Hamburg. Fünf besondere Projekte haben gewonnen. Die 115 Schülerinnen und Schüler erhalten ihre Auszeichnung, sobald es wieder möglich ist.

Heute, am 27. Januar, wäre ihr großer Tag gewesen. 115 Schülerinnen und Schüler hätten am heutigen Gedenktag an die Opfer des Holocausts den Bertini-Preis entgegennehmen sollen – in einer feierlichen Veranstaltung auf der Bühne des Ernst Deutsch Theaters.

So wie in den vergangenen Jahren hätte es auch bei der 23. Verleihung der mit einem Preisgeld von je 2000 Euro verbundenen Auszeichnung Grußworte von Persönlichkeiten dieser Stadt, Laudationen von Mitgliedern des Vereins Bertini-Preis e. V. und Livemusik gegeben. Doch dieser festliche Rahmen muss wegen der Corona-Pandemie ausfallen.

Der Verein wollte die Preisverleihung nicht durch eine digitale Veranstaltung ersetzen. „Die Übergabe der Urkunden soll, sobald es wieder möglich ist, stattfinden“, sagt Isabella Vértes-Schütter, Intendantin des Ernst Deutsch Theaters, einer der Förderer des Bertini-Preises. Doch Gewinner sind die fünf prämierten Gruppen auch heute schon. Von den 13 Projekten, die sich im vergangenen Jahr bewarben, wählte die Jury im Dezember die fünf besten Projekte aus.

Gegen Ausgrenzung und das Vergessen

Denn sie alle setzten die Ziele des Bertini-Preises um, der sich gegen Ausgrenzung und das Vergessen von Unrecht in der Vergangenheit sowie für ein gleichberechtigtes Miteinander einsetzt. Benannt ist der Preis nach dem Roman „Die Bertinis“ des Schriftstellers Ralph Giordano, in dem der Hamburger das Schicksal seiner jüdischen Familie schilderte, die dem Holocaust nur um Haaresbreite in einem Versteck in Harvestehude entging. Bis zu seinem Tod 2014 war Ralph Giordano Ehrenvorsitzender des Bertini-Preises und ein unermüdlicher Kämpfer für die Demokratie.

Wie wichtig diese Haltung gerade in diesen Zeiten ist, haben die Jugendlichen in ihren Projekten gezeigt. So haben sich Schüler des Gymnasiums Kaifu nach einem Anschlag auf einen jüdischen Studenten in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft mit einem Video gegen Antisemitismus gestellt und sich mit der jüdischen Gemeinde in Hamburg solidarisiert. Die übrigen Preisträger haben sich mit den Themen Rassismus, Holocaust-Gedenken und der historischen Aufarbeitung der NS-Zeit in der eigenen Familie beschäftigt. Das Abendblatt stellt jedes Projekt ausführlich vor. Ann-Britt Petersen

Ein Theaterstück über Anne Frank und Sophie Scholl

Annika Franke, Emanuel und Helena
Bohndorf, Line Ott (v. l.)
Annika Franke, Emanuel und Helena Bohndorf, Line Ott (v. l.) © Magunia

In ihrem Stück „Weiter als die Angst“ brachte die Theater AG des Heinrich-Heine-Gymnasiums unter Leitung von Regisseur Nils Daniel Finckh die Lebensgeschichten der Widerstandskämpfer Hans und Sophie Scholl und des jüdischen Mädchens Anne Frank gleichzeitig auf die Bühne. Auf einer Bühnenhälfte stellten sie das Verhör der Geschwister Scholl sowie ihre Erinnerung an ihre Jugend dar. Die Szenen wechseln sich mit jenen auf der zweiten Bühnenhälfte ab, die die letzten Tage der Anne Frank im KZ Bergen Belsen und ihre Erinnerungen an das Versteck im Hinterhaus in Amsterdam zeigen.

„Mit den zwei Räumen wollten wir zeigen, wofür die jeweilige Seite gekämpft hat und gestorben ist“, sagt Helena Bohndorf (20), die Darstellerin von Sophie Scholl. Sie war beeindruckt von diesen „jungen Menschen mit Weitblick, die sich von der NS-Ideologie nicht verblenden ließen und unter Einsatz ihres Lebens für mehr Menschlichkeit kämpften“, sagt Helena. Die Protagonisten Scholl und Anne Frank haben sich nicht von ihrem Weg abbringen lassen. „Sie haben sich gegen das NS-Regime gestellt, obwohl sie damit ihre Leben aufs Spiel setzten“, sagt ihr Bruder Emanuel Bohndorf (17), der den Hans Scholl spielte. Auf deren Standhaftigkeit bezieht sich auch der Titel des Stückes „Weiter als die Angst“. Nach der Premiere, die bereits im Juni 2019 war, soll es weitere Aufführungen in diesem Jahr geben – sobald dies wieder möglich ist. pet


1945 hingerichtet – auf den Spuren von Hans Leipelt

Yigit Ayvaz, Kamo Juwara, Zeynep
Erken, Samed Yilmaz (v. l.)
Yigit Ayvaz, Kamo Juwara, Zeynep Erken, Samed Yilmaz (v. l.) © Magunia

21 Schülerinnen und Schüler der Stadtteilschule Wilhelmsburg machten die Spuren von Hans Leipelt und seiner Familie in ihrem Stadtteil sichtbar. In einem Kooperationsprojekt unter anderem mit Medienpädagogen und Designern recherchierten und konzipierten sie einen digitalen Rundgang mit fünf Stationen. Mithilfe von QR-Codes und Rätseln an den einzelnen Stationen gelangt der Besucher weiter und erfährt zugleich etwas über Hans Leipelt und seine Familie. Der Sohn einer jüdischen Mutter, dessen Vater Direktor der Zinnwerke in Wilhelmsburg war, engagierte sich mit seiner Schwester und seiner Verlobten im Hamburger Zweig der „Weißen Rose“ gegen das Naziregime und verteilte deren Flugblätter in Hamburg.

Nach einer Denunziation wurde er 1945 hingerichtet. „Seine Geschichte hat mich betroffen gemacht, das war echt krass“, sagt Samed Yilmaz (15), der wie viele seiner Mitschüler erst durch das Projekt etwas über Hans Leipelt erfuhr. Nach einer ersten Erkundung von Wilhelmsburger Orten, die mit der Geschichte des Widerstandskämpfers zu tun haben, erarbeiteten die Schüler in mehren Workshops den Rundgang mit fünf Stationen. Der startet bei ihrer Schule, die auch Hans Leipelt und seine Schwester einst besuchten, und endet an den Stolpersteinen für die Familie Leipelt. Die Jugendlichen standen voll hinter diesem Projekt, denn „die Fehler, die damals gemacht wurden, dürfen nicht noch einmal passieren“, sagt Zeynep Erken (15).


Videobotschaft gegen Ausgrenzung und Antisemitismus

Die Schüler Alva, Lino, Carlotta, Malte und Sarah (v. l.).
Die Schüler Alva, Lino, Carlotta, Malte und Sarah (v. l.). © Andreas Laible

Der Anschlag auf einen jüdischen Studenten Anfang Oktober 2020 vor der Synagoge in Eimsbüttel entsetzte Schüler, Lehrer und Eltern des nahe gelegenen Gymnasiums Kaifu gleichermaßen. Der Täter wurde zwar als psychisch krank in die Psychiatrie eingewiesen, trug aber NS-Symbole bei sich, die auf ein rechtsradikales Motiv deuteten. „Dass eine solche Tat fast ein Jahr nach dem Anschlag auf die jüdische Synagoge in Halle in unserer Nähe passierte, hat uns alle schockiert“, sagt Malte Kreyer (17) vom Schulsprecherteam des Gymnasiums Kaifu. Alle in der Schule waren sich einig, ein Zeichen der Solidarität mit der jüdischen Gemeinde zu setzen. Wegen der Corona-Pandemie entschieden sie sich für eine Videobotschaft.

Die sieben Mitglieder des Schulsprecherteams riefen alle Jahrgänge zum Mitmachen auf. Mit Erfolg. Gut 400 Leute machten mit. In vier Tagen erstellten die verschiedenen Schülergruppen selbstständig Videosequenzen, in denen sie gegen Antisemitismus und Rassismus aufriefen und ihr Mitgefühl mit der jüdischen Gemeinde ausdrückten. Im Schulgebäude oder auf dem Pausenhof sprachen die Jugendlichen ihre Statements direkt in die Kamera, zum Teil auch in verschiedenen Sprachen.

Es entstand ein sechsminütiger Film, der Mut macht, sich gegen jede Form von Ausgrenzung zu wehren, und mit den Worten schließt: „Wir stehen hinter euch. Zusammen gegen Antisemitismus. Bleibt stark!“


Interviews mit Zeitzeugen und Familien von Tätern

Die Schülerin Lenya Estherr im Gespräch mit Ruben Herzberg.
Die Schülerin Lenya Estherr im Gespräch mit Ruben Herzberg. © Mattern

Sie brachten persönliche Geschichten von Menschen vor die Kamera, die als Zeitzeugen die NS-Herrschaft überlebten oder die als Angehörige von Widerstandskämpfern oder Tätern offen über die Auswirkungen auf ihre Familien berichteten. 42 Schülerinnen und Schüler der Klosterschule Hamburg und des Helmut-Schmidt-Gymnasiums Wilhelmsburg beteiligten sich an dem Projekt „Familiengeschichten aus der NS-Zeit“. Sie produzierten zehn Videos für die Woche des Gedenkens Hamburg-Mitte 2020.

So sprachen Luisa Radt (15) und Nikita Petlenko (15) von der Klosterschule mit Daniel Rebstock, dessen Eltern als junge Widerstandskämpfer gegen das NS-Regime verhaftet wurden. „Er berichtete, dass seine Eltern keine Gefühle zeigen konnten, weil sie während der Verfolgung gelernt hatten, sie zu unterdrücken“, sagt Luisa. Schülerin Emma Hansen (15) begegnete Ulrich Gantz, dem Angehörigen eines Täters. Erst nach dem Tod seines Vaters erfuhr Gantz, dass sein Vater als Mitglied einer Einsatzgruppe mutmaßlich an Massenerschießungen in Russland beteiligt war. „Es war schwer für ihn, das zu verarbeiten, heute engagiert er sich in der Gedenkstätte KZ Neuengamme“, sagt Emma. Angelina Schott (19) vom Helmut-Schmidt-Gymnasium Wilhelmsburg, die mit der Holocaust-Überlebenden Esther Bejarano sprach, möchte mit ihrem Interview die Geschichte der Jüdin verbreiten, „weil so ein Unrecht nicht wieder geschehen darf“, so Angelina Schott.


Internationales Theaterprojekt in Hamburg und Israel

Schülerinnen und Schüler des Helmut-Schmidt-Gymnasiums.
Schülerinnen und Schüler des Helmut-Schmidt-Gymnasiums. © Hédi Bouden

Innerhalb der Kampagne „Why Should I Care About Your History“, zu Deutsch: „Was geht mich eure Geschichte an?“ nahmen 30 Schülerinnen und Schüler sowie Absolventen des Helmut-Schmidt-Gymnasiums Wilhelmsburg an einem bilateralen Theaterprojekt von deutschen und israelischen Jugendlichen teil. Dazu reisten sie mit ihrem Theaterlehrer Hédi Bouden im Oktober 2019 nach Israel. Sie besuchten das Holocaust-Gedenkzentrum Yad Vashem in Jerusalem und trafen in Tel Aviv mit 20 israelischen Schülern aus der Nähe des Gazastreifens zusammen. Mit ihnen entwickelten und führten sie gemeinsam ein Theaterstück über Fragen zur Identität auf. Beim Gegenbesuch der 20 israelischen Schüler im Januar 2020 standen Performances und eine weitere Theateraufführung an. „Die Begegnung mit den Israelis war sehr spannend, neu war für uns, dass sie täglich mit der Bedrohung von Bomben­angriffen leben. Nachdem wir uns besser kennengelernt hatten, entstanden sogar Freundschaften“, sagt Maryam Winter (18).

Mitschüler Ömer Akif Kilictas (16) nahm die Erkenntnis mit, „dass man nie über einen anderen urteilen sollte, ohne sich vorher seine Geschichte anzuhören.“ Ebenso wichtig wie die Auseinandersetzung mit Antisemitismus und Rassismus findet er das Erinnern an den Holocaust. „Dieser Teil der deutschen Geschichte geht jeden etwas an, daraus können alle lernen, was man tun sollte, damit sich so etwas nicht wiederholt.“

Die Preisträger:

