Nach dem Abkommen in Bonn wurde es zur gemeinsamen Geschichte. Vor 50 Jahren kamen die türkischen Gastarbeiter nach Hamburg.

Für Nazim Kobal schmeckte Deutschland nach Metallsplittern und Bohrstaub. Nach Feierabend war sein Blaumann warm von der Hitze der Schleifmaschinen und Schweißgeräte. Im Duschraum der Arbeiterbaracken wusch Kobal sich die Schmiere von den Händen und schnaubte den schwarzen Dreck aus seiner Nase. Am nächsten Morgen stand er wieder an der Drehmaschine in der Werkshalle von Blohm+Voss. Fürs Schuften hatten sie ihn in dieses Land geholt. Also schuftete er und fertigte Metallteile für die Gehäuse von Panzern an. 75 Mark habe er pro Woche bei der Werft verdient. "War in Ordnung", sagt Kobal. "Schachtel Zigaretten kostete damals nur zwei Mark."

In den 60er-Jahren war das. Gastarbeiter kannte dieses Land. Griechen, Italiener oder Spanier bauten bereits seit einigen Jahren deutsche Autos zusammen, schürften Kohle oder schweißten in den Werften von Blohm+ Voss. Schon seit Ende der 50er heuerten Unternehmen auch Türken an. Doch das Wirtschaftswunder verlangte noch mehr billige Arbeiter.

Das Dokument, das ein ganzes Land verändern sollte, war nur drei Seiten lang. Am Montag, 30. Oktober 1961 wurde das Abkommen mit dem Aktenzeichen 505-83SZV-92.42 vom Auswärtigen Amt zur türkischen Botschaft und zurück geschickt. Kein Staatsempfang, keine Reden, keine Nationalhymnen. Nur eine Bestellung: Türkische Arbeiter für deutsche Fabriken. Bis heute wanderten vier Millionen Menschen aus der Türkei in Deutschland ein. Deutsche und Türken feiern nun ihre goldene Hochzeit, nicht immer war es Liebe, manchmal eher Zweckehe. Erst waren die Türken willkommene Arbeiter, dann ungeladene Gäste. Jetzt leben sie hier, mit Kindern und den Kindern ihrer Kinder. Dem Wort Gastarbeiter folgten andere wie Dönerbude, Parallelgesellschaft, türkisches Dampfbad und Kopftuch-Verbot. Türken sind Spitzenpolitiker und Manager, andere hadern noch immer mit der Integration. 50 Jahre nach dem Abkommen debattiert das Land heftig wie nie über ein Zusammenleben. Therapieversuche einer verstrickten Beziehung.

+++ 60.000 Jobs in der Döner-Industrie +++

+++ Erst Italien, dann Türkei +++

Damals, in den Jahren des deutschen Wirtschaftswunders, inserierten deutsche Firmen in türkischen Zeitungen. Eine Verbindungsstelle in Istanbul regelte Gesundheitstest, Visum und Einreise. Zeitweise waren dort 170 Mitarbeiter beschäftigt. Am Hauptbahnhof in München kamen die Arbeiter an und wurden verteilt an die Fließbänder der Republik. Auch nach Hamburg.

Nazim Kobal ist heute 75 Jahre alt. Er trägt keinen Blaumann mehr, die ersten beiden Knöpfe seines Hemdes lässt er geöffnet, seine Haare sind grau, der Oberlippenbart ist akkurat geschnitten. Seine Stimme klingt müde, wenn er von der Vergangenheit erzählt.

24 Jahre war Kobal alt, als er im Januar 1961 im Zug von Istanbul nach Hamburg reiste. Er kannte die Stadt, schon 1959 hatte er sein Erspartes genommen und einen Freund besucht. Von dem Geld kaufte er einen gebrauchten Opel Kapitän und für 120 Mark einen Plattenspieler. Seine erste Platte war "La Paloma" von Billy Vaughn.

"Deutschland war wie ein Paradies", sagt Kobal. Ein vom Krieg zerstörtes Paradies. Er sah die Einschusslöcher in den Häuserwänden. Doch als er nach drei Wochen Urlaub im Paradies in seinem Opel Kapitän über Österreich und Jugoslawien wieder zurück in seine Heimat fuhr, dachte er nicht daran, dass er bald für den Rest seines Lebens zurückkehren würde.

