Marvin Willoughby ist eine imposante Gestalt. 2,02 Meter groß, schlank, athletisch, Frauen wie Männer würden sagen gut aussehend. Wenn er heute durch Wilhelmsburg geht, drehen sich viele Menschen nach ihm um. Jüngere, vor allem die, sprechen ihn auch an. Willoughby bleibt dann meist kurz stehen, wechselt ein paar freundliche Worte, lächelt; mit Kids, die er kennt, klatscht er sich ab.
Der 37-Jährige genießt hohes Ansehen und großen Respekt. Und wenn die Hamburg Towers, der neue, aufstrebende Basketballclub der Stadt, mit dem Slogan „More than Basketball“ werben, trifft das im Besonderen auch auf deren Geschäftsführer und Spiritus Rector zu. Marvin Willoughby ist mehr als der Basketballprofi und -nationalspieler, der er mal war. Er ist Sportlehrer, Nachwuchstrainer, Sozialarbeiter, Erzieher, Manager, Unternehmensberater, nicht zuletzt Familienvater – und wohl der bekannteste und beliebteste Einwohner des Stadtteils. Er hat Wilhelmsburg in den vergangenen Jahren eine neue Identität gegeben.
Vor 25 Jahren lebte Willoughby, Sohn eines Nigerianers und einer Deutschen, bereits hier. Er wurde in Wilhelmsburg geboren. 1990 war er 13 Jahre alt, spielte Fußball, Schach, Basketball in der Schulmannschaft oder allein auf der Straße, machte Kampfsport, besuchte die Gesamtschule, die heute den Namen Nelson Mandelas trägt. Er versuchte wegen seiner Hautfarbe nicht aufzufallen. War er unterwegs, zog er den Kopf ein, duckte sich, hörte weg, wenn in der S-Bahn oder im Bus wieder mal rassistische Sprüche fielen. Die Worte hat er bis heute nicht vergessen, auch nicht deren ausländisch klingenden Akzent und die falsche Grammatik jener Sätze.
Blühende Landschaften hatte der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) bei der politischen Zusammenführung des Landes den Ostdeutschen versprochen. Für die Wilhelmsburger mögen solche Aussagen wie Hohn geklungen haben. Ihr Stadtteil schien vom Rest Hamburgs uneinholbar abgehängt, die Wiedervereinigung auf unabsehbare Zeit verschoben, der Fluss, der den Norden vom Süden kulturell und wirtschaftlich trennt, eine unüberwindbare Mauer in den Köpfen.
Und wenn Willoughby mal den Sprung über die Elbe wagte, bekam er zu hören: „Was, du kommst aus Wilhelmsburg? Ey, das ist ja echt krass. Wie bist du da rausgekommen? Wo sind dein Messer und deine Pistole? Zeig mal deine Schusswunden!“ Oder: „Wieso kannst du überhaupt so gut Deutsch sprechen?“ Diese Erlebnisse haben ihn geprägt, erzählt er. „Wir waren die Kanaken. Ich wurde ständig mit negativen Dingen konfrontiert. Das war für einen Heranwachsenden extrem frustrierend. Mein Traum ist es jetzt, dass die Hamburger irgendwann mal sagen werden: Hey, du kommst aus Wilhelmsburg, das ist doch dort, wo dieser geile Basketballclub spielt!“
Die Towers locken die Hamburger jetzt sonntags nach Wilhelmsburg
Ganz so weit ist es noch nicht. Was Garten- und Bauausstellung nicht geschafft haben, könnte den Towers nun gelingen. Schon in ihrer Premierensaison in der Zweiten Basketball-Bundesliga ProA, in der sie dank einer rund 100.000 Euro teuren Wildcard mitspielen durften, konnten sie erste Brücken in den Norden Hamburgs schlagen. Acht Minuten braucht die S-Bahn vom Hauptbahnhof für die drei Stationen bis nach Wilhelmsburg.
Wenn die Towers sonntagnachmittags spielen, sind die Waggons überfüllt. Auch im Parkhaus am Kurt-Emmerich-Platz, benannt nach dem beliebten HSV-Reporter des NDR, gibt es dann kaum freie Plätze, der Verkehr auf der zweispurigen Neuenfelder Straße kommt vor dem Tipp-off und nach der Schlusssirene zum Erliegen. „Die Wilhelmsburger haben so etwas noch nicht erlebt. Doch die finden das richtig cool, wie angesagt sie plötzlich sind“, sagt Willoughby.