  • Heinrich-Heine-Gymnasium
    Nelia Jürgens, Line Ott, Emanuel und Helena Bohndorf, Muriel Günther, Leon Gustavson, Nikolai Pavlou, Annika Franke, Joshua Borck, Marie Leipolt, Louis Finckh, Jonah Borck, Smilla Weitendorf, Kaya Stöbe
  • Stadtteilschule Wilhelmsburg
    Abeer Taha, Ahdia Qadirzada, Ali Kayman, Brahim Amer, Fatma Gül Tsamli, Florian Piper, Havin Özdemir, Joana Llupi, Juliessa Veith, Kamo Juwara, Kerem Ecer, Mahmoud Alhasan, Narin AmNasiba Assaf, Nezir Saini, Samed Yilmaz, Taha Oezdemir, Tayip Himyen, Velid Bakis, Yigit Ayvas, Zeynep Erken
  • Gymnasium Kaifu
    Jana Kreyer, Alex Winter, Carlotta Latour, Emily Bunk, Sarah Sidi Mohamed, Alva Klauss, Malte Kreyer
  • Klosterschule und Helmut-Schmidt-Gymnasium
    Klosterschule Hamburg: Fatima Shehata, Rio Chismar, Noah Kucziensky, Ida Schmincke; Malyn Borovicka, Julienne Brüggmann, Emma Hansen, Laird Khan, Chiara Möller, Lenya Estherr, Julio Widdel, Tunahan Yilmaz, Oskar Hasse, Ben Necip Rösner, Jakob Dreyer, Florian Leonhard, Bent Löschner, Jonah Luze, Naledi Temler, Zahrah Stibbe, Greta Krug, Janne Böhm, Hannah Dyzmann, Alva Klapp, Alina Meyer, Mathilda Reifenrath, Anneke Rudloff, Nikita Petlenko, Luisa Radt, Pelle Ebel, David Brito und Fred Arndt TheaterAG des Helmut-SchmidtGymnasiums Wilhelmsburg: Narin Bozkurt, Sakina Attalla, Angelina Schott, Duygu Celebi, Elmira Akbarzada, Hewi Amin, Merve Orak, Muhamed Emin Sekertag, Ovhan Itschiev
  • Helmut-Schmidt-Gymnasium
    Zeynep Ak, Eda Akın, Gizem Akgül, Learta Ameti, Valmira Beqiri, Narin Bozkurt, Sirin Bozkurt, Duygu Celebi, Hilal Cevik, Yusuf Cifci, Michael Eduful, Burak Alp Eskici, Omeima Garci, Mirac Ali Gülender, Ömer Akif Kilictas, Abdulehad Seyfullah Kilictas, Habibullah Majidi, Anass Mohammad, Amar Mohlenhoff, Angelina Schott, Muhamed Emin Sekertag, Meltem Sülün, Beray Nil Ulusoy, Ilayda Uncu, Merve Ünlü, Yaren Tarman, Maryam Cirien Winter, Maryam Zara Rayan Winter, Tugce Petek Kilictas, Dogukan Zozik.

Die Förderer:

  • Absalom-Stiftung der Freimaurer, Arbeiter-Samariter-Bund, Behörde für Arbeit, Gesundheit, Soziales, Familie und Integration, Behörde für Schule und Berufsbildung, BürgerStiftung Hamburg, Ernst Deutsch Theater, Freundeskreis KZ-Gedenkstätte Neuengamme, GEW Landesverband Hamburg, Hamburger Abendblatt, Hamburger Volksbank, Howard und Gabriele Kroch Stiftung, Ida Ehre Kulturverein, Johannisloge St. Georg Zur grünenden Fichte, Johannisloge Zu den drei Rosen, Kirchenkreis Hamburg-Ost, Landesjugendring Hamburg e.V., Landeszentrale für Politische Bildung Hamburg, Norddeutscher Rundfunk, Stiftung der Wohnungsbaugenossenschaft von 1904, Studierendenwerk Hamburg, Ver.di Hamburg, Michael Batz, Hans-Juergen Fink, Knut Fleckenstein, Dr. Uwe Franke, Michael Magunna, Michael Reichmann, Helfried Schulke, Ulrich Vieluf, Heidrun Winkler-Zierahn, Axel Zwingenberger, die SchülerInnenkammer, die Elternkammer und die Lehrerkammer Hamburg. Ehrenvorsitzender des Bertini-Preises e.V.: Ralph Giordano (20.3.1923–10.12.2014)