Dann putschte im Mai 1960 das Militär in der Türkei. "Große Krise", sagt Kobal. Er arbeitete als Dreher in einer Fabrik in Istanbul, die Tuben für Zahnpasta herstellte. Die Aufträge brachen weg - und auch sein Gehalt. Kobal suchte Hilfe bei seinem Freund in Deutschland. Drei Wochen später kam die Einladung von Blohm + Voss per Brief.

Für die Arbeiter aus der Türkei war die Hamburger Werft das Tor zu einer neuen Welt. Ende der 60er-Jahre beschäftigte Blohm + Voss knapp 8000 Mitarbeiter. Rund 1000 waren Gastarbeiter. Kobal wechselte nach drei Monaten zur Deutschen Werft am Reiherstieg. Maschinenschlosser stand nun in seinem Arbeitsvertrag. Kobal schob Nachtschichten, von 18 bis 6 Uhr. Der Dreck in der Nase blieb.

Nazim Kobals Weg in die deutsche Gesellschaft führte über die Gewerkschaft. Und über eine Frau. Am Juni 1966 trat er in die IG Metall ein, Mitgliedsnummer 5490955. Seine Aufgabe: Er soll die Interessen der türkischen Arbeiter in der Werft vertreten. Kobal zeigt Fotos von Ausfahrten mit der Gewerkschaft nach Berlin: Sie besuchen die Mauer, stehen am Brandenburger Tor, wo ein paar Jahre zuvor noch der amerikanische Präsident John F. Kennedy gestanden hatte. "Unheimlich", sagt Kobal. "Die Mauer war so kalt."

Es gibt wärmere Fotos. Zum Beispiel das von ihm und Lieselotte am Strand von Mallorca: Kobal mit braun gebranntem Körper, die schwarzen Haare nach hinten gekämmt, die zierliche Lieselotte mit den blonden Haaren in seinen Armen. Sie lernten sich Anfang der 60er-Jahre in einem Tanzlokal auf St. Pauli kennen. Die türkischen Arbeiter kamen auch in ein Land, das viele Männer an der Front des Zweiten Weltkrieges verloren hatte.

Einige Jahre wohnte Kobal mit Lieselotte in Eidelstedt. Dann trennten sie sich. Kobals Eltern in der Türkei bestanden darauf, dass der Sohn eine Türkin heiratet. Kobal war in Deutschland - doch die Tradition in der Heimat bestimmte weiterhin sein Leben. Vor einiger Zeit erfuhr er von Lieselottes Schwester, dass sie gestorben ist.

Heute hat Kobal drei Kinder und lebt mit seiner türkischen Frau an der Simon-von-Utrecht-Straße, sieben Hausnummern entfernt von dem Reisebüro, das Kobal seit 1971 besitzt. Er kämmt die Haare immer noch so ordentlich nach hinten wie damals im Urlaub. In seinem Reisebüro hängen Plakate von den steinigen Buchten der türkischen Riviera, Poster mit den Spielern vom Fußballklub Fenerbahce und ein Bild von Staatsgründer Kemal Atatürk.

Mitte der 60er dachte Kobal nicht mehr daran, jemals wieder in die Türkei zurückzukehren. Er wollte bleiben, hier leben. Für immer. Und dafür arbeitete Kobal. Nachts in der Werft, tagsüber baute er mit einem Freund das Reisebüro auf St. Pauli auf. Bevor er abends in die Halle der Werft fuhr, schlief er zwei, drei Stunden. "Wenn du nicht arbeitest, verdienst du nichts", so Kobal. In seiner Stimme liegt keine Wehmut über die verlorene Zeit mit der Familie. Keine Wut über das viele Schuften. Für ihn war das selbstverständlich. Eine Pflicht. "Ich war in 50 Jahren hier nicht einen Tag arbeitslos". Kobal klingt in solchen Momenten sehr deutsch. Sehr stolz.

Anfang der 70er lief das Geschäft mit den Tickets fantastisch. Immer freitags landeten zwei Maschinen aus Istanbul in Hamburg, zwei starteten in Richtung Bosporus. Mit Fernsehgeräten flogen die Türken ab. Mit Lebensmitteln kamen sie wieder. Bei Kobal bekamen sie beides - Flugticket und Fernseher. "Immer zuverlässig", sagt er. Kobal war jetzt nicht mehr Gastarbeiter, sondern Dienstleister.

1961 bis 1973 bewarben sich mehr als zweieinhalb Millionen Türken um einen Arbeitsplatz in Deutschland. In Istanbul gab es Wartelisten. Nur gut 600 000 von ihnen wurden tatsächlich vermittelt. Viele waren zu alt, hatten zu hohen Blutdruck, kaputte Gelenke. In der Verbindungsstelle wurden sie von Ärzten zurückgeschickt in ihre Dörfer.

Schon 1975 lebten rund 17 000 Türken in Hamburg. Nachrichten über Wohnungsnot häuften sich. Der "Spiegel" warnte vor Gettos und titelte: "Die Türken kommen - rette sich, wer kann." Mit der Ölkrise 1973 und dem Anstieg der Arbeitslosigkeit auf mehr als eine Million sperrte die Regierung die Gästeliste und erließ den berühmten Anwerbestopp. Die Vermittlung von Arbeitern aus dem Ausland war nun verboten. Dem Wirtschaftswunder folgte die Rezession - und viele Türken sahen keine Chance mehr auf dem Arbeitsmarkt. Seit 1983 gab es ein weiteres Abkommen mit einem sperrigen Titel: Rückkehrförderungsgesetz - jeder Ausländer, der freiwillig wieder in seine Heimat ging, erhielt vom deutschen Staat ein Abschiedsgeschenk, 10 000 Mark. Wer das Land sowieso verlassen wollte, ergriff jetzt die Gelegenheit. Bis 1984 waren es 250 000.

Es war die Zeit, in der Senol Gültekin versuchte, nach Deutschland zu kommen. Für ihn verschickten Firmenchefs keine Jobangebote mehr. Deutschland ließ Gültekin erst einmal nur eines: warten. Nach den willkommenen Arbeitern kamen nun die ungeladenen Gäste - Onkel, Schwäger, Ehefrauen und Ehemänner wie Gültekin. "Deutschland rief Arbeitskräfte, und es kamen Menschen." Vielleicht fasst kein anderer Satz 50 Jahre Geschichte von Deutschen und Türken besser zusammen als dieser von Max Frisch.

Heute ist Gültekin 45 Jahre alt. Und eigentlich hatte er nie den Plan, nach Deutschland zu kommen. Nur: Seine Frau war bereits hier. Sie kam 1979 als 13-Jährige mit ihren Eltern nach Hamburg. Beide waren in der Türkei zur Schule gegangen. Als seine spätere Frau Mitte der Achtziger Urlaub in der Türkei machte, trafen sie sich wieder. Im Januar 1986 heirateten sie - und das zähe Verfahren einer Familienzusammenführung begann.

Briefe gingen an die deutsche Botschaft in der Türkei, Dokumente kamen zurück zur "deutschen Ausländerpolizei", wie Gültekin sagt. Zeugnisse, Ausweise, Nachweise. Einmal in der Woche lief seine Frau zur Behörde in Hamburg und bohrte: "Was ist mit meinem Mann? Warum dauert es so lange?" Und ihrem Mann sagte sie: "Hier gibt es Arbeit, hier verdienen wir mehr Geld als in der Türkei." Es dauerte acht Monate, bis er im Mai 1988 endlich sein Visum erhielt. Auch heute noch geht jedes fünfte Visum mit dem Ziel der Familienzusammenführung in die Türkei.

Senol Gültekin war 22 Jahre alt, als er nach Hamburg kam. Fünf weitere Jahre dauerte es, bis die Behörden ihm eine Arbeitserlaubnis ausstellten. Bis dahin half er schwarz aus und schleppte Kartons in der Umzugsfirma seines Onkels. Später schleppte er wieder, diesmal Teppiche in einem Großhandel in Eimsbüttel. Abends nach der Arbeit im Lager putzte er Büros. 20 000 Mark hatte seine Frau als Kredit für ihre erste gemeinsame Wohnung in der Paul-Roosen-Straße aufgenommen.

Als 1989 die Mauer fiel, hatten die Deutschen eine ganz andere Integration zu leisten. Und für die Türken gab es eine neue Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt: die Ostdeutschen. Der Arbeitsmarkt - er ist bis heute die Schubkraft für Migration. Inzwischen gehen mehr Türken aus Deutschland in die Türkei als umgekehrt. Nur noch 3234 bewarben sich 2010 um eine Arbeitserlaubnis in Deutschland. Heute ist die Arbeitslosigkeit unter Türken hierzulande fast doppelt so hoch wie bei Deutschen. Jeder vierte Migrant ist von Armut gefährdet. Vor allem weil noch immer einige die deutsche Sprache nicht beherrschen und keine Ausbildung finden.

