Hamburg. Wieso hört der denn auf?, fragt man sich. Mit der Statur und der Ausstrahlung könnte man den Mann fast noch als Jung-Siegfried besetzen. Aber er meint, für ihn sei die Zeit des Ruhestands gekommen. Die leuchtende, grau-weiße Lockenpracht durch einen pinken Zopfgummi gebändigt, schaut Holger Badekow mit warmem Braunaugenblick und rosigem Teint in die Welt und wirkt wie das blühende Leben. Seine Worte relativieren den Eindruck heiter gelassener, ewiger Jugend: „Ich hatte vor fünf Jahren einen Herzinfarkt und habe fünf Bypässe. Ich habe die Kraft nicht mehr.“
Dem Chef zuliebe hat er noch ein paar Wochen länger gemacht
Das Drücken auf den Auslöser einer Kamera bedarf keiner besonderen Kraft. Auch das Gewicht des Geräts beschwerte ihn nicht über Gebühr. Und anders als viele Berufsfotografen, die mit Koffern voller Kameras, mit Licht und Stativen von Termin zu Termin hetzen, konzentrierte sich Holger Badekow 42 Jahre lang im Wesentlichen auf zwei Schauplätze: den Probensaal des Balletts und die Bühne der Hamburgischen Staatsoper. Tänzer eines Hauses mit dem je verfügbaren Licht fotografieren – das klingt nach einem beschaulichen Job. Je weiter man weg ist vom jahrzehntelangen alltäglichen Tun Badekows, desto entspannter, vielleicht auch glamouröser stellt man sich die Tätigkeit vor, die der Haus- und Hoffotograf des Hamburg Balletts von John Neumeier von Herbst 1973 bis Ende Dezember 2015 ausgeübt hat.
Holger Badekow war nicht nur Neumeiers Fotograf. Er war auch sein Grafiker, zuständig und verantwortlich für Programmhefte, Poster, Jahrbücher, großformatige Wandkalender. Von der Arbeit an den Plakaten sagt er: „Ich wollte immer mehrerlei erzählen in einem Bild. Bei Johns Sachen muss man die Atmosphären rausfinden.“
Schon im Oktober hätte er aufhören können. Dem Chef zuliebe hat er noch ein paar Wochen über das Erreichen der Altersgrenze hinaus gearbeitet. „John wollte, dass ich die ‚Duse‘ noch dokumentiere“, sagt Badekow.
Die Bearbeitung der Bilder war anstrengender, als das Fotografieren selbst
Die kleine Nachspielzeit hat sich für ihn unbedingt gelohnt. Auch wenn er „bis zuletzt rumgefummelt“ hat am Programmheft und am Plakat. „Man sitzt Tag und Nacht, macht Bilderkorrekturen. Man muss den Standard halten“, sagt Badekow. So, wie er spricht, spürt man den sachten Widerstand eines Bedächtigen gegen die Anforderungen der schnelllebigen Zeit, gegen das Diktat der Farbe, gegen den Computer und die Digitalfotografie. Im Grunde seiner Künstlerseele ist Holger Badekow noch immer ein passionierter Schwarz-Weiß-Fotograf, der am liebsten nur mit analogem Material arbeitet und bis zuletzt die Kontrolle über den Filmentwicklungsprozess behält. Viel weniger wohl als das Fotografieren selbst hat ihn das ganze Drumherrum, die grafische Nachbearbeitung und Auswertung seiner Bilder, Kraft gekostet. Und, bei aller Freude daran, auch das Reisen mit der Compagnie. Denn auch auf Tournee war Holger Badekow 42 Jahre lang immer dabei.
Jetzt, wo er das über Jahre in die Höhe gewachsene Fries an fotografischen Erinnerungsstücken von den Wänden seines Arbeitsraums im Ballettzentrum wird abnehmen müssen, beschleicht ihn schon immer mal der Horror Vacui. Wie wird es sein, sein Leben als Privatier, wenn er hier raus ist? Gibt es überhaupt ein Leben nach dem Leben im Ballettzentrum und in der Staatsoper, Parkett rechts, Reihe 25, Platz 1, von dem aus er mit dem 400er-Teleobjektiv das Bühnengeschehen an unzähligen Abenden live verfolgt hat? Um dort womöglich erst die richtigen, die echten, die wahren Tanzfotos zu schießen, weil Bühnenkünstler eben manchmal und unverhofft erst in der x-ten Repertoirevorstellung plötzlich eine Magie entfalten, die man auf den von Badekow etwas herablassend „Knipselsenveranstaltungen“ genannten Fotoproben wenige Tage vor der Premiere ebenso wenig zu sehen bekam wie auf den Proben im Ballettsaal?
Natürlich gibt es ein Leben danach. „Ich werde immer weiterfotografieren“, sagt Holger Badekow und klingt fürs Erste ganz abgeklärt. Erzählt von seiner riesigen Filmesammlung, vom Archiv, das es zu ordnen gilt, von ungehobenen Schätzen darin, auch von der weit über sein halbes Leben dauernden Liebe zu demselben Mann, mit dem er eine Altbauwohnung („unsere kleine Bruchbude“) in der Innenstadt teilt. Später sagt er dann leise, dass das Aufhören für ihn ganz schwer ist. Ganz doof, ganz furchtbar und emotional.
Badekow selbst unterrichtete zehn Jahre lang Tanz und Ballett
Alles andere wäre auch merkwürdig. Der in Altona aufgewachsene Selfmade-Fotograf, der in den ersten vier Grundschulklassen von Loki Schmidt unterrichtet wurde, war das Auge, nein: das visuelle Herz der Compagnie. Er hat in demselben Jahr angefangen, in dem John Neumeier nach Hamburg kam. Im deutschen Ölkrisen-Herbst, an einem Oktobertag 1973, stellte der Tänzer Max Midinet ihn auf der Großen Theaterstraße, neben den Schaukästen der Staatsoper, dem charismatischen, jungen Ballettdirektor vor. Er sei sofort fasziniert gewesen von diesem ungemein fokussierten, dabei ganz in seiner eigenen Welt lebenden Menschen. Badekow durfte fotografieren und bei Neumeier eine kleine Rolle im Bewegungschor bei „Romeo und Julia“ verkörpern, einen Kavalier.
„Ich glaube nicht, dass ich je das Niveau eines Tänzers erreicht hätte“, sagt er heute. Dabei unterrichtete Badekow zehn Jahre lang selbst Tanz, Ballett und freie Improvisation. Die eigene Erfahrung hat ihm ein intuitives Wissen über die Proportionen des Menschen in Bewegung eingepflanzt und wie solche lebenden menschlichen Skulpturen zweidimensional adäquat abzubilden seien. Tänzer zu fotografieren ist alles andere als einfach.
Zum Abschied überreicht Neumeiers fotografischer Eckermann dem Besucher ein Buch, das er 2013 anlässlich des 40. Jubiläums von Neumeier in Hamburg mit dem langjährigen Ballettdramaturgen André Podschun gestaltet hat. Der Band riecht nach Weihrauch. Akribisch sind alle Tänzer dokumentiert, die je zur Compagnie gehörten, alle Uraufführungen und Produktionen, Freundschafts- und Ergebenheitsadressen von Kollegen, Bewunderern, Weggefährten. Er ist ein Liebesdienst an alle Fans und an John Neumeier. Zu Badekows Glück tat der perfektionistische Chef mit der Fotoauswahl und dem Layout etwas für ihn Ungewöhnliches. Er wollte auf den 465 Seiten nichts geändert haben.
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