Hamburg. In dem Film „Mystery Train“ von Jim Jarmusch sagt eine junge Japanerin, das Blöde am Tod sei, dass man danach nicht mehr schlafen könne. Zuvor hatte ihr Freund gemosert, dass sie immer so lange im Bett liege. Mit Blick auf den G20-Gipfel und Helmut Schmidt könnten sich dieser Tage auch manche Hamburger fragen, was eigentlich so schlimm an einem gesunden Schlaf sein soll. Dass Hamburg eine „schlafende Schöne“ sei, hat Schmidt bekanntlich mal geschrieben – und seither versuchen Generationen von Politikern, PR-Leuten und Medienschaffenden die Hansestadt und ihre Bewohner wachzurütteln und sie dazu anzuspornen, sich endlich unübersehbar auf die Weltkarte zu setzen, Großes zu leisten, um irgendwann unbedingt in der Liga von New York, Berlin, Paris oder wenigstens Barcelona zu spielen.
Dass die Mehrheit der Hamburger aber wirklich Lust auf einen so besessen verfolgten Aufstieg in die Weltliga hat, mit all den Folgen wie Nachverdichtung, Grünvernichtung, Mietenexplosion und Touristentsunamis – das muss spätestens seit ihrem Nein zu Olympia 2015 bezweifelt werden.
Die Grünen sind zerrieben
Was es noch bedeutet, plötzlich Weltstadt zu spielen, erleben die Hamburger dieser Tage. Der G20-Gipfel führt zu so vielen Unsicherheiten und Einschränkungen für die Hanseaten, dass sich bei einer Abendblatt-Befragung drei Viertel gegen das Treffen in der City aussprachen und jeder Dritte am 7. und 8. Juli die Stadt verlassen will. Zehntausende wissen nicht, ob sie zur Arbeit kommen, radikale Gipfelgegner drohen mit Gewalt und verschicken Drohbriefe an Parteien und Zeitungen, die Polizei ist im Dauereinsatz und die aufgeschreckte Schöne droht zwischen Randalieren und im Ernstfall wohl auch hier prügelnden Bodyguards Erdogans zerrieben zu werden. Zerrieben dürften sich auch viele Grüne fühlen. Als Regierungspartei sind sie G20-Gastgeber, gleichzeitig betonen sie immer wieder, dass der Gipfel und Teile der Einschränkungen ja nicht ihre Idee gewesen seien.
Mit Doppelspiel Opposition spielen
Dass die Hamburger, um den Weg für Putin und die Saudis freizumachen, nun auch noch auf einer Fläche von fast 40 Quadratkilometern auf das Grundrecht der Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit verzichten sollen, macht es für die Grünen nicht einfacher. Denn das nervt nicht nur notorische Nörgler. Auch der FDP-Bürgerschaftsabgeordnete Michael Kruse etwa brachte es auf den Punkt: „Wenn Hamburg so schwer zu sichern ist, dass man nur in Buxtehude demonstrieren kann, dann ist der Gipfel mitten in der Stadt keine Spitzenidee“, schrieb er bei Facebook.
Diesen Satz würden wohl auch viele Grüne unterschreiben. Zumal ihr Justizsenator Till Steffen im April noch versprochen hatte, es werde eine solche Verbotszone nicht geben – ein, wie man heute weiß, falsches Versprechen. Nun betonen die Grünen, dass man an der Entscheidung ja nicht beteiligt gewesen sei, da sie allein in die Verantwortung von Innenbehörde und Polizei falle.
„Wir halten dieses Mittel der Allgemeinverfügung nicht für geeignet“, sagt Grünen-Landeschefin Anna Gallina, die sich am kommenden Wochenende im Amt bestätigen lassen will. „Das hat Till Steffen ja auch frühzeitig klargemacht, und diese Äußerungen waren auch mit dem Koalitionspartner abgestimmt. Ich bin auch nicht überzeugt, dass die Verfügung einer gerichtlichen Überprüfung sicher standhält.“
Die grüne Zweite Bürgermeisterin Katharina Fegebank dagegen betonte im Abendblatt, dass sie Vertrauen in SPD-Innensenator Andy Grote und die Polizei habe. Sicherheit sei „nicht trivial“. Zudem werde man mehr als 20 Demonstrationen ermöglichen. Mit dieser Rollenaufteilung versuchen die Grünen einen kaum möglichen Spagat: Als Gastgeber irgendwie doch gegen die Konsequenzen der Party zu sein, zu der man selber eingeladen hat.
Auch die Einigung auf eine interessante Vokabel soll diesen Widerspruch zukleistern. Die Entscheidung der Polizei, eine Verbotszone einzurichten, sei „bitter“, sagen die Grünen jetzt im Chor. Selbst Antje Möller, einst letztes linkes Gewissen der ansonsten 200-prozentigen Hamburger Realos, hält „bitter“ nun für die passende Vokabel zur Kommentierung des eigenen Regierungshandelns. Nicht Nein sagen, aber auch nicht Ja – und sich so der Verantwortung entziehen: Mit diesem Doppelspiel versuchen die Grünen Opposition in der Regierung zu spielen. Es wisse ja jeder, dass G20 keine Idee der Grünen gewesen sei, sagt auch Gallina.
Wussten Grüne schon 2015 von G20-Plänen?
Besonders unehrlich wirkt dieses Gebaren, wenn man dem Glauben schenkt, was Spitzengrüne im Off berichten. Schon 2015, bald nach Bildung des rot-grünen Senates habe es die Idee gegeben, den G20-Gipfel 2017 nach Hamburg zu holen – als PR-Aktion während der entscheidenden Phase der Olympiabewerbung. Damals seien auch Grüne eingeweiht gewesen und hätten kein Veto eingelegt, heißt es. Als die Hamburger im Referendum Nein gesagt hätten, habe man auch G20 für beerdigt gehalten – und sei Anfang 2016 von der Ansage von SPD-Bürgermeister Olaf Scholz überrascht worden, er habe CDU-Bundeskanzlerin Angela Merkel sein Okay für G20 in Hamburg gegeben. Andere prominente Grüne bestreiten, schon 2015 von so einer Idee gehört zu haben.
Bei all dem Stress für Bürger, Polizei und Politik sei nicht einmal erwiesen, dass es einen positiven Effekt für Hamburg geben werde, heißt es von manchen Grünen. Das türkische Antalya, in dem die G20 2015 getagt haben, sei dadurch auch nicht zur Weltstadt geworden. Im Übrigen wisse niemand, ob am Ende schöne Bilder der Elbphilharmonie um die Welt gingen, oder hässliche Randaleszenen. Andere, wie der grüne Umweltsenator Jens Kerstan, erhoffen sich von G20 dagegen wichtige Impulse für Klima- und Umweltschutz in Hamburg. So profitiere die Stadt auch als Partner des UN-Programms für die „17 Ziele für nachhaltige Entwicklung“.
Zwei Tage Weltstadt spielen
Trotz allen Streits wäre es ungerecht, allein SPD-Bürgermeister Olaf Scholz und seinem Ehrgeiz anzukreiden, dass Hamburg für zwei Tage Weltstadt spielen muss (oder darf – je nachdem, wie man es sieht). Formal hätte sich die Stadt nämlich gar nicht gegen den Gipfel wehren können. Wenn die Bundeskanzlerin sich ins Atlantic eingemietet hätte, um sich mit 20 Freunden aus aller Welt zu treffen, heißt es ironisch aus dem Rathaus, dann hätte man dagegen auch nichts machen können und für die Sicherheit sorgen müssen.
Und selbst wenn es andernorts bessere Möglichkeiten für ein Treffen auf einem Messegelände außerhalb der Stadt gegeben hätte – so tief könnte auch die Schönste der Schönen nicht schlafen, um sich vor eine Antwort auf Merkels Anfrage zu drücken. Oder um es mit den Worten des Chefs der Senatskanzlei, Christoph Krupp (SPD), zu sagen: „Wenn Hamburg die Rolle der zweitwichtigsten Stadt dieses Landes ernst nehmen und ausfüllen will, dann können wir solche internationalen Konferenzen natürlich nicht ablehnen.“
Mithin: Es war Angela Merkel, die ihre Geburtsstadt aus dem Schlaf gerissen hat. Und wenn Mutti ruft, ist Schluss mit der Träumerei. Ob die Hamburger ausgeschlafen genug sind, die zwei Tage als Weltstadt mit Anstand hinter sich zu bringen – das werden wir in drei Wochen wissen.
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