Hamburg. Der junge Mann, der an einem heißen Sommertag in der Zentrale des Hamburger Otto-Konzerns erschien, war dem Sicherheitspersonal ein wenig suspekt. Rote Shorts, T-Shirt, Rastalocken? Nein, so einer konnte eigentlich keinen Termin beim Topmanagement haben. „Fast hätte mich der Pförtner nicht durchgelassen“, erzählt Tarek Müller amüsiert. „Ich bin wohl der Erste gewesen, der in kurzen Hosen in die Vorstandsetage marschiert ist.“
Tatsächlich hatte der junge Mann im Strandoutfit einen Termin mit dem stellvertretenden Vorstandsvorsitzenden Rainer Hillebrand. Der wollte den damals 19-Jährigen als Berater für den weltweit zweitgrößten Online- und Versandhändler gewinnen. Trotz seines jugendlichen Alters galt Müller nämlich schon damals als Internetexperte und mehrfacher Unternehmensgründer.
Heute, mit gerade einmal 26, ist der Sohn einer ägyptischen Ärztin und eines Hamburger Radiojournalisten einer der Hoffnungsträger des Milliardenkonzerns. Müller ist Chef des vor einem Jahr gestarteten Projekts Collins, das mit Internetseiten wie About You oder Edited den Onlinehandel mit Mode neu denkt und Antworten auf Konkurrenten wie Zalando und Amazon geben soll.
Bis vor Kurzem hat er sich den Chefposten noch mit dem Enkel des Konzerngründers Benjamin Otto, 39, geteilt. Doch seit sich dieser früher als erwartet aus dem operativen Geschäft verabschiedet hat und sich ganz auf strategische Planung in der Gesamtgruppe konzentriert, schultern Müller und zwei Kollgen die Führungsaufgaben ohne ihn. Der eigentliche Kopf hinter Collins war Müller schon vorher.
Die Verantwortung, die auf dem gebürtigen Harburger lastet, sieht man ihm nicht an, so wie er mit zurückgebundener Rastamähne und gewinnendem Lächeln im Konferenzraum von Collins an der Domstraße sitzt. Um ihn herum wuseln etwa 230 Angestellte auf drei Etagen, programmieren neue Codes für die Onlineshops, bestellen Kleider, planen Fotostrecken oder beantworten Kundenanfragen.
Mehrere Hundert Millionen Euro lässt sich der Konzern das Projekt für eine junge, vornehmlich weibliche Zielgruppe kosten. Manch einer würde in so einer Situation privat wie beruflich die Bodenhaftung verlieren. Müller, der keinen Führerschein besitzt, kommt täglich mit dem Fahrrad zur Arbeit. In seinem letzten Urlaub ist er mit dem Rucksack durch Thailand gereist und hat in Billigherbergen übernachtet. Luxushotels findet er langweilig.
Das Selbstvertrauen, das der Collins-Chef ausstrahlt, mag damit zu tun haben, dass er in einem Alter, in dem andere gerade ihr Studium abschließen, schon eine beeindruckende Karriere im E-Commerce vorzuweisen hat. Neun Firmen hat er selbst gegründet, an 20 hält er Beteiligungen, darunter sind der Computerhersteller Protonet oder das Hamburger Delikatessenlabel Deli Garage. Einmal ist Müller fast pleitegegangen und stand vor der Privatinsolvenz. „Das war quasi mein Crashkurs in BWL“, sagt er.
Schon als 13-Jähriger in Harburg entdeckte Müller seine Leidenschaft für das Internetgeschäft und für harte Arbeit. Um die Kosten für Computerspiele zu finanzieren, programmierte der Schüler eine Website und band darin Werbung ein. 15 Euro pro Monat verdiente er damit. „Das war für mich viel faszinierender als zu daddeln.“ Ganze Nächte verbrachte Müller damit, die Internetseite zu optimieren, sie bei Google besser auffindbar zu machen und sich weitere Seiten auszudenken, über die er Werbung verkaufen konnte. Schule oder Schlaf? Eher Nebensache. Noch heute scheint der Collins-Chef Nachtruhe für überbewertet zu halten. Er arbeitet meist bis spät in den Abend hinein, checkt Mails zwischen 19.30 Uhr und 22 Uhr und schaut bis drei Uhr früh, ob neue Tools auf der Internetseite auch richtig funktionieren.
Mit 15 Jahren stieg Müller in den Onlinehandel ein. Er baute einen Shop für Pokerkoffer mit Karten und Chips und einen anderen für orientalische Wasserpfeifen auf. Nicht, weil er einen Hang zum Glücksspiel oder zu Shishas mit Apfeltabak gehabt hätte. „Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich nicht ein einziges Mal Wasserpfeife geraucht.“ Der Jungunternehmer hatte schlicht die Suchanfragen bei Google und die Verkäufe auf Ebay analysiert und festgestellt, dass sich hier ein interessanter Markt abzeichnete.
Während Müllers Mutter die Aktivitäten ihres Sohnes eher skeptisch beäugte und zumindest auf ein Fachabitur drängte, unterschrieb der Vater den Gewerbeschein für den Minderjährigen. Die Wasserpfeifen orderte Müller im Großhandel und deponierte sie im Kleiderschrank seines Kinderzimmers. Nach der Schule holte er die neue Ware ab, packte Tausende Pakete. Schnell wuchs das Geschäft, Müller mietete eine Lagerhalle mit 400 Quadratmetern an, der Umsatz seiner Onlineshops erreichte die Millionen-Euro-Grenze.
Mit 17 kam der Rückschlag. Müller hatte versucht, seine Wasserpfeifen statt in Ägypten in China zu ordern, doch der Produzent, dem er Vorkasse geleistet hatte, lieferte nicht. Die hohen Fixkosten liefen weiter, Kunden warteten auf ihre Waren. Aus der Not heraus musste Müller seine Shops verkaufen, um seine Gläubiger zu bedienen und saß trotzdem noch auf rund 100.000 Euro Schulden. „Ich war jung und naiv und habe damals unglