Hamburg. Rechtsmediziner Klaus Püschel vom UKE arbeitet seit Jahren auch im Ausland. Oft wird er nach Kriegen wie in Ruanda gerufen.

Er hat schon Tausende Tote zum Sprechen gebracht. Die Leichname von außen und von innen genau betrachtet, analysiert, gewogen, vermessen. „Auf Herz und Nieren prüfen“ ist bei Klaus Püschel durchaus wörtlich zu nehmen. Wenn der Rechtsmediziner seine Arbeit beendet hat, weiß er, wann und woran ein Mensch gestorben ist, ob der Tod schnell kam oder langsam mit großen Qualen. Ob es ein Unglück war oder ob die Polizei Mörder suchen muss. Er hat dem Leichnam alle Geheimnisse entlockt.

„Kein Toter ist mir fremd“, sagt der Rechtsmediziner deshalb. Es ist aber auch ein Satz, der eine weitere Bedeutung hat. Weltumfassend, gewissermaßen. Denn Püschels Fachwissen und die Expertise des Instituts für Rechtsmedizin am UKE, dessen Direktor er seit 1991 ist, ist nicht nur in Hamburg oder im Bundesgebiet gefragt, sondern immer wieder in der Fremde, auf der ganzen Welt.

In Ruanda in kurzer Zeit mehr als eine Million Menschen getötet

Püschel und sein Team waren beispielsweise im Kosovo, in Ägypten und in Syrien im Einsatz sowie in Portugal. Er half vor Jahren, einen Voodoo-Mord in Benin zu klären und arbeitete mit anderen Experten in Skandinavien zusammen. Hamburger Rechtsmediziner arbeiteten nach dem Tsunami in Thailand. In diesem Frühjahr führte außerdem ein Auslandseinsatz nach Äthiopien.

Und vor Kurzem erst ist der 67-Jährige aus Ruanda im Herzen Afrikas zurückgekehrt. „Dort sind wir Hamburger Rechtsmediziner seit mittlerweile 14 Jahren regelmäßig tätig“, erzählt Püschel. „Wir übernehmen unter anderem die Ausbildung von Rechtsmedizinern. Und vor allem beteiligen wir uns an der Aufarbeitung des Genozids.“ Ruanda, im Herzen Afrikas gelegen, war im Jahr 1994 Schauplatz eines der schlimmsten Massenmorde der jüngeren Geschichte. Innerhalb von 100 Tagen waren mehr als eine Million Menschen getötet worden. Die Opfer gehörten überwiegend den Tutsi an, einer Minderheit, die von Angehörigen der Hutu-Mehrheit unter anderem mit Äxten und Macheten niedergemetzelt wurden.

In Ruanda engagiert sich die Hamburger Rechtsmedizin seit vielen Jahren. Für die Stadt Murambi, wo im Jahr 1994 ein Massaker stattfand, haben die Rechtsmediziner mitgeholfen, ein Mahnmal aufzubauen.
In Ruanda engagiert sich die Hamburger Rechtsmedizin seit vielen Jahren. Für die Stadt Murambi, wo im Jahr 1994 ein Massaker stattfand, haben die Rechtsmediziner mitgeholfen, ein Mahnmal aufzubauen. © Klaus Püschel | Klaus Püschel

Tote in Ruanda wurden mit Kalk bestreut und mumifiziert

„Never forgotten“ – niemals vergessen: Das ist das Motto und zugleich der Anspruch, mit dem der Opfer des Genozids gedacht werden soll. So zum Beispiel in Murambi. In der Nähe des Ortes hatten rund 50.000 Tutsi Zuflucht in einem Schulkomplex gesucht. Es wurde zum Schlachthaus. Nur acht Stunden hatten Hutu-Milizen am 21. April 1994 gebraucht, um die Opfer zu ermorden. „Später ist auf die Identifizierung von Toten verzichtet worden“, erzählt Püschel.

„Die Leichname wurden bewusst anonym in Massengräbern bestattet. Und das gilt bis heute. Aber zur Erinnerung an den Genozid haben wir die Gedenkstätte in Murambi in außergewöhnlicher Weise neu gestaltet.“ Für dieses Mahnmal wurden 20 Leichname ausgewählt, darunter neun Kinder, die stellvertretend für alle Opfer in gläsernen Särgen ausgestellt werden sollten – eine bedrückende und zugleich eindrucksvolle Gedenkstätte. „Wir waren an der Herrichtung der Toten beteiligt. Wir haben sie präpariert und konserviert.“

Gedenkstätte zum 25. Jahrestag des Massakers eingeweiht

Nach dem Massaker waren zunächst zahlreiche Tote, um die Körper möglichst gut zu erhalten, mit einer Kalkschicht überzogen worden. So boten sich die Leichname nun den Rechtsmedizinern dar: weiße, mumifizierte Körper in unterschiedlichen Körperhaltungen, mit ganz unterschiedlichen Verletzungen. Da war zum Beispiel der Mann, dem in die Fersen gehackt wurde, wohl um seine Flucht zu verhindern, und der dann mit Äxten oder Beilen am Kopf traktiert wurde.

