Hamburg. Das Quietschen der Schuhsohlen dringt durch die Tür der Sporthalle der Rotheschule in Ottensen. Drinnen wuseln 14 Mädchen, sechs bis sieben Jahre alt, eines hat sich gerade wehgetan, braucht Trost. Ein Kind wartet mit seinem Papa im Flur, traut sich nicht in die Halle. Ein anderer Vater will wissen, wie Spielerpässe elektronisch beim Verband beantragt werden. Mitten im Gewimmel steht ein stämmiger Mann, die Arme vor dem mächtigen Brustkorb verschränkt. Schütteres Haar, Dreitagebart, Ohrring, roter Kapuzenpulli, blaue Trainingshose. „Jetzt kommen wir alle zusammen“, ruft er. Und plötzlich herrscht Stille. Im Kreis lauschen die Mädchen, was ihr Trainer heute plant. Laufspiel, Passübungen, Torschuss-Training, dann ein Spiel.
Wer seit 35 Jahren Mädchenmannschaften trainiert, lässt sich nicht von Hektik anstecken. In seinem Alter erst recht nicht mehr. Am letzten Tag des Jahres wurde der Mann, den bei Altona 93 alle nur „Fritz“ nennen, 80 Jahre alt. In vielen Berichten über so aktive Senioren wie ihn folgt jetzt dieser Einschub: In einem Alter, in dem andere schon im Altenheim leben … Hier hat die Geschichte über den Alten Fritz ihre erste Pointe: Denn Fritz Schönroth lebt tatsächlich seit 2004 in einer betreuten Seniorenwohnanlage.
Sein Berufswunsch war Toningenieur
„Heute, 16 Uhr, Videobewegungsspiele“, steht auf der mit Mahagoniholz umrandeten Schiefertafel am Eingang der Else-Voss-Stiftung in Rissen. Fritz Schönroth hat mit dem Tagesprogramm nichts am Hut. „Eigentlich gehört einer wie ich ja nicht hierher“, sagt er. Und wie zum Beweis zeigt er sein Tattoo, einen Gecko, er hat es sich erst 2012 stechen lassen. Aber bitte, das Leben hier ist halt praktisch. Ein Wohnschlafzimmer, kleine Küche, Dusche, Bad, 33 Quadratmeter, reicht doch. Da hat er schon beengter gelebt. Viel beengter.
„Im Flüchtlingslager haben wir nach dem Krieg mit mehreren Familien in einer Baracke gehaust“, sagt Schönroth beim Termin im Foyer der Anlage mit dem Abendblatt. Die Familie war aus der Nähe von Königsberg mit Pferdewagen über Dänemark in den Westen geflohen.
Schönroth machte 1958 in Braunschweig Abitur, sein Berufswunsch Toningenieur scheitert, weil er keine Partituren lesen kann: „Im Lager hatten wir kein Klavier.“ Stattdessen studierte er in Berlin zunächst Elektrotechnik, wechselte dann an die Pädagogische Hochschule. Die Ostermarschbewegung spülte ihn ins linke Lager. „Wir haben mehr die ‚Rote Zelle Pädagogik‘ gedruckt als studiert“, sagt Schönroth und lacht. 1974 machte er endlich sein Examen.
Er gibt nachmittags privat Nachhilfe
Während mehrere betagte Frauen ihre Rollatoren zum großen Bildschirm in die Ecke des Foyers schieben, um an der Spielekonsole zu kegeln, erzählt Schönroth, wie es ihn in den ostfriesischen Norden verschlug: „Wir Linken wussten, dass wir aus politischen Gründen in der Umgebung von Braunschweig oder Hannover keine Chance auf Übernahme in den Staatsdienst hatten.“
Also Ostfriesland. In die „Schule für Lernbehinderte“, wie das damals hieß. Mit anderen Junglehrern mischt Schönroth den Laden auf. Er gibt nachmittags privat Nachhilfe, um Schüler fit zu machen für einen Wechsel zur Hauptschule. Die Eltern stopfen ein paar Mark in sein Sparschwein als Dankeschön. Schönroth kauft davon Limo und Süßes für gemeinsame Ausflüge. Eine seiner Schülerinnen bringt es später zur Friseurmeisterin mit eigenem Salon, das macht ihn heute noch stolz.
Eines Tages, irgendwann Mitte der 1980er, liegen ein Ballnetz, eine Mappe mit Spielerpässen vor seiner Haustür. Daneben ein Zettel: „Fritz, kannst Du bitte die Mannschaft übernehmen?“
Ihm gefällt das das Miteinander der Mädchen
Schönroth schüttelt den Kopf, als er diese Geschichte erzählt: „Das musst du dir vorstellen, da bin ich auf einmal Trainer einer Mädchenmannschaft.“ Der damals 16-jährige Sascha Sandhorst, dem Schönroth später auch bei dessen Gewissensprüfung zum Kriegsverdienstverweigerer half, hatte seinen Nachhilfelehrer quasi über Nacht zum Cheftrainer befördert. Sascha Sandhorst wollte lieber wieder eine Jungenmannschaft trainieren statt die Mädels des FC Norden. Und so war Schönroth, der zuvor nur ab und an als Co-Trainer die Hütchen beim Training aufgestellt hatte, plötzlich verantwortlich für ein komplettes Team. Zu einer Zeit, als Mädchenfußball noch als exotisch galt. Erst 1970 hatte der DFB das Frauenfußballverbot im Vereinssport aufgehoben.
Seit nunmehr 35 Jahren lässt Schönroth der Mädchenfußball nicht mehr los, seit 2006 trainiert er nun die Altona Deerns. Ihm gefällt das Gefühlige, das Miteinander der Mädchen. „Sie freuen sich wahnsinnig über jedes Tor ihrer Teams, auch wenn es der Treffer zum 1:10 ist“, sagt er. Dass die ganz Kleinen mitunter Hügelchen auf Grandplätzen formen, bevor sie gegen die Kugel treten, geschenkt, auch dafür müsse Zeit sein.
Manchmal wundert er sich, wenn es in der gegnerischen Kabine laut wird, weil der Trainerkollege über Fehler seiner Spielerinnen wütet. Fritz Schönroth sagt selbst nach klaren Niederlagen höchstens mal: „Da hätten wir vielleicht besser aufpassen können.“ Die Mädchen sollen doch aus Freude zum Training und zum Spiel kommen – und keine Angst haben.
„Fritz war immer ein bisschen anders“
Das passt zu Schönroths Menschenbild. Als Junglehrer im Norden packte er mal seine Schüler, fast alle aus armen Familien, in seinen Bulli und fuhr mit ihnen nach Hamburg. Mal große, weite Welt gucken. Der Ausflug verschaffte ihm einen Termin beim Schulrat. Was dieser Trip denn sollte, der Jüdische Friedhof in der Stadt hätte es als Ziel doch auch getan? Schönroth sagte nur: „Da waren wir schon oft. Den kennen die.“
„Fritz war immer ein bisschen anders“, sagt Sascha Sandhorst. Allein der Bulli mit den Gardinen. „Manchmal sind wir zur Einfahrt geschlichen und haben da reingelinst.“ Als Lehrer habe sich Schönroth für die Kinder und Jugendliche eingesetzt wie kein anderer. Sandhorst erinnert sich genau an seine Prüfung zum Altenpfleger: „Ich bekam die Gliederung meiner schriftlichen Arbeit nicht hin.“ Sein alter Nachhilfelehrer übernahm, las Korrektur. Sandhorst glänzte mit der Note 1,5, gehört inzwischen zum Vorstand der niedersächsischen Pflegekammer: „Ich habe dem Fritz sehr viel zu verdanken.“ Zwei Minuten nach dem Telefonat kommt noch diese SMS: „Der Fritz ist ein fantastischer Mensch.“
Bei Altona 93 startete Schönroth 2006 mit vier Mädchen, die sich nach einem Aufruf in der Max-Brauer-Schule trafen. Ein Jahr später kickten 80 Mädchen für Altona 93, aufgeteilt in vier Teams – alle wollten zu Fritz, dem Menschenfänger. An manchen Spieltagen hastete er auf eigene Kosten mit dem Taxi von einem Spiel zum nächsten. Inzwischen hat er ehemalige Spielerinnen in sein Trainerteam geholt, anders wäre das Pensum nicht mehr zu schaffen.
„Der Fritz ist bei uns so etwas wie eine Legende“
Manchmal fragen ihn neugierige Mädchen, warum er denn keine Frau habe? Schönroth würde dann gern den Refrain eines Liedes der Band Fehlfarben summen: „Was ich haben will, das krieg ich nicht. Und was ich kriegen kann, das gefällt mir nicht.“ Aber das würden die Mädchen nicht verstehen. Also brummt er meistens etwas in die Richtung, dass es eben nie gepasst habe. Worauf seine Spielerinnen gern antworten: „Macht ja nichts, wir sind doch deine Familie.“
Bei Altona 93 sind sie heilfroh über ihr Familienmitglied. „Der Fritz ist bei uns so etwas wie eine Legende“, sagt Vorstandschef Dirk Barthel. Dirk Fischer, Präsident des Hamburger Fußballverbands (Interview rechts), hält den Dienst an der Gesellschaft von Ehrenamtlern wie Schönroth für unbezahlbar.
Unbezahlbar passt. 40 Euro kriegt Schönroth im Monat, das deckt gerade die Fahrtkosten zum Training und zu Spielen. „Mir ist das egal, ich nage nicht am Hungertuch“, sagt Schönroth. Umso mehr freut er sich, dass auch seine Assistentinnen 40 Euro bekommen: „Müssen sie nicht in einer Eisdiele arbeiten.“
Sein Trainerhonorar investiert Schönroth in Süßigkeiten und Sticker. Nach jeder Übungseinheit öffnet der Trainer die Klappbox mit Fruchtgummis. Noch größer ist der Andrang, wenn er die Aufkleber verteilt. Die Mädchen kleben sie stolz in ihre Heftchen, der Beleg, dass sie fleißig trainiert haben.
Notfalls komme mit dem Rollator zum Training
Und vielleicht, ganz vielleicht, schafft am Ende ein Talent den Sprung in eine ambitionierte Frauenfußballmannschaft. Das wäre für Frauenfußballfan Schönroth das Größte: „Wenn ich die Wahl hätte zwischen einem Champions-League-Finale in Barcelona oder einem Spiel in der Frauen-Bundesliga, würde ich immer zum Frauenspiel fahren.“ Ihn nervt, dass der Frauenfußball medial kaum eine Rolle spielt: „Auch das Abendblatt schreibt lieber über die 17. Klasse der Männer als über die Frauen-Regionalliga.“
Bleibt am Ende die Frage, wie lange er diesen Job noch machen will. Ab und an zwackt das Knie, Folge eines Kreuzbandrisses in jungen Jahren, als Schönroth in Salzgitter in der Kreisliga kickte. Aber zum Vormachen von Finten beim Dribbeln und für Torschüsse reicht es allemal. Der Alte Fritz denkt nicht ans Aufhören: „Notfalls komme ich mit dem Rollator zum Training.“
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