Coronakrise

UKE-Professor: Shutdown in Deutschland schnell lockern

| Lesedauer: 14 Minuten
Referierte in der UKE-Gesundheitsakademie: Prof. Ansgar Lohse.

Referierte in der UKE-Gesundheitsakademie: Prof. Ansgar Lohse.

Foto: Michael Rauhe

14 Wissenschaftler weisen Wege aus der Krise. Der Mediziner Ansgar Lohse ist Mitverfasser. Er fordert eine Herdenimmunität.

Hamburg. 14 Experten der Union der Akademien der Wissenschaften haben sich zusammengetan, um Wege aus dem Corona-Shutdown aufzuzeigen. In dem 30-seitigen Papier raten Ökonomen, Mediziner, Juristen, Psychologen und Ethiker zu einem Stufenplan, um die Beschränkungen des öffentlichen Lebens nach und nach aufzuheben. Das Papier beleuchtet die Lage aus verschiedenen Blickwinkeln und gehört damit zu den wichtigsten Texten zu Corona überhaupt. Es verschließt nicht die Augen vor den Folgen des Shutdowns und dem daraus resultierenden „Anstieg an häuslicher Gewalt, die erhöhte Selbstgefährdung, womöglich eine höhere Suizidrate aufgrund sozialer Isolation“.

Getroffen werde neben den medizinischen Risikogruppen besonders ärmere Menschen, alte Menschen, Menschen mit Behinderungen, Alleinerziehende und Familien mit kleinen Kindern, Alleinlebende, Obdachlose, kranke und psychisch labile Personen. Das Papier wirft Fragen auf, die wenig diskutiert werden: „Die derzeitige Situation mag eine Stunde der Exekutive sein, sie ist aber nicht die Stunde der Rechtlosigkeit oder der Außerkraftsetzung zentraler verfassungsrechtlicher Prinzipien“, heißt es. „Die Zulässigkeit von Grundrechtseinschränkungen unterliegt dem Gebot der Verhältnismäßigkeit.“

Wege aus dem Corona-Shutdown

Und es weist Wege aus dem Shutdown: Der schrittweise Übergang zu einer am jeweils aktuellen Risiko orientierten Strategie, um die erneute rasche Ausbreitung des Erregers weitgehend zu unterbinden und zugleich die natürliche Immunität in der Bevölkerung langsam ansteigen zu lassen. So sollten Sektoren mit niedriger Ansteckungsgefahr, zum Beispiel hochautomatisierte Fabriken schnell wieder öffnen, aber auch die Bereiche der Wirtschaft mit einer hohen Wertschöpfung. Auch Kitas, Schulen und Universitäten könnten recht schnell wieder ihre Arbeit aufnehmen.

Verfasst haben das Papier der Ifo-Chef Prof. Dr. Dr. h.c. Clemens Fuest, der Pharmakologe Prof. Dr. med. Martin Lohse und Prof. Dr. med. Ansgar Lohse, Direktor der I. Medizinischen Klinik und Poliklinik am UKE. Mit ihm sprach das Hamburger Abendblatt.

Hamburger Abendblatt: Das von Ihnen mitverfasste Papier liest sich in diesen Tagen sehr mutig. Dort steht unter anderem der Satz, man dürfe bei den Maßnahmen „nicht allein der Logik eines maximalen Infektionsschutzes folgen“…

Ansgar Lohse: Ich bin Arzt und reflektierender Bürger. Da muss ich die medizinischen und die gesundheitlichen Nebenwirkungen im Blick haben.

Sind diese Nebenwirkungen durch den Schock von Covid-19 bislang zu wenig gesehen worden?

Lohse: Wir wissen, dass Infektionen ungeheure Ängste auslösen, das war historisch so und ist heute nicht anders. Das haben wir in Hamburg auch bei der Ehec-Krise erlebt. Dadurch rückt diese einzelne Infektion nicht nur für die Bürger, sondern auch für die Politik in den Vordergrund – und anderes gerät aus dem Blick.