Und da war das kleine Mädchen, dessen mumifizierter Leichnam noch einen orange-roten Pullover trug. Das Kind wurde durch Hiebe gegen den Kopf mit einem scharfen Gegenstand ermordet. Die Toten wurden nun mithilfe der Rechtsmediziner sowie von Restauratorinnen aus dem niedersächsischen Landesamt für Denkmalpflege fachmännisch konserviert und aufbereitet. Zum 25. Jahrestag des Massakers wurde die Gedenkstätte schließlich feierlich eingeweiht.

Das Mahnmal zeigt konservierte Leichname, die schließlich in Glassärgen ausgestellt wurden
Das Mahnmal zeigt konservierte Leichname, die schließlich in Glassärgen ausgestellt wurden © Klaus Püschel | Klaus Püschel

Der erste größere Einsatz war auf den Balkan

Schon früher waren die Rechtsmediziner an der Aufarbeitung von Massenmorden beteiligt. „Bei krisenhaften Entwicklungen und Nachkriegsgesellschaften kommt der Rechtsmedizin eine sehr spezielle und weit gehende Bedeutung zu“, betont Püschel. „Nämlich wenn es darum geht, den inneren Frieden wiederherzustellen und Rechtssicherheit zu gewährleisten – und die Verletzungen der Toten zu rekonstruieren und den Menschen die Überreste ihrer Angehörigen – identifiziert – zurückzugeben.“

Der erste größere Einsatz führte die Rechtsmediziner auf den Balkan. Das war nach den Jugoslawien-Kriegen, die von 1992 bis 1995 wüteten und etwa 130.000 Todesopfer forderten. „Ein Team von uns war im Kosovo und eins in Kroatien, in Srebrenica und Umgebung“, erinnert sich der Experte. „Es ging um die Identifizierung der vor Ort Getöteten. Die Leichname waren ursprünglich in Massengräbern verscharrt worden und wurden mehrfach umgebettet. Es war ein riesiges Durcheinander.“ Damals spielten sogenannte Effekten eine Rolle, also persönliche Gegenstände, Kleidung, Schmuck, Ausweispapiere.

Erste Labore für DNA-Untersuchungen in Srebrenica

„Im Kosovo haben wir viele Fälle dadurch gelöst, dass es auf Sammelplätzen Ausstellungen gab, etwa von Kleidung, die wir von den Leichnamen geborgen haben.“ Dann kamen Angehörige, die beispielsweise sagten: Das gehört zu unserem Bruder.“

In Srebrenica sei die Identifizierung „vergleichsweise mühsam“ gewesen, erinnert sich der Rechtsmediziner. „Die Toten waren fortgeschritten zersetzt und auch zerteilt, weil sie mehrfach umgebettet worden waren. So konnte zudem die Kleidung nicht ohne Weiteres zugeordnet werden, auch andere Spuren waren vernichtet.“ Hier wurde erstmals erprobt und später perfektioniert, dass Labore für DNA-Untersuchungen eingerichtet wurden.“ DNA-Untersuchungen haben später eine immer größere Rolle gespielt. Noch heute arbeiten internationale Teams daran, die Toten auf dem Balkan zu identifizieren. Bei Massenkatastrophen, sei es durch Krieg, Unwetter oder beispielsweise einen Flugzeugabsturz, erfolgt die Arbeit der Experten stets in Koordination mit dem BKA.

2005 waren elf Mitarbeiter in Thailand und in Sri Lanka

„Unser nächster größerer Einsatz erfolgte nach dem Tsunami Ende Dezember 2004“, sagt Rechtsmediziner Püschel. „Es war eine besondere Herausforderung, dass es so viele Tote gab. Es waren Tausende aus ganz unterschiedlichen Ländern.“ Über das Jahr 2005 verteilt waren elf Mitarbeiter des Hamburger Instituts in Thailand und in Sri Lanka. „Die Toten lagen teilweise über Tage am Meeresstrand. Es wurde zunächst versucht, die Leichname mit Trockeneis zu kühlen.“ Später wurden Kühlcontainer bereitgestellt. Doch da hatten die Sonne und sehr heiße Temperaturen den Körpern schon sehr weit zugesetzt.“ Teilweise sei es schwierig gewesen, auch nur die Ethnie festzustellen.

