Die Wulffsche Siedlung ist in die Jahre gekommen. Pläne für Neubauten sind per Bürgerentscheid verhindert worden. Greift der Senat ein?

Langenhorn. Es ist ein Moment der Genugtuung. Michael Kuckhoff wird ihn nicht vergessen. Diesen 4. November, an dem klar wird, dass er auf der Siegerseite steht. "Bürgerinitiative gewinnt Bürgerentscheid", tippt er in seinen Computer. 67,8 Prozent haben sich gegen den Bebauungsplan Langenhorn 73 ausgesprochen. Kuckhoff nennt das Ergebnis "überwältigend". Dann gibt er die Mitteilung an die Öffentlichkeit raus. Er fühlt sich gut.

Es ist ein Moment tiefer Enttäuschung. Martina Schenkewitz wird ihn nicht vergessen. Den Tag, an dem sie erfährt, dass sie auf der Verliererseite steht. Sie war von Anfang an für den neuen Bebauungsplan. Als Kuckhoff mit einigen Anwohnern eine Bürgerinitiative für den Erhalt der Wulffschen Siedlung gründete, ging auch sie in die Öffentlichkeit. Sie wollte, dass neu gebaut wird, bei gleichen Konditionen für die Mieter wie bisher und Kündigungsschutz. Sie hatte einen Mieterbeirat gegründet und mit den Eigentümern verhandelt. Sie hatte alles erreicht.

So richtig fassen kann Jörg Drefers das Ergebnis noch nicht. Er vertritt die Eigentümer der Wulffschen Wohnsiedlung. Monatelang wurde geplant und verhandelt. Er hatte den Mietern einen Kündigungsschutz zugesagt, versprochen, dass nur mit ihrem Einverständnis gebaut werde. "Eine große Chance für die Mieter wurde vertan", sagt er. "Wir sind traurig und enttäuscht."

Rückblick: Am 17. Juni 2010 hatte das Bezirksamt Nord in einer öffentlichen Plandiskussion den Bebauungsplan Langenhorn 73 vorgestellt. Er sollte die Rechtsgrundlage dafür schaffen, die in Teilen stark sanierungsbedürftige Wulffsche Siedlung in Langenhorn im Lauf der nächsten 20 Jahre schrittweise abzureißen und neu aufzubauen. Dabei wären auch 130 neue Wohnungen entstanden. An diesem Abend bekam das bis dato gute Miteinander in der Siedlung einen Riss, der immer tiefer wurde. Nicht alle wollten eine Veränderung des Quartiers. Wenige Monate später gründete sich eine Bürgerinitiative. Michael Kuckhoff war einer der Initiatoren.

+++ Die Stadt muss regierbar bleiben +++

Martina Schenkewitz hat bis zuletzt gegen die Initiative und für den Plan gekämpft. Sie hat Flyer verteilt, mit den Mietern gesprochen, mit den Verwaltern. Sie hat sich eine schriftliche Zusage der Eigentümer geholt, dass die Bewohner in der Siedlung bleiben dürfen. Nun steht sie in ihrer Küche und hält das Schriftstück hilflos in der Hand. "Verzicht auf eine Kündigung", steht da in einem fett gedruckten Absatz. Es war ihr größter Schatz: die Versicherung, die alte Nachbarschaft nicht zu verlieren, mitzusprechen und gegen eine unangemessene Mieterhöhung vorgehen zu können. "Der beste Kündigungsschutz, den es in Hamburg gibt", sagt sie. Die blaue Tinte in der Unterschrift ist wertlos geworden.

Wenige hundert Meter entfernt wohnt Michael Kuckhoff. Sein Haus wäre vom Abriss nicht betroffen. Aber er hätte eine Baustelle vor der Tür, jahrelang. Kuckhoff hat gekämpft gegen den Bebauungsplan und gegen Martina Schenkewitz, gemeinsam mit seinen Mitstreitern hat er Unterschriften gesammelt. Er hat vor Spekulantentum gewarnt und vor Vertreibung.

Irgendwann seien da diese Flyer aufgetaucht, sagt Martina Schenkewitz. "Die in den weißen Häusern" sollten vertrieben werden, habe es geheißen. Und Martina Schenkewitz dachte irritiert: Meinen die mich? Plötzlich seien da diese Leute gewesen, die zu wissen glaubten, was sie wollte. Leute, die häufig nicht in der Siedlung wohnten, aber Stimmung machten.

32 469 Bürger haben schließlich abgestimmt. Das entspricht 14,37 Prozent der insgesamt 226 000 Wahlberechtigten im Bezirk. 67,8 Prozent entschieden sich für die Bürgerinitiative. Sie entschieden sich aber auch gegen den Willen von CDU, SPD, GAL und FDP im Bezirk, die sich für den Bebauungsplan eingesetzt hatten.

Betroffen sind insgesamt 550 Wohnungen, in denen rund 1000 Menschen wohnen. Die durchschnittliche Wohnungsgröße liegt bei 45 Quadratmetern. Der Bebauungsplan hatte den Bau größerer, behindertengerechter Wohnungen vorgesehen. Es sollten Tiefgaragen entstehen, begrünte Dächer, Kinderspielplätze. Sensibel und nur mit Zustimmung der Mieter sollte jeder einzelne Wohnblock neu gebaut werden.

