Hamburg. Die Aufgabe der Integration ist gewaltig: 22.000 Flüchtlinge wurden allein im vergangenen Jahr der Hansestadt zugewiesen, neben den städtischen Stellen ist die Diakonie zentral in die Betreuung eingebunden. In der Debatte um die Vermittlung von Werten vertritt Landespastor Dirk Ahrens einen kontroversen Ansatz: Der Begriff der Leitkultur werde überschätzt, die Diskussion sei teilweise verlogen. Im Abendblatt-Interview plädiert Ahrens für Pragmatismus.
Hamburger Abendblatt: Herr Pastor Ahrens, stehen Sie als Landespastor eigentlich felsenfest hinter dem Satz: „Wir schaffen das“?
Dirk Ahrens: Der Satz hat eine wunderbare Dynamik ausgelöst, die Deutschland sonst oft fehlt. Der Fehler war, nicht zu sagen, was wir eigentlich genau schaffen – und wie. Die Politik war so mit der Unterbringung von Flüchtlingen beschäftigt, dass sie sich nur wenig um die konkreten Integrationsbedingungen gekümmert hat. Sie hat sich da komplett in die Defensive drängen lassen, wie wir am Erfolg der Volksinitiative in Hamburg sehen.
Haben Sie Angst vor einem Volksentscheid?
Ahrens : Das wäre in der Tat eine Katastrophe. Es gerät dadurch bereits jetzt völlig aus dem Blick, dass Integration ab dem ersten Tag beginnen muss. Viele Geflüchtete in Hamburg sind nach wie vor extrem prekär untergebracht. Das frustriert, setzt sie negativen Einflüssen aus und hat Folgeschäden, die sich nur mühsam wieder heilen lassen.
Bei der Integration heißt es häufig: Die größte Aufgabe wird sein, dass Flüchtlinge unsere Werte annehmen.
Ahrens : Diese Debatte nervt mich zunehmend. Beim Thema Integration sage ich: Vergessen Sie mal die Werte. Unser Grundgesetz geht von einer Vielfalt der Lebensentwürfe aus und legt klare Spielregeln fest, wie daraus eine verbindliche Rechtsordnung entsteht. Homogenität der Vorstellungen und Werte sind gar nicht vorgesehen. Alle Menschen in unserem Land haben unterschiedliche Werte. Entscheidend ist, dass sich alle an das gültige Recht halten. Das gilt auch für Menschen, die hier Schutz suchen.
Also müssen wir die Unterschiede einfach aushalten?
Ahrens : Natürlich, das gelingt uns doch im Alltag seit Jahrzehnten. Wenn Herr Seehofer das Ende der Willkommenskultur feiert, hat er eindeutig andere Werte als ich. Trotzdem müssen weder er noch ich das Land verlassen. Und wenn Sie sich in so manche deutsche Männerrunde setzen, hören Sie zum Thema Frauenrechte schnell Aussagen, bei denen man manches aushalten muss. Aber dies ist ein freies Land, jeder kann hier sagen, was er will – solange er sich an das Recht hält.
Die Stadt informiert nun mit einem Flyer alle Flüchtlinge nach der Ankunft über die in Deutschland geltenden Werte. Könnte man sich das sparen?
Ahrens : So eine Information ist sinnvoll, aber es muss um die Einhaltung der Gesetze gehen. Und es muss konkret sein. Unbelehrbare – egal welcher Herkunft –, die denken, dass Schwule kein Lebensrecht haben, werden Sie mit einem Flyer nie dazu bringen, ihre Werte zu überdenken. Wenn Sie im Ausland Auto fahren, brauchen Sie auch keine Belehrung, vorsichtig zu fahren und auf Kinder zu achten. Sie wollen wissen, was erlaubt ist und welche Höchstgeschwindigkeit gilt. Auf dieser Ebene müssen wir auch mit Flüchtlingen arbeiten.
Besteht ohne eine Wertevermittlung nicht die Gefahr, dass sich Vorfälle wie zu Silvester wiederholen?
Ahrens : Das Frauenbild mag bei solchen Taten eine Rolle spielen. Aber die jungen Männer begehen solche Taten doch nicht, weil es etwa in Marokko kultureller Konsens wäre, Frauen in der Öffentlichkeit zu betatschen – das Gegenteil ist richtig. Diese Taten geschehen, weil einige glauben, sich nicht an die Gesetze halten zu müssen. Da muss der Staat ansetzen. Die Bibel spricht übrigens von der Schönheit des Gesetzes: Schön ist das Gesetz – in der biblischen Tradition ein Geschenk Gottes – weil es den Unterschiedlichen ermöglicht, friedlich miteinander zu leben.
Was ist mit der Furcht vor Parallelgesellschaften?
Ahrens : Da rate ich zu mehr Gelassenheit. Die Realität in Hamburg ist doch, dass wir immer schon in Parallelgesellschaften leben – übrigens auch ohne Migrationshintergrund. Und überall in der Welt gibt es Großstädte mit Vierteln, die nur von Chinesen oder anderen Volksgruppen bevölkert sind. Solange das freiwillig ist und dort die gleichen Gesetze gelten wie im Rest des Landes, habe ich damit kein Problem. Wir lassen uns da zu schnell von diffusen Ängsten leiten.
Das Wertethema scheint die Gesellschaft zunehmend zu spalten.
Ahrens : Ja, das bereitet mir große Sorge. Weil es so wirkt, als wäre das Teilen gemeinsamer Werte die Bedingung, hier leben zu dürfen. Wir sind aber ein demokratischer Rechtsstaat, der gerade nicht voraussetzt, dass alle den gleichen Werten folgen. Und weil wir das in Deutschland ziemlich erfolgreich leben, trägt das Beharren auf verpflichtenden Werten so wenig bei.
Die Mehrheit der Flüchtlinge ist muslimisch. Welche Rolle kann die Kirche bei der Integration spielen?
Ahrens : Rund 4000 Menschen engagieren sich allein über die Kirche und die Diakonie für die Integration der Flüchtlinge. Es gibt Begegnungsangebote, Kleiderkammern, mehr als ein Dutzend Kirchen haben Flüchtlinge beherbergt. Wir beraten, helfen bei der Anerkennung ausländischer Berufsabschlüsse, bieten Praktika und organisieren Fortbildungen für die freiwillig Engagierten und vieles mehr.
Gibt es bei der Flüchtlingshilfe eine Zusammenarbeit mit den muslimischen Gemeinden?
Ahrens : Ja, zum Beispiel bei der Betreuung der Transitflüchtlinge. Einige Moscheen haben die Türen weit aufgemacht und sich bis an den Rand der Belastungsgrenze engagiert. Das hat mir auch persönlich imponiert. Diese Hilfsbereitschaft ist wichtiger als der unterschiedliche Glaube.
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