Um die Toten möglichst zu identifizieren, halfen die Experten bei der Sicherung von Fingerabdrücken, Tätowierungen und Narben wurde genau dokumentiert, der Zahnstatus festgestellt. Gegebenenfalls werden die Leichname auch obduziert, weil Herzschrittmacher oder Prothesen eine Identifizierung ermöglichen können. Oder es werden Zellen aus Blut, Organen oder Knochen für DNA-Analysen extrahiert. „Letztlich war es ein großer Erfolg, weil von den 550 Deutschen, die vermisst wurden, mehr als 520 identifiziert werden konnten.“

Nach Ende des Krieges auch nach Syrien gehen

Es gab auch Auslandseinsätze, bei denen Hamburger Rechtsmediziner gelehrt und geübt haben, so zum Beispiel in Syrien und Ägypten. „In Syrien bin ich über eine Dauer von 15 Jahren immer wieder gewesen, habe dort gearbeitet und auch viele syrische Ärzte ausgebildet“, berichtet der Experte. „Deshalb bin ich gedanklich auch darauf eingestellt, nach dem Ende des Syrien-Krieges in das Land zu gehen, zur Identifizierung und Feststellung von Verletzungsmustern und Todesursachen.“

In Portugal dagegen untersuchte Püschel den Leichnam eines Verbrechers. Einer der Männer, die im Jahr 1996 den Hamburger Mäzen und Wissenschaftler Jan Philipp Reemtsma entführt hatten, war 2014, Jahre nach Verbüßung seiner Gefängnisstrafe, an die Algarve gereist und dort von einer hohen Klippe ins Meer gestürzt. Doch ob er gestoßen und so getötet wurde oder ob es sich um einen Suizid handelte, konnte an dem Leichnam des 72-Jährigen nicht mehr festgestellt werden. „Jedenfalls sprach keine der zahlreichen Verletzungen dagegen, dass er sich nicht auch selber umgebracht haben könnte“, erzählt Püschel.

Einsatz nach Flugzeugabsturz mit 157 Toten in Äthiopien

Um einen Toten im politischen Umfeld ging es bei einem Einsatz in Benin. In dem afrikanischen Land ist Voodoo Staatsreligion, der Glaube an Geister, Rituale und Opferkulte allgegenwärtig. 2010 war ein hoher Beamter des Landes verschwunden. Weil dieser Mann zuvor die Regierung hart kritisiert hatte, kam der Verdacht auf, die politische Spitze Benins habe den Beamten für alle Zeiten mund-tot machen wollen. Schließlich wurde eine Leiche im Hinterhof eines Voodoo-Magiers gefunden.

Püschel musste den Leichnam unter ungewöhnlichen Bedingungen obduzieren – unter freiem Himmel und bei fast 40 Grad im Schatten, bewacht von Männern mit Maschinenpistolen. Dem Rechtsmediziner gelang die Identifizierung des Toten, der Opfer eines Voodoo-Mordes geworden war. Damit war die Regierung entlastet.

Bisher letzter Einsatz in Äthiopien nach Flugzeugabsturz

Der bisher letzte Auslandseinsatz der Rechtsmediziner erfolgte im März dieses Jahres nach dem Absturz einer Passagiermaschine in Äthiopien, bei dem alle 157 Menschen an Bord getötet wurden. „Die Maschine hatte sich tief in den Wüstensand gebohrt. Durch die enorme Wucht des Absturzes waren von den Menschen an Bord nur noch kleinste Teile übrig“, erzählt Püschel. Die Aufgabe der Ärztin, die für die Rechtsmedizin nach Äthiopien gereist war, war es, Leichenteile aus dem Wüstensand herauszusuchen und möglichst zuzuordnen.

Letztlich sind alle Passagiere an Bord der Maschine für tot erklärt worden. „Dabei hat man sich ausschließlich nach der Passagierliste orientiert. Sterbliche Überreste wurden bisher nicht weitergehend zugeordnet“, sagt Püschel. „Wenn da ein blinder Passagier dabei gewesen wäre, würde das nicht festgestellt.“ Äthiopien besitze keine Labors, die DNA-Untersuchungen an kleinsten Teilen durchführen können.

„Deshalb wurde das Material zunächst nur gesichert, asserviert und kühl gelagert. Inwieweit es später DNA-Untersuchungen geben wird, muss die äthiopische Regierung entscheiden.“ Sehr viel differenzierter sei man beispielsweise im Jahr 2001 nach der Katastrophe von 9/11 am World Trade Center in New York vorgegangen. „Wenn man Vergleichs-DNA -hat, können auch kleinste Gewebefetzen identifiziert werden. Damals wurde wirklich jedes Leichenteil identifiziert.“

Bettina Mittelacher und Klaus Püschel haben gemeinsam drei Bücher geschrieben: „Tote lügen nicht“, „Der Tod gibt keine Ruhe“ und „Tote schweigen nicht“. Sie sind erhältlich in der Hamburger-Abendblatt-Geschäftsstelle, Großer Burstah 18–32, Öffnungszeiten: Mo–Fr 9–19 Uhr, Sa 10–16 Uhr oder bestellbar unter www.abendblatt.de/shop oder per Telefon 040/33 36 69 99 (Preise zuzügl. Versandkosten).