Während Kuckhoff und seine Mitstreiter auf der Straße Unterschriften sammelten und die Anwohner mit drohenden Mieterhöhungen und Verkehrslärm verunsicherten, beschloss Miteigentümer Thomas Haas-Rickertsen, auf die Bewohner zuzugehen. Er einigte sich mit dem Mieterbeirat, dass jeder Mieter während der Bauphase eine adäquate Übergangswohnung in der Siedlung erhalten solle. Und: Dass die Miete auch bezahlbar bleibe.

Nun, nach dem Bürgerentscheid, könnte wieder der alte Plan von 1968 greifen, der "eigentlich nicht mehr zeitgemäß ist", wie Bezirksamtsleiter Wolfgang Kopitzsch (SPD) betont. Fest stehe, es könne abgerissen und gebaut werden - allerdings nur zweigeschossig. Nach dem neuen Plan wären bis zu vier Vollgeschosse möglich gewesen. Den Bewohnern in den angrenzenden Häusern war das zu viel. "Da kamen Argumente wie: 'Mein Kirschbaum wird dann beschattet und trägt keine Früchte mehr'", sagt Kopitzsch. Da müsse man doch mal überlegen, was wichtiger sei, Kirschbaum oder Mensch.

Mieterin Sylvia Piskorski, 52, hat geweint, als sie von dem Ergebnis erfuhr. Seit 24 Jahren wohnt sie in ihrer Wohnung. Als sie schwanger war, musste sie im schmalen Bad den Bauch auf dem Waschbecken aufstützen und einen Halbkreis darum drehen, um zur Dusche zu kommen. Dazu die Feuchtigkeit in den Wänden, die hohen Heizkosten, der Schimmel. Wenn Piskorski von der Bürgerinitiative spricht, klingt ihre Stimme belegt. "Sie treffen ja uns", sagt sie. "Sie treffen nicht sich selbst."

Es sind vor allem ältere Bewohner, die sich gegen die Pläne stemmen: Weil sie Angst haben, die vertrauten vier Wände zu verlassen, weil sie fürchten, nicht zurückzukommen. Sie haben viele Argumente gehört, aber hängen geblieben ist das Wort "Mieterhöhung". Sie haben Angst um ihre Rente.

"Wir haben gegen Windmühlen und Propaganda gekämpft", sagt Martina Schenkewitz heute. Sie zeigt ihre Wohnung: drei Zimmer, Küche, ein winziges Bad, zu schmal, um mit einem Rollator oder Rollstuhl durchzukommen. Alles in allem 50 Quadratmeter. In dieser Wohnung hat ihre Familie seit 1939 gelebt, "in jeder Pore steckt Familiengeschichte", sagt sie. "Das würde ich doch nicht einfach so aufgeben." Was aber ist in ein paar Jahren? Man werde ja nicht jünger. Die Treppenhäuser sind so eng, dass die Nachbarn Alte und Verletzte in Tüchern runtertragen müssen, weil keine Trage hindurchpasst. Die Stufen sind steil. Manche Bewohner wagten sich gar nicht mehr hinaus. "Die Alten sind in ihren Wohnungen gefangen."

Peter Schelm, 55, wohnt mit seiner Frau seit 25 Jahren in der Siedlung. Den Ausgang des Bürgerentscheids kann er noch immer kaum fassen. "6000 Wohnungen will die Stadt bauen. Aber welcher Investor baut hier noch, wenn sich überall Bürgerinitiativen gründen?"

Irgendwie hat Wolfgang Kopitzsch mit dem Ergebnis gerechnet, auch wenn er alles in seiner Macht Stehende getan hat, es zu verhindern. Er wollte die neuen Wohnungen, unbedingt. "Weil Hamburg Wohnungen braucht." Und es um ein gesamtstädtisches Interesse gehe. Auch wenn er selbst Anhänger einer breiten Bürgerentscheidung sei, so müsse im Fall von Wohnungsbau doch geschaut werden, ob Bauleitplanung auch zukünftig Gegenstand von Bürgerbegehren sein solle. Dieses Ergebnis könne verheerende Signalwirkung haben. Kopitzsch will nun auch in der Bezirksversammlung darüber sprechen, ob in diesem Fall der Senat von seinem Evokationsrecht Gebrauch machen soll. Damit könnte dieser das Verfahren an sich ziehen. "Wir warten erst mal die Entscheidung der Bezirksversammlung ab", heißt es aus der Behörde für Stadtentwicklung. "Dann werden wir entscheiden."

Manfred Brandt vom Verein "Mehr Demokratie" sieht das Hauptproblem im mangelnden Vertrauen der Bürger in die Politik. "Weil Politiker sich bei Bürgerentscheiden verhalten, als gehe es in den Wahlkampf", sagt er. "Das stößt die Leute ab." Die Politiker müssten sachlicher werden, authentischer. "Und sie müssen den Menschen zutrauen, auch differenzierte Argumente zu verstehen." Was auffallend sei an den Bürgerinitiativen, die die Stadt erlebe: "Eigentlich sollte das Vertrauen der Menschen dadurch wachsen. Stattdessen verhärten sich die Fronten."

Sylvia Piskorski steht auf der Straße und zeigt mit dem Finger auf Häuser: "Da wohnt einer", sagt sie, "hier und dort." Sie zeigt auf Leute, die gegen den Bebauungsplan gestimmt haben. Misstrauen ist in die Straßen eingezogen. Irgendwann sind Eier gegen Hauswände geflogen, es gab Gerüchte, jemand habe dem Nachbarn die Luft aus dem Reifen gelassen und die Zeitung abbestellt. Was bleibt, ist Bitterkeit.