Gültekin aber boxte sich durch - gegen die Schubkraft des Markts. Er sitzt im Hinterzimmer seines Blumenladens, den er Mitte der 90er von seinem Schwager übernahm. "1000 und eine Art" heißt der Laden. Als Gültekin von der Anstrengung erzählt, ein Geschäft zu leiten, steckt er sich alle zehn Minuten eine Zigarette an. Die feuchte Luft und der Duft von Lilien mischt sich mit dem Qualm der Zigarette. Nach dem Job im Teppichlager fing Gültekin erst als Aushilfe bei seinem Schwager in dem Laden an. Er lehrte Gültekin die Geschäfte. Morgens fuhr er zum Großhandel am Hafen, lud Tulpen aus Holland und Rosen aus Kenia in den Wagen. Der Schwager drückte ihm ein Buch in die Hand, Einführung in die Botanik. Und Gültekin lernte, dass Nelke Dianthus auf Lateinisch heißt, und Sonnenblume Helianthus annuus.

Dabei hatte er gerade erst so viel Deutsch gelernt, dass er bei der Bank Konten eröffnen oder die Bestellzettel beim Großhandel ausfüllen konnte. Hände und Füße, sie waren für die türkischen Arbeiter in den ersten Jahren im fremden Land ihr Wörterbuch. Und sie haben dafür ein türkisches Wort gefunden: tarzanca. Der, der wie Tarzan spricht. Auch heute spricht Gültekin nur wenig Deutsch, er verschluckt Artikel oder übergeht Verben.

Warum auch perfekte Grammatik? Einwanderer wie Gültekin kamen gut zurecht in einer Stadt, in der sich viele Türken längst selbst organisierten. Man arbeitete, blieb unter sich, in türkischen Cafés oder Fußballvereinen. Wer Starthilfe in der fremden Gesellschaft brauchte, nahm eine Tante mit zur Bank oder eine Nichte mit zum Supermarkt. Auch Parallelgesellschaften können funktionieren.

"Ich bin typisch türkisch", sagt Gültekin. Man höre das doch, wenn er rede. In Lurup, wo er mit der Familie lebt, trifft er die deutschen Nachbarn nur am Gartenzaun. Man grüße sich freundlich. Der Blumenladen aber ist Gültekins Integrationskurs. Hier hat er deutsche Kunden, wechselt ein paar Worte. Gültekin hatte nur eine Chance: über das Blumengeschäft den Weg in die deutsche Gesellschaft zu finden. Er nutzte sie.

In Gültekins Geschäft führen ein paar Treppenstufen zu einem kleinen Raum. Zwei Sofas und ein Tisch stehen dort, Gerümpel, Ostereier und Weihnachtsschmuck in der Ecke. Manchmal, wenn er zu müde ist vom frühen Aufstehen, legt er sich für einen Moment auf das Sofa. In der stressigen Weihnachtszeit helfen seine Kinder im Laden aus. Die älteste Tochter ist 24 Jahre alt und studiert BWL, die zweite macht eine Ausbildung zur Kauffrau, der Sohn ist 14. "Die Kinder wollen viel Freizeit und Freunde", sagt Gültekin. Dass Papa zu viel arbeitet, hätten sie ihm nie gesagt. Aus vielen ungelernten Gastarbeitern wurden über die Jahre Geschäftsleute. In Reisebüros, Gemüseläden oder Blumengeschäften. Ihre Kinder, hoffen viele, werden einmal die Geschäfte übernehmen, wenn sie in Rente gehen oder zurück in die Türkei. Doch die wollen lieber Arzt oder Schauspieler werden, studieren, eine Ausbildung machen oder selbst in die Türkei gehen. Keines seiner Kinder möchte den Blumenladen übernehmen, sagt Gültekin. Das mache ihn schon ein bisschen traurig. Die Älteste, erzählt er dann noch, habe mit den Blumen nicht viel am Hut. Aber man könne ja ein Modegeschäft daraus machen, hat sie einmal zu ihm gesagt.