Sein Erstaunen teilt Innen- und Sportsenator Michael Neumann: „Der Club hat in einem halben Jahr mehr für die Bekanntheit und Akzeptanz des Stadtteils geleistet als zuvor die vielen Millionen, die die Stadt in die Entwicklung Wilhelmsburgs gesteckt hat.“ Der SPD-Politiker hatte sich vergangenen Sommer als einer der Ersten eine Dauerkarte gekauft. Sein Kommen zu den meist mit 3000 Zuschauern ausverkauften Heimspielen in der Inselparkhalle hat er nie bereut: „Das war immer Unterhaltung vom Allerbesten, egal wie das Spiel auch ausging.“ Meistens gewannen die Towers.
Es war vor diesen rund 25 Jahren, als das Leben Willoughbys eine Wende nahm. Im Schulsport-Wettbewerb „Jugend trainiert für Olympia“ hatte sich sein Basketballteam bis ins Hamburger Finale geworfen. Dort fielen die Athletik und Schnelligkeit des Jungen sofort auf. Auswahltrainer Peter Lazar erkannte das Talent, empfahl ihm, sich einem Verein anzuschließen. Willoughby ging zur TS Harburg. Zweieinhalb Jahre später unterschrieb er, gerade 16, Jugend-Nationalspieler, seinen ersten Profivertrag. Steiner Bayreuth, damals eine der ersten Adressen der Basketball-Bundesliga, wollte sich seine Dienste frühzeitig sichern. Willoughby sollte niemals für diesen Club spielen.
Der Verein aber ermöglichte es ihm, 1994 in die USA zu gehen, nach Orange Park im Bundesstaat Florida auf die dortige Public School, bezahlte die Kosten des Aufenthalts. Willoughbys Mutter, nach der Scheidung alleinerziehend, stimmte schweren Herzens zu, nahm ihrem Sohn jedoch das Versprechen ab, nach der Rückkehr das Abitur zu machen. Aus dem einen Jahr in Amerika wurden zwei, eine Privatschule in Richmond (Virginia) gab Willoughby ein Stipendium.
Nach dem High-School-Abschluss buhlten mehrere Colleges um ihn, der junge Deutsche hatte im Basketball, aber auch im Football Eindruck bei den Scouts hinterlassen. So gern er auch geblieben wäre, seine Mutter mahnte ihn, an die Verabredung zu denken. Willoughby kehrte nach Wilhelmsburg zurück, machte Abitur, spielte von 1996 bis 1998 bei Rist Wedel in der Zweiten Bundesliga Nord. Einen Basketball-Erstligaclub gab es damals – wie heute – in Hamburg und Umgebung nicht.
1998, Bayreuth hatte inzwischen finanzielle Probleme, wechselte Willoughby zur DJK Würzburg, dem Verein seines Freundes Dirk Nowitzki, mit dem er die Jugendnationalmannschaften durchlief, an drei Nachwuchs-Europameisterschaften teilnahm, mit dem er später bei der A-Nationalmannschaft das Zimmer teilte. Auch wenn sich die Wege der beiden im Alter von 18 Jahren trennten, der Freundschaft tat es keinen Abbruch.
Für die Zeit vom 21. bis 23. August, wenn Nowitzki beim Supercup, einem Viernationenturnier, in Wilhelmsburg gegen die Türkei, Lettland und Polen auf Korbjagd geht, haben sich dessen Eltern bei den Willoughbys einquartiert. Die Dirk-Nowitzki-Stiftung unterstützt seit Jahren Willoughbys soziale Projekte.
Während Nowitzki in der nordamerikanischen Basketball-Profiliga bei den Dallas Mavericks zum Weltstar aufstieg, schaffte Willoughby den Sprung in die NBA nicht. Deren Clubs sichten bei Sommercamps Talente aus allen Teilen der Welt. „Einmal war es knapp, letztlich war ich wohl technisch nicht gut genug“, sagt Willoughby. In Würzburg und Köln spielte er Bundesliga, in Italien und Frankreich kurzzeitig im Ausland. Mit Köln gewann er 2004 und 2005 den deutschen Pokal.