Sie empfehlen, die Beschränkungen zu lockern …

Lohse: Allmählich und differenziert. Wie das konkret aussieht, muss die Politik entscheiden, wir als Wissenschaftler können nur beraten. Wir müssen beispielsweise nach Regionen unterscheiden - wie hoch sind die Intensivkapazitäten, wie ist die Infektionsrate? Und wir müssen nach Altersgruppen unterscheiden: Sehr schwere Verläufe oder gar Tod sind bei jungen Menschen extrem selten. Da benötigen wir eine gute Rechtfertigung, warum wir Freiheit und Bildungschancen der jungen Menschen so massiv einschränken, wie wir es gerade tun.

In Ihrer Untersuchung heißt es, langfristig könnte sich deshalb das gesellschaftliche Miteinander zwischen den Generationen destabilisieren …

Lohse: Die Maßnahmen sind eine ungeheure Beanspruchung für die Gesellschaft. Und die Gefahr ist groß, dass die Akzeptanz bei zunehmender Dauer abnimmt. Wir müssen immer und immer wieder auf die Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen achten – sowohl auf das infektiologische Geschehen wie auch die Nebenwirkungen für die Gesellschaft.

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Nach zweieinhalb Wochen sind die Nebenwirkungen schon unübersehbar, die Wirtschaft fürchtet eine tiefe Rezession. Wie schwerwiegend sind die medizinischen Nebenwirkungen?

Lohse: Es gibt schon deutliche und zunehmende Nebenwirkungen. Im Krankenhaus haben wir einen wesentlichen Teil unserer ambulanten und stationären Versorgung heruntergefahren und konzentrieren uns sehr stark auf Coronainfizierte. Damit werden Operationen aufgeschoben, Kontrolltermine verlegt, diagnostische und therapeutische Eingriffe verschoben. Die deutschen Universitätskliniken haben alle etwa ein Drittel ihrer Betten im Moment geschlossen, um Kapazitäten, auch Personalkapazitäten für die Coronaversorgung zu schaffen. Das muss Nebenwirkungen haben, die aber heute nur schwer messbar sind. Der Schaden dürfte mit zunehmender Dauer exponentiell wachsen und zu erheblich steigender Morbidität und Mortalität führen. Je mehr wir verschieben, umso schlimmer wird es. Zudem droht uns eine zweite Infektionswelle, die dann mit der Welle der verschobenen Eingriffe zusammenfallen könnte. Hinzu kommt, dass immer weniger Menschen zum Arzt und ins Krankenhaus gehen – und damit eine Verschlimmerung ihrer Leiden droht.

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Solange es keinen Impfstoff gibt, kann nur eine Herdenimmunität die Seuche stoppen. Aber die werden wir so nicht bekommen.

Lohse: Ich fürchte, dass die Heilserwartung an einen Impfstoff zu groß ist. Wir wissen, wie schwierig es ist, einen guten Impfstoff zu produzieren, der effektiv funktioniert und keine schwerwiegenden Nebenwirkungen hat. Für einen effektiven Impfschutz wird es nicht reichen, nur die Risikobevölkerung zu impfen, da diese auf Impfungen schwächer reagiert. Wir müssten also wahrscheinlich die gesamte Bevölkerung durchimpfen, auch die jungen Menschen, die eigentlich von diesem Virus kaum gefährdet sind – da werden die Erwartungen der Bevölkerung an die Sicherheit des Impfstoffes extrem hoch sein. Das wird sorgfältiger und auch langwieriger Testungen bedürfen. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass uns das schon in den nächsten Monaten gelingt. Und weil die Entwicklung und dann auch Produktion eines Impfstoffs lange dauern dürfte, müssen wir verantwortungsvoll einerseits die gefährdete Bevölkerung effektiver als bisher schützen und andererseits zulassen, dass sich in der jüngeren Bevölkerung eine natürliche Immunität gegen das Virus entwickelt.

