Hamburg. Jede Woche beantwortet das Abendblatt eine der 100 großen Fragen des Lebens. Teil 1: Die wichtigsten Antworten für Väter und Mütter.

Die 100 großen Fragen des Lebens zu beantworten, ist eine riesige Aufgabe. Das Hamburger Abendblatt beginnt heute damit. Jeden Sonnabend werden wir künftig versuchen, eine Frage mit Hilfe von Professoren und Experten der Universität Hamburg zu klären. Erster Gesprächspartner ist Uni-Präsident Dieter Lenzen, von Haus aus Erziehungswissenschaftler. Los geht es: Was ist gute Erziehung?

Wenn man selber Kinder hat, hat man zur Erziehung unzählige, auch sehr konkrete Fragen. Ich hoffe, sie werden nicht zu konkret. Nummer eins: Darf man als Eltern ein Kind anschreien und wenn ja, was bringt das?

Dieter Lenzen: Man darf das nicht gezielt machen, nur um das Kind zu erschrecken. Aber das Kind muss die Eltern ja auch so erleben, wie sie sind. Und wenn ich mich wirklich aufrege oder Angst habe, dann darf das Kind das auch sehen. Mit anderen Worten: Man kann sich nicht ununterbrochen kontrolliert verhalten, das wäre unmenschlich.

Beruhigend. Was mache ich umgekehrt, wenn mein Kind mich anschreit oder sogar beleidigt? Wenig tut so weh, als wenn ein Kind Sätze sagt wie „Ich wünschte, ich hätte einen anderen Vater“ oder „Ich hasse Dich“.

Lenzen: Das Kind, das so etwas sagt, weiß, dass es die Eltern damit treffen kann. Das ist aber keine Beleidigung, sondern ein Ausdruck von Empörung über etwas. Ich würde an dieser Stelle fragen, was es damit meint. Es ist doch ein wunderbarer Gesprächsanlass, einmal über Liebe und Hass zu reden und was das wirklich bedeutet.

Was mache ich, wenn mein Kind etwas nicht tut, worum ich es mehrfach gebeten habe?

Lenzen: Sie müssen als Eltern ihre eigenen Grenzen des Hinnehmbaren definieren, damit das Kind versteht, was es machen kann und was nicht und wo es ihre Toleranzgrenze überschreitet. Und Sie müssen ihm erläutern, warum es etwas tun soll. Wenn Sie wollen, dass es etwa das Handy weglegt, dann könnten Sie zum Beispiel sagen: Was würdest du davon halten, wenn du etwas von mir möchtest und ich die ganze Zeit nur auf mein Handy gucken würde? Das fändest du doch auch respektlos. Das würde dich traurig machen, wenn du nicht beachtet wirst.

Heißt was?

Lenzen: Wenn das Kind Sie das nächste Mal um etwas bittet, reagieren Sie einfach auch nicht oder erst dann, wenn es mehrfach nachgefragt hat. Dann erlebt es einmal selbst, wie so etwas ist.

Anderes Beispiel: Die Kinder benutzen das Bett trotz Verbots als Trampolin. Irgendwann reicht es mir, und ich reiße sie einfach herunter. Alles falsch gemacht?

Lenzen: Erstmal würde ich gern wissen, was Sie dagegen haben, dass Ihre Kinder Ihr Bett als Trampolin nutzen.

Das ist nicht gut für das Bett.

Lenzen: Haben Sie so billige Betten? Das scheint mir ein vorgeschobenes Argument zu sein.

Na gut: Die Kinder sollen schlafen gehen.

Lenzen: Sie sehen, es kommt auf das Motiv an, das hinter einem Verbot steht. Manche Motive sind legitim, andere sind es nicht. Wenn Sie einfach nur Ihre Ruhe haben wollen, dann sollten Sie das auch genau so sagen und nicht so tun, als könne das Bett kaputtgehen. Ich setze bei der Erziehung sehr auf die Vernunft der Kinder.

Wie lange darf man als Erwachsener mit einem Kind diskutieren, dass es endlich vom Bett runterkommt, bevor man sich lächerlich macht?

Lenzen: Sie haben als Erwachsener ja viele In­strumente, außer der Ausübung von Gewalt, auf die wir gern verzichten wollen. Sie können sich betroffen zeigen vom Verhalten der Kinder. Sie können weggehen. Und sie können beim nächsten Mal, wenn die Kinder etwas von Ihnen wollen, sagen: Nein, das mache ich jetzt nicht. Nur Befehle zu geben, hat nichts mit Erziehung zu tun, sondern mit Machtausübung. Davon halte ich wenig. Eltern sollten versuchen, ihren Kindern möglichst auf Augenhöhe zu begegnen.

Wie schafft man es, dass Kinder einigermaßen gesittet essen und am Tisch sitzen bleiben?

Lenzen: Was bezwecken Sie damit, dass Ihre Kinder gesittet essen? Ich unterstelle jetzt, dass Sie die Sorge haben, dass Ihre Kinder zu wenig essen, weil sie nicht am Tisch sitzen bleiben oder abgelenkt sind.

Zum Beispiel.

Lenzen: Ich kenne keine Kinder, die verhungert sind, weil sie abgelenkt waren. Kinder versorgen sich in der Regel mit dem Essen, das sie brauchen, es sei denn, sie sind schwer psychisch gestört, also etwa magersüchtig.

Bei einem Urlaub habe ich vor Kurzem viele Kinder im Hotel-Restaurant gesehen, die während des Essens Filme auf Tablets gesehen haben.

Lenzen: Das darf nicht sein. Gemeinsame Mahlzeiten in der Familie sind nämlich der entscheidende Anker für soziale Lern- und für Erziehungsprozesse. Sie sind sehr wichtig dafür, dass Kinder in der Familie Beziehungen aufbauen können und sich wohlfühlen im Leben.

Wie kann man Kinder dazu bringen, nicht nur Nudeln und Würstchen zu essen?

Lenzen: Man muss wissen, dass die Geschmacksnerven von Kindern sehr viel empfindlicher sind als unsere eigenen. Das, was Sie als fast nicht schmackhafte Nudeln empfinden, kann für die Kinder schon sehr lecker sein …

Das erklärt, warum mein jüngster Sohn so oft Nudeln ohne alles isst … Ich benutze als Vater sehr oft Wenn-dann-Sätze und befürchte, die bringen nichts, wenn das „dann“ in der Regel ausfällt.

Lenzen: Natürlich nicht. Was sagen Sie denn dann?

Ich sage zum Beispiel: Wenn du jetzt nicht ins Bett gehst, spiele ich morgen mit dir kein Tennis.

Lenzen: Was ja schon Quatsch ist, weil zwischen dem Insbettgehen und dem Tennisspielen kein Zusammenhang besteht. Es gibt in der Erziehungswissenschaft eine Theorie der logischen Bestrafung. Sie geht von folgendem aus: Wenn man etwas erreichen will, was das Kind tun soll, muss die „natürliche“ Folge, wenn es das nicht tut, sofort eintreten. Ich muss aus dem, was ich verhindern will, eine logische negative Konsequenz für das Kind ableiten. Sonst denkt das Kind, schlau wie es ist: Der will das nur einfach nicht.

Nennen Sie mal ein Beispiel.

Lenzen: Nehmen wir an, das Kind will unbedingt den Schnaps probieren, der auf dem Tisch steht. Dann sage ich: Gut, steck mal die Zunge rein. Das macht es dann genau einmal und hat seine Lektion gelernt. Weil die logische Konsequenz aus dem Fehlverhalten sofort spürbar war.

Anderes, nicht seltenes Problem: Wie reagiere ich, wenn mein Kind mit fünf oder sechs Jahren nachts immer wieder in die Hose macht?

Lenzen: Das ist nicht normal und deutet auf eine Störung im Alltag des Kindes hin. In die Hosen zu machen ist ein Weg, auf sich aufmerksam zu machen, weil die Eltern eine nasse Unterhose schwer ignorieren können. Sie müssen versuchen, herauszufinden, warum das passiert ist.

Also frage ich das Kind: Warum hast du in die Hose gemacht?

Lenzen: Nein, das ist bestenfalls ein Einstieg in ein Gespräch, das bitte frei von Vorwürfen sein sollte. Man kann versuchen, das selbst herauszufinden. Wenn das ein nachhaltiges Problem ist, sollte man damit zum Kinderarzt gehen.

Welche Rolle spielen dabei Ängste? Kinder stehen ja gern mal nachts an Mamas und Papas Bett und wollen dort schlafen.

Lenzen: Erst einmal würde ich das ernst nehmen, weil man sich Ängste normalerweise nicht ausdenkt. Reagieren Sie so, wie Ihr Gefühl in dem Moment ist, das ist meist richtig: Wer Angst hat, muss getröstet werden.

Wie wichtig sind für Kinder gerade beim Einschlafen Rituale?

Lenzen: Sehr wichtig, weil sie Zuverlässigkeit signalisieren und einen stabilen Rahmen schaffen. Wenn das Kind auf die Welt kommt, hat es ja überhaupt kein Zeitgefühl, das entwickelt sich erst zwischen vier und sechs Jahren. Deshalb braucht es abends einen geregelten Ablauf.

Was halten Sie von Erziehungsratgebern, die so etwas versprechen wie „Jedes Kind kann schlafen lernen“?

Lenzen: Es gibt sicher gute Erziehungsratgeber. Aber der durchschnittliche Mensch weiß instinktiv, was richtig ist. Und deshalb appelliere ich gern an alle Eltern: Macht euch nicht immer so viele Sorgen. Wussten Sie, dass in keinem anderen Land so viele Erziehungsratgeber verkauft werden wie in Deutschland?

Warum ist das so?

Lenzen: Die Deutschen neigen dazu, sich zu allem ein Buch zu kaufen. Dabei sollten sie sich gerade bei der Erziehung ihrer Kinder vor allem auf sich selber verlassen.

Oder auf Gespräche wie dieses. Meine Kinder mögen nichts so wenig wie Zähneputzen, obwohl ich ihnen jeden zweiten Abend erzähle, dass ihre Zähne bald ausfallen, wenn sie so weitermachen. Was kann ich tun, damit sie gern Zähne putzen?

Lenzen: Vielleicht prüfen Sie erstmal, ob Sie selbst gern Zähne putzen.

Nein.

Lenzen: Sehen Sie. Zähneputzen ist ja auch nichts Schönes, es ist nicht einmal ein Spiel, es ist einfach nur blöd. So. Man kann nur sagen: Freunde, es muss sein. Und spätestens, wenn das erste Loch da ist, haben sie wieder einen Lerngewinn. Diese Strafe kommt von selber.

Was ich vorhin beim Essen vergessen habe: Was ist überhaupt mit dem Thema aufessen, was man sich auf den Teller geladen hat?

Lenzen: Bitte nicht. Kinder können nicht abschätzen, wie viel sie essen wollen oder was viel und was wenig ist. Deshalb sollte man auch Ältere nicht dazu zwingen, den Teller leer zu machen, wenn sie sich zu viel aufgefüllt haben.

Was mache ich, wenn mein Kind so ehrgeizig ist, dass es immer Erster werden will, beim Laufen genauso wie beim Anziehen und beim Zähneputzen?

Lenzen: Zunächst einmal ist das besser als das Gegenteil, deshalb wäre ich entspannt. Probleme kann es mit so einem Kind vor allem innerhalb der Familie geben, in der ein im Zweifel krankhafter Ehrgeiz die immer vorhandene Geschwisterrivalität noch verstärkt. Es ist wichtig, dass jedes Kind seine Bereiche hat, in denen es besonders gut ist, das eine hier, das andere dort. Wenn eins überall das Beste sein will, wird es schwierig.

Warum will Kind eins eigentlich immer genau das Spielzeug haben, das Kind zwei gerade genommen hat und umgekehrt?

Lenzen: Anthropologisch oder zoologisch gesehen ist das ganz normal: Wenn eine Bärenmutter mehrere Junge hat, werden die immer darum balgen, zuerst oder exklusiv etwas zu essen zu bekommen. Das ist eine reine Überlebensfrage. Dieser Trieb hält sehr lange an, auch bei uns Menschen, und er ist ja auch wichtig. Es geht nicht nur darum, überhaupt etwas zu bekommen, sondern das Gleiche wie andere zu erhalten, um sich nicht zurückgesetzt zu fühlen. Die Eltern müssen nur dafür sorgen, dass die Rivalität der Geschwister immer eine freundschaftliche bleibt.

Muss man Kind eins anders erziehen als Kind zwei und Kind zwei anders als Kind drei?

