Compiègne/Paris. Eben noch blicken Angela Merkel und Emmanuel Macron ernst auf die Gedenkstätte für die Opfer des Ersten Weltkriegs vor 100 Jahren. Als ein Jugendchor die Europahymne anstimmt, hellen sich ihre Mienen auf. Beide lächeln den Sängern zu. Wenige Minuten später laufen die Bundeskanzlerin und der französische Präsident zu einer Gruppe von 40 deutschen und französischen Schülern, die als Gäste der Zeremonie geladen waren. Keine zehn Meter von hier stand der Eisenbahnwaggon, in dem am 10. November 1918 der Waffenstillstand zwischen Deutschland und Frankreich unterzeichnet wurde. Compiègne bei Paris ging damit in die Geschichte ein. Am Sonnabend reden die Kanzlerin, der Präsident und die Jugendlichen genau dort über Krieg und Frieden im Jahr 2018.
„Welche Botschaft können Sie uns Jugendlichen für Europa geben?“, will die 18-jährige Josepha Bakalow vom Europäischen Gymnasium Bertha von Suttner in Berlin von Macron wissen. Sie trägt ein schwarz-weißes Ringelkleid und Jeans und schaut dem Präsidenten direkt in die Augen. „Unser Europa hat seit 73 Jahren Frieden. Deutschland und Frankreich haben beschlossen, ihre Zukunft und Sicherheit zusammen zu gestalten“, antwortet der Chef des Élysée-Palasts. „Die Botschaft angesichts der im Ersten Weltkrieg Gefallenen lautet: Nie wieder so etwas. Wir müssen die Jugend beider Länder ermutigen, gemeinsame Projekte anzupacken.“ Auch Merkel schaltet sich ein. „Es liegt in eurer Hand. Dafür lernt ihr und eignet euch Fremdsprachen an“, sagt sie. In ihrem Blick liegt eine Mischung aus Aufmunterung und Mahnung.
Josepha gehört zu den 40 Schülern aus Deutschland und Frankreich. Die Funke Mediengruppe und ihre französische Partnerzeitung „Ouest-France“ hatten die Reise zu den Schlachtfeldern im ostfranzösischen Verdun und an den Ort des Waffenstillstands in Compiègne organisiert. Gemeinsam sollten die Gymnasiasten an die Frontlinie fahren, an der sich ihre Urgroßväter – oft nur wenige Jahre älter – aufs Bitterste bekämpft hatten.
Kein Selfie mit einem Flüchtling, bitte
Als der aus Syrien stammende Ali Jarjanazi die Kanzlerin um ein Bild mit ihm bittet, zuckt diese kurz zusammen. Das Selfie mit einem syrischen Migranten 2015 hatte ihr auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise viel politischen Ärger eingebracht. „Dann machen wir mit allen Schülern zusammen ein Foto. So hat jeder etwas davon“, betont sie.
Ali ist 17, lebt seit dreieinhalb Jahren in Deutschland und geht auf die Karl-Volkmar-Stoy-Berufsschule im thüringischen Jena. Sein Schicksal zeigt, dass die Folgen der Konflikte, die Tausende Kilometer von Deutschland entfernt wüten, bis vor unsere Haustür reichen. Ende 2012 ist der syrische Bürgerkrieg auch in Alis Heimatstadt Hama aufgeflammt.
Fluchtgeschichte von Ali
An einem trüben Wintertag ging der damals Elfjährige mit Freunden auf die Straße vor seinem Haus. Die Jungen wollten nachschauen, ob sich die Kämpfe zwischen Regierungstruppen und Regimegegnern beruhigt hatten. Als Ali auf dem Boden eine Cola-Flasche sah, hob er sie auf. Was er nicht wusste: Die Flasche war mit Sprengstoff gefüllt. Die Explosion riss ihm beide Hände weg, zudem verlor er ein Auge. Seine Flüchtlingsodyssee führte ihn erst in die Türkei, später mit dem Schlauchboot nach Griechenland und über die Balkanroute nach Deutschland.