Gül Aydins Erinnerungen an Deutschland beginnen in einer Wohnung in St. Georg, Saga-Altbau, 60 Quadratmeter, feuchte Wände, kein Bad, dafür ein Bottich in der Küche zum Waschen. Aydin war vier Jahre alt und stand vor zwei erwachsenen Menschen, sie hielt die Hand ihrer älteren Schwester fest. "Das sind deine Eltern", sagt die Schwester. Aydin ist 1970 hier geboren. Doch schon bald schickten Aydins Eltern ihr Kind zur Oma nach Ostanatolien. Der Vater arbeitete bei Blohm+ Voss als Schlosser, die Mutter in der Kantine der Lufthansa. Sie lebten vor allem für das Geldverdienen - und hatten wenig Zeit für die kleine Gül. 1966 war Aydins Vater nach Hamburg gekommen, weil er die Familie in der Türkei als Tischler kaum noch ernähren konnte. 1969 folgte ihm seine Frau.

Am St. Georgs Kirchhof tobte Aydin auf dem Spielplatz mit den anderen Kindern von nebenan. Birgit, Peter, Thomas, Angela. Sie lernte Deutsch. "Meine Mutter wollte immer, dass ich lesen und schreiben lerne", erzählt Aydin heute. "Du sollst es einmal besser haben als wir", diesen Satz hörte Aydin oft von ihrer Mutter. Er prägt eine ganze Generation von Töchtern und Söhnen der türkischen Gastarbeiter.

Aydin schaffte, was nur wenigen Kindern von Einwanderern Anfang der 80er-Jahre gelang: Sie ging auf das Gymnasium, machte Abitur und studierte Jura. Nebenbei verkaufte sie Cheeseburger bei McDonald's oder servierte Bier in einem Billardcafé. "Ich wollte auf eigenen Beinen stehen. Meine Eltern mussten so viel arbeiten und hatten selbst so wenig." Deren Geld, sagt sie heute, war viel zu wertvoll, um ihr davon den Führerschein zu finanzieren.

Aydin sitzt in ihrer Anwaltskanzlei an der Neuen Großen Bergstraße in Altona. Wer sie erreichen will, wird oft vertröstet. Frau Aydin sei bei Gericht, Frau Aydin habe eine Besprechung, sie rufe zurück. Seit 2005 arbeitet sie als Anwältin in Altona.

Aydin wollte nie so leben wie ihre Eltern, sagt sie. "Die waren immer erschöpft von dem ganzen Schuften." Vorgesetzte, Schichtdienst, Akkord. Nach der Arbeit in der Werft ging der Vater ins türkische Café und kam oft spät nach Hause. Es gab nicht selten Streit. Finanzielles, auch die Frauengeschichten des Vaters, sagt Aydin. Lange lebte sie mit den Eltern in der Wohnung - und wollte irgendwann nur noch weg. An ihrem 25. Geburtstag, erzählt Aydin, habe die Mutter gefragt, was sie sich wünsche. "Lasst mich endlich los", hat Aydin geantwortet. Der Vater sagte nur: "Wenn du es dir leisten kannst, bitte!"

Heute hat Aydin Geld. Und sie leistet sich Freizeit. Sie spielt Volleyball und sitzt für die Grünen in der Bezirksversammlung in Mitte. "Ich bin Türkin mit deutschem Pass", sagt Aydin. Sie habe sich immer gefragt, wann die Eltern zurückkehren in die Türkei. Der Vater kaufte ein Haus in Istanbul, in den Schränken des Schlafzimmers sammelten die Eltern Toaster, Mixer und Bügeleisen für den Haushalt in der Heimat. Aydin selbst stellte sich die Frage nach der Heimat nie. Für sie gab es immer nur ein Leben: das in Deutschland.

Aydin hat ihren Eltern früher vorgeworfen, dass sie so wenig Zeit für ihre Kinder hatten. "Aber sie wussten es eben nicht besser." Heute machten sie es anders. "Es sind liebe Menschen", sagt sie. Aydin ist oft zu Besuch bei ihnen zum Abendbrot, wenn auch die Geschwister Zeit haben. Vor ein paar Jahren haben sie für ihre Eltern eine Wohnung in Winterhude gefunden. 2,5 Zimmer, 70 Quadratmeter, Neubau mit Balkon. Nicht für sieben Menschen, wie damals in St. Georg, sondern nur für die Eltern, die heute 73 und 83 Jahre alt sind. Das Haus in der Türkei haben sie längst verkauft.