Wie gelingt das?

Lohse: Wir wissen, dass für Kinder und Jugendliche die Erkrankung milde verläuft oder ganz ohne Symptome. Covid-19 ist eine Erkrankung, die vor allem bei Älteren diagnostiziert wird.

Das wäre ein Argument, Kitas und Schulen schnell wieder zu öffnen …

Lohse: Ja, gerade bei den Kindergärten sind ja auch die Eltern noch nicht in einem Risikoalter. Das kann man aber nur mit der klaren Ermahnung machen, dass diese Kinder dann nicht am Abend die Großeltern besuchen. Der Schutz der Risikobevölkerung muss erhöht werden. Das Virus muss sich bei denen ausbreiten, die wenig gefährdet sind.

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Idealerweise soll sich die Zahl der Neuinfektionen und die Zahl der geheilten Personen die Waage halten, heißt es in Ihrem Papier. In Hamburg haben wir inzwischen weniger Neuinfizierte als Geheilte.

Lohse: Das ist zunächst eine erfreuliche Situation. Mancher mag hoffen, dass Covid-19 nun von selbst wieder verschwindet. Aber das Virus wird wiederkommen. Weltweit gibt es so viele Infizierte, dass die Erkrankung mit hoher Wahrscheinlichkeit irgendwann wieder aufflammt. Sie bekommen den Geist nicht mehr in die Flasche zurück. Am Anfang war das die Hoffnung – und die völlig richtige Strategie.

Heute nicht mehr?

Lohse: Nein, heute nicht mehr, da das Virus so weit verbreitet ist.

Halten Sie die schwedische Strategie für richtig, ohne große Einschränkungen und ohne Schulschließungen eine Herdenimmunität zu erreichen?

Lohse: Die schwedischen Maßnahmen sind meines Erachtens die rationalsten weltweit. Natürlich stellt sich die Frage, ob das psychologisch durchzuhalten ist. Anfänglich müssen die Schweden mit deutlich mehr Todesfällen rechnen, die sich aber mittel- bis langfristig dann deutlich reduzieren. Abgerechnet wird in einem Jahr – wenn die Schweden es durchhalten. Die Angst vor der Virusinfektion zwingt Politiker leider oft zu Handlungen, die nicht unbedingt vernünftig sind. Die Politik ist getrieben, auch durch die Bilder der Medien.

Das werden viele Ihrer Kollegen anders sehen ...

Lohse: Auch die Kollegen sind Menschen, die Ängste haben.

In dem Papier der Akademien der Wissenschaften ist viel von den Folgen der derzeitigen Politik die Rede. Was bereitet Ihnen noch Sorge?

Lohse: Wir wollen die Bevölkerung schützen und tun zugleich manchen Gruppen massiv weh, etwa den Obdachlosen, die weder versorgt noch vor dem Virus geschützt werden. Auch das Homeschooling funktioniert nicht, wenn die Wohnverhältnisse schlecht sind, keine Computer da sind und nicht einmal ein Rückzugsraum existiert. Wir vergessen, wie viele psychische Probleme es in Familien gibt und wie viele Schüler auf eine warme Schulmahlzeit und soziale Betreuung angewiesen sind. Diese Menschen sind nun massiv gefährdet, deshalb fürchten wir erhebliche Bildungsungerechtig­keiten. Entscheidungen, die gesamtgesellschaftliche Folgen haben, müssen wir auch gesamtgesellschaftlich betrachten.

Was muss sich ändern?

Lohse: Wichtig ist eine offene Kommunikation der Risiken und der Chancen. Wir müssen alles vom Ende her denken – wie lange halten wir diese Maßnahmen aus? Wo liegt der Ausweg? Weder eine Impfung noch ein neues Medikament werden in absehbarer Zeit und verlässlich die Gefahr bändigen können.

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Ende April sind wir auf jeden Fall noch nicht damit durch?

Lohse: Nein, je erfolgreicher wir sind, die Infektionsrate zu senken, umso länger wird es dauern, eine Immunität in der Bevölkerung zu erreichen. Es wird schwierig, da einen Mittelweg zu finden. Die Dosierung ist extrem schwierig; entscheidend sind immer die Intensivkapazitäten. Wie viele Patienten können wir versorgen? Da sind wir in Deutschland in einer glücklichen Situation: Kaum ein Land verfügt über so gute Voraussetzungen und Ressourcen, um die Coronapandemie erfolgreich zu bestehen. Deshalb können wir uns hier etwas entspannter bewegen.

Auf welchen Zeitraum müssen wir uns einstellen?

Lohse: Es ist sehr wahrscheinlich, dass wir bis ins nächste Jahr damit zu tun haben, vielleicht auch deutlich länger. Das Pro­blem ist, je effektiver unser Schutz vor Neuansteckungen ist, desto länger wird es brauchen. Eine Rückkehr zur Normalität wird aller Wahrscheinlichkeit nach nur langfristig und mit bedeutsamen Anstrengungen und Kosten erreicht werden können. Vermutlich wird die Infektion in Wellen kommen – und da müssen wir schauen, dass die nächste Welle eben nicht im Herbst kommt. Da haben wir ohnehin viele Infektionen bei den Älteren. Natürlich können wir aber keinen Shutdown bis zum nächsten Frühjahr machen – weder medizinisch noch gesellschaftlich.

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Worauf werden wir besonders lange verzichten müssen? Auf den Besuch im Fußballstadion?

Lohse: Wahrscheinlich sind Großereignisse und Partys noch länger schwierig. Aber auch hier dürfen wir nicht vergessen: Fußball hat in der Gesellschaft eine enorm wichtige emotionale Funktion. Auch da muss man abwägen, wie lange solche wichtigen Dinge blockiert werden dürfen.

Stichwort Sommerurlaub. Ist die Auslandsreise noch realistisch?

Lohse: Die Reisebeschränkungen sind mir schleierhaft – wie auch die Kontrollen an den Grenzen der Bundesländer. Die Durchseuchung in Europa ist mehr oder weniger ausgeglichen. Die Chance, dass mich jemand aus Winterhude ansteckt ist nicht niedriger, als dass es jemand aus Polen oder Irland tut. Grenzschließungen waren anfangs sinnvoll. Jetzt ist es zu spät. Nun kommt es auf Hygiene an.

Sie schlagen vor, das Land in unterschiedlichem Tempo wieder hochzufahren

Lohse: Ja, da liegen auch Chancen in unserem Föderalismus. Denn Deutschland ist ja nicht gleichmäßig betroffen. Das Risiko ist nicht überall gleich – wo es ausreichend Intensivkapazitäten und wenig Infizierte gibt, muss die Kontaktsperre nicht so streng sein. Zugleich könnten weniger belastete Regionen stärker belasteten mehr helfen, gerade auch in der Versorgung von Intensivpatienten.

Womit müssen wir schnell anfangen?

Lohse: Für Hamburg gilt: Wir müssen die gesamte Stadt im Blick haben, die ganze Gesellschaft und das Gesundheitssystem. Und wir dürfen nicht vergessen: Ein starkes Gesundheitssystem ist nur möglich mit einer starken Wirtschaft. Das gehört zusammen: Wir haben diese gute Versorgung eben nur, weil wir ein wirtschaftlich starkes Land sind. Man kann eben Wirtschaft und Medizin nicht wirklich ganz voneinander trennen, auch wenn das manche ungern hören.

Auch der Ethikrat fordert nun eine offene Debatte über Lockerungen. Butter bei die Fische: Wann kann es losgehen?

Lohse: Sofort.

Das Papier im Netz:

https://www.akademienunion.de/fileadmin/redak tion/user_upload/Publikationen/Stellungnahmen/Positionspapier_Corona.pdf

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