Ali spricht fließend Deutsch, hat einen wachen Blick und wirkt abgeklärt. Seine Frage an die Kanzlerin: „Können Sie den arabischen Präsidenten erklären, was man tun kann, damit es keinen Krieg mehr gibt?“ Merkel denkt kurz nach und entgegnet dann: „Man muss Menschen immer wieder auffordern, miteinander zu sprechen. Gerade aus der syrischen Perspektive muss man irgendwann den Punkt finden, auch einander zu vergeben.“
Wie lange der Weg von Krieg bis Versöhnung dauern kann, wird den Schülern bereits am Freitag auf den Schlachtfeldern von Verdun vor Augen geführt. Dort, wo früher das Dorf Fleury-devant-Douaumont stand, herrscht heute eine gespenstische Stille. Der Wind spielt mit den goldgelben Blättern an den Bäumen. Der von lauter Mulden durchzogene Boden ist mit Laub bedeckt. Die kleinen Bodensenken sind Granattrichter, die früher sechs Meter tief waren. In der Erde befinden sich noch immer die Gebeine von Tausenden deutschen und französischen Soldaten, die vor mehr als 100 Jahren im Ersten Weltkrieg in einem brutalen Artilleriegefecht gegeneinander kämpften.
Gymnasiastin aus Ohlstedt ist ergriffen
60 Millionen Geschosse hagelten auf eine Fläche von 20 mal 20 Kilometern. „Hier wurden die Zukunftswünsche der jungen Soldaten begraben. Das ist unheimlich ergreifend“, sagt die 18-jährige Olivia-Luisa Minkwitz vom Gymnasium Ohlstedt in Hamburg. Auch auf dem Friedhof von Douaumont, wo 16.000 weiße Steinkreuze auf den Gräbern von französischen Soldaten stehen, hat sie ein beklemmendes Gefühl. „Plötzlich ist man mittendrin im Krieg“, meint die 16-järige Valentina Schmidt-Grimminger, ebenfalls vom Gymnasium Ohlstedt.
Vom 21. Februar bis zum 19. Dezember 1916 dauerte die „Schlacht der 300 Tage und 300 Nächte“, von vielen als „Hölle von Verdun“ bezeichnet. Rund 500.000 Soldaten wurden getötet, 400.000 verwundet. Während des gesamten Ersten Weltkriegs kamen rund 15 Millionen Menschen ums Leben.
Olivia-Luisas Urgroßvater Eugen Sautter war im nordfranzösischen Valenciennes und im belgischen Hollebeke an der Front. Die Familie bewahrt noch heute seine Feldpost in Sütterlinschrift aus der damaligen Zeit auf. In einem der Briefe an „meine lieben Eltern“ klagt er über die trostlose Zeit im Schützengraben: „Kohldampf schieben, dass einem der Hunger zu den Augen rausschaut, und da soll man noch Vaterlandsliebe haben.“
Olivia-Luisa fühlt sich mit Uropa verbunden
In Verdun fühlt sich Olivia-Luisa ihrem Uropa „sehr verbunden“. Dass es in Europa wieder zu einer großen Schlacht kommen könnte wie vor 100 Jahren, glaubt sie nicht. Die heutigen Gefahren seien „digitale Bedrohung“, „Datendiebstahl“ und „Terrorismus“. Europa sieht sie als Ort der Hoffnung.
Die Ideen von Frankreichs Präsident Macron – „grenzenloses Arbeiten und die gegenseitige Anerkennung von Hochschulabschlüssen in EU-Ländern“ – findet sie toll. Olivia-Luisas Gymnasium hat den Status einer Europaschule, in der etliche Fächer auch auf Englisch unterrichtet werden. Die 17-jährige Annika Christin Penack, die die gleiche Schule besucht, hat einen Traum: „Eine gemeinsame europäische Identität, das wäre super.“
Aus Frankreich berichten neben Michael Backfisch: Johanna Rüdiger, Caroline Rosales, Jörg Quoos und Reto Klar.
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