Höhepunkt seiner 35 Länderspiele war das EM-Halbfinale 2001 in der Türkei. Die Deutschen verloren gegen die Gastgeber nach ständiger Führung in letzter Sekunde. Ende 2005, mit 27, musste Willoughby seine Laufbahn nach drei Operationen am rechten Sprunggelenk beenden, „bevor die besten Jahre als Basketballer begonnen hatten“. Wehmut klingt dennoch nicht bei ihm durch. „Profisportler sein zu dürfen, ist ein Geschenk. Du kannst nicht sauer sein, wenn du mal kein Geschenk bekommst.“ Während der Reha in Köln lernte er seine Ehefrau Sophie kennen, eine Volleyballerin, die sich beim Skilaufen das Kreuzband gerissen hatte. Das Paar hat zwei kleine Jungen.
Ohne die Verletzung wäre Willoughby vielleicht nie die allseits anerkannte Persönlichkeit geworden, die er heute ist. Seine zweite Karriere hat Spuren in der Stadt hinterlassen. Er organisiert mit Freunden Basketballcamps für Kinder, er geht in Schulen, in Problemviertel, treibt mit Jugendlichen Sport, lehrt sie, sich an Regeln zu halten, „wie wir gut zusammenleben und effektiv zusammenarbeiten können“.
Lehrer, Schulleiter, Behörden waren begeistert und sind es bis heute. Der ehemalige Sportamtsdirektor Thomas Beyer bestand vor drei Jahren darauf, dass nur Wilhelmsburg Standort eines Profiteams werden dürfte, wenn das Projekt Unterstützung aus der Stadt erfahren sollte. Die finanzierte dann 2013/2014 den Umbau der Gartenschau-Blumenhalle zur Basketball-Arena.
Irgendwann mal das zurückgeben, was er von anderen als Zuwendung empfangen habe, sei immer sein Antrieb gewesen. Jan Fischer, den er vor 20 Jahren als Basketballer bei Rist Wedel kennen lernte, hat ihn früh darin bestärkt. Mit dem späteren Soziologen, heute Willoughbys Partner und Gesellschafter bei den Towers, und weiteren Freunden gründete er 2006 den Verein Sport ohne Grenzen, 2011 die Inselakademie, startete das erfolgreiche Schulprojekt „Lern 4 Life“. Seit sieben Jahren bildet er mit seinem Trainerteam talentierten Basketball-Nachwuchs bei den Piraten Hamburg für die Jugend- und Nachwuchs-Bundesliga aus. Seiner Mutter kaufte er im Jahr 2000 von seinem ersten verdienten Geld als Basketballer eine Wohnung in Ottensen.
Der junge Stadtteil Wilhelmsburg hat vor allem ein ökonomisches Problem
„Das habe ich in den USA gelernt, dass man als guter Sohn zuerst was für seine Mutter tut. Sie hat für mich und meine Schwester alles gegeben, was in ihren Kräften stand. Unsere Verhältnisse in Wilhelmsburg waren schwierig. Uns wurden wiederholt Wasser und Strom abgestellt. Ich wollte einfach, dass es ihr besser geht.“
Auch Marvin Willoughby zog es nach seiner Rückkehr zunächst nach Eimsbüttel. Heute lebt er mit seiner Familie wieder auf der Elbinsel. „Ich mag das Wort zwar nicht, aber ich bin schon stolz, Hamburger und Wilhelmsburger zu sein. Ich war zehn Jahre lang weg und weiß zu schätzen, was hier möglich ist. Hamburg ist eine tolerantere Stadt geworden, in der es sich zu leben lohnt.“
Die Politik, mahnt er, mache aber einen Fehler, wenn sie die bestehenden Probleme Wilhelmsburgs nur als kulturelle Herausforderung begreift. „Wilhelmsburg ist Hamburgs Stadtteil mit der im Durchschnitt jüngsten Bevölkerung. Hier leben Leute, die später mal unsere Renten zahlen sollen. Aber 70 Prozent der Menschen beziehen Sozialleistungen.
Das ökonomische Problem ist größer als das kulturelle. Wilhelmsburg kann nur weiter aufholen, wenn deutsche Familien hier nicht nur wohnen wollen, sondern auch ihre Kinder hier zur Schule schicken. Das geschieht im Moment nur in Ausnahmefällen. Dies schnell zu ändern, sollte unsere wichtigste Aufgabe sein.“ Marvin Willoughby arbeitet täglich daran.
Nächsten Donnerstag in Folge 8 unserer Serie:
Hotelier Kai Hollmann
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