politikern. Wer redlich erscheint, erzeugt gleich die Frage: Ist das wirklich so? Oder kann er/sie sich nur gut verkaufen? Ich hätte die Sorge, dass die Dinge zu glattgelaufen sind.

Soll heißen: Während wir bei den Streitereien in der CDU/CSU live dabei waren, wissen wir bei den Grünen schlicht nicht, was hinter den Kulissen gelaufen ist?

Die Kämpfe werden dort erst noch stattfinden, wenn es tatsächlich darum gehen sollte, Macht und Posten zu verteilen. Da wird etwas aufbrechen, das kann gar nicht anders sein.

Gucken wir uns die drei Kandidaten einmal an, die ja alle die Chance haben, Kanzler zu werden. Wie wichtig ist die Frage: Kann er/ sie­ das, weil er/sie schon mal regiert hat?

Darauf kann es keine einheitliche Antwort geben. Es hängt davon ab, ob man diese Frage eher älteren Männern und Frauen oder jüngeren stellt. Das macht es auch so schwer, für die Spitzenkandidaten den richtigen Ton zu finden.

Das ist interessant, dass Sie das mit den älteren Männern und Frauen sagen. Ich glaube, dass viele, die eine längere Lebenserfahrung haben, zögern könnten, Annalena Baerbock zu wählen, weil sie so jung ist und noch nie regiert hat. Und das, obwohl sie grüne Themen an sich sehr wichtig finden. Ein Leser hat mir neulich gesagt: Wenn ich ein medizinisches Problem habe, gehe ich dann zu einem Arzt, der gerade von der Uni kommt, oder zu einem, der sich damit schon seit 20 Jahren beschäftigt?

Diese Metapher trifft für mich auch aus einem anderen Grund zu. Ich würde einen älteren Arzt deshalb schätzen, weil er nicht übers Ziel hinausschießt und erst einmal abwartet, bevor er zu harten Medikamenten greift. Wenn man die Sorge hätte, dass ein junger Kandidat zu schnell zu viel will, würde man damit rechnen, dass er auf seinem Weg Fehler machen könnte. Das kann man aber auch positiv wenden, weil jemand, der etwas ganz neu macht, es besser machen könnte als andere, die eventuell in Routinen gefangen sind. Grundsätzlich hat die Frage, für welchen Spitzenkandidaten man sich entscheidet, vor allem mit einer persönlichen Einstellung zu tun: Will ich, dass sich möglichst wenig ändert in den nächsten vier Jahren, weil sich in den vergangenen Jahren schon so viel geändert hat? Oder möchte ich, dass angesichts all der Krisen um uns herum, vor allem angesichts des Klimawandels, jetzt endlich richtig zugepackt wird?

Ich komme noch mal auf alle drei Kandidaten zurück und stelle eine Gemeinsamkeit fest: Der Ober-Charismatiker, die Lichtgestalt, der deutsche Barack Obama ist wieder nicht dabei. Und die, die etwas Besonderes hatten, ob man das nun gut fand oder sich darüber aufgeregt hat, sind ausgeschieden: Markus Söder, Friedrich Merz, auch Robert Habeck. Was sagt das über unser Land, dass am Ende immer Otto-Normalpolitiker Kanzler werden wollen und sollen?

Machen Sie doch mal ein Experiment im Abendblatt und fragen Sie die Leserinnen und Leser: Wenn Sie unter allen Bürgern frei wählen könnten, wen hätten Sie dann gern als Kanzlerin oder Kanzler?

Früher hätte bei solchen Umfragen Günther Jauch gewonnen. Aber ich frage noch mal: Warum kommen Politiker, die andere in ihren Bann ziehen können, warum kommen kluge Menschenfänger in unserem Parteiensystem nicht an die Spitze?

Vielleicht, weil sie nicht so töricht sind, Politik zu machen.

Was auch keine schöne Erkenntnis ist.

Das ist genau der Punkt, den man anfassen muss. Sie haben eben das schöne Beispiel mit Herrn Jauch gebracht. Der hat viele Eigenschaften, die ihn populär machen oder gemacht haben. Aber würden wir ihm auch zutrauen, ein ganzes Land zu führen?

Diese Frage spielte im Hamburger Wahlkampf eine Rolle, bei dem Peter Tschentscher, der spätere Sieger, immer wieder betont hat: Man muss nicht nur regieren wollen, man muss es auch können.

Gut möglich, dass Scholz und Laschet in der Auseinandersetzung mit Baerbock genau diesen Punkt herausstellen werden. Auch in Ermangelung anderer Punkte …

Wissen Sie schon, wen oder was Sie bei der Bundestagswahl wählen werden?

Auf keinen Fall. Dafür weiß ich im Augenblick zumindest von zwei der drei Spitzenkandidaten viel zu wenig, um mir ein vernünftiges Urteil bilden zu können. Nach meinen Erfahrungen mit Politikern möchte ich vor allem wissen, was sie am Ende wirklich durchsetzen können und wie ehrlich sind sie?

Wird nach Angela Merkel wieder eine Frau Kanzlerin?

Das ist eine interessante Frage, weil man sie in zwei Richtungen beantworten kann. Nummer eins: Wieso nicht, damit haben wir doch 16 Jahre gute Erfahrungen gemacht. Nummer zwei: Jetzt sind mal wieder die Männer dran. Es wird beide Urteile geben, und es wäre interessant, einmal wissenschaftlich zu untersuchen, welche Rolle diese Frage tatsächlich spielt.

Wenn man nur an der Universität Hamburg abstimmen würde – würde die CDU/CSU außerhalb der wirtschaftlichen Fakultäten überhaupt eine Stimme bekommen?

Man liegt völlig falsch, wenn man jung mit grün gleichsetzt. Ich glaube, man wäre sehr überrascht, was bei einer solchen Abstimmung herauskäme.

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