Lenzen: Mit Sicherheit. Die Stellung in der Geschwisterreihe ist ein wesentlicher Faktor für den gesamten Lebensverlauf. Das jüngste Kind hat das Gefühl: Alle machen alles für mich. Das älteste Kind denkt: Ich muss immer alles für die anderen machen, ich komme zu kurz. Da sollten Sie als Eltern versuchen gegenzusteuern: Ihr seid alle gleich wichtig für uns.

Können wir überhaupt etwas steuern? Karl Valentin hat gesagt: Wir brauchen unsere Kinder nicht erziehen, sie machen uns sowieso alles nach. Hat er recht?

Lenzen: Nachahmen ist in Lernprozessen die unterste Stufe, mehr nicht. Mit zunehmendem Alter kommen komplexere Formen dazu, zum Beispiel Lernen am Erfolg. Solche Stufen unterscheidet man, bis hin zum Lernen von Moral, und da kommen sie mit Nachmachen nicht weiter. Mit anderen Worten: Vorbild zu sein, ist in der Erziehung wichtig, aber es reicht nicht.

Dabei habe ich immer gedacht: Wenn mich meine Kinder möglichst wenig am iPhone sehen, werden sie auch kein Verlangen danach haben.

Lenzen: Das ist ein Irrtum, weil Sie zwar ein wichtiges, aber eben nicht das einzige Vorbild für Ihre Kinder sind. Sie sehen doch bei anderen Menschen, dass die Nutzung des iPhones Normalität geworden ist. Und überhaupt: Was wollen Sie denn verhindern?

Ich will verhindern, dass sie den ganzen Tag Filme gucken.

Lenzen: Ich prognostiziere Ihnen, dass Ihre Kinder das irgendwann nachholen werden, und zwar gewaltig. Und die Frage ist doch auch: Was dürfen Sie eigentlich wollen als Eltern?

Was darf ich denn wollen als Vater?

Lenzen: Man darf Erziehung nicht als Machtverhältnis missverstehen. Der Grundgedanke ist ein anderer: Im wohlverstandenen Interesse des Kindes, nicht der Eltern, ist es jetzt, dies oder das zu tun oder zu unterlassen. Und, ganz wichtig: Wir können nicht zu 100 Prozent den Weg unserer Kinder bestimmen, wir haben vor allem nicht das Recht dazu. Wir dürfen unseren Kindern Möglichkeiten aufzeigen, sie aber nicht festlegen.

Viele Eltern kommen gar nicht hinterher, ihren Kindern Möglichkeiten aufzuzeigen: Sport, Theater, Musik …

Lenzen: Die entscheidende Frage ist: Hat das Kind das Gefühl, dass seine Eltern unbedingt wollen, dass es Hockey spielt? Oder kann es wirklich wählen? Die Eltern sollten den Kinder nicht zu erkennen geben, wofür sie sich entscheiden würden. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Kind nicht weiß, welche Möglichkeiten es gern hätte, ist sehr gering. Nebenbei: ziemliche Mittelschichtluxusprobleme.

Also müssen sich Eltern gar keinen Stress machen und können sich entspannt zurücklehnen, weil das Kind irgendwann von selbst kommt und sagt, was es für einen Sport machen oder was für ein Musikinstrument es spielen will?

Lenzen: Jein. In einer Umgebung, in der das Kind sowieso viel erfährt und jede Menge Impulse erhält, ist es wahrscheinlich, dass es genau so ist. Dann kommt Ihr Kind irgendwann und sagt, dass es Skifahren will. Aber es gibt ja auch erlebnisarme Umgebungen, zum Beispiel in eher bildungsfernen Familien, in denen der Fernseher den ganzen Tag läuft.

Steile These zum Schluss: Geht es bei der Erziehung nicht einzig und vor allem um Liebe?

Lenzen: Das hätte ich vorhin schon gern gesagt. Wenn es um Ihre Kinder geht, ist es immer am besten, wenn Sie auf Ihr Gefühle hören – einmal vorausgesetzt, dass Sie Ihre Kinder lieben.

Wie wird man ein guter Vater? Kann man das in einem Satz sagen?

Lenzen: Jemand, der solche Fragen stellt, ist mit Sicherheit ein guter Vater.

Nächste Folge in einer Woche: Warum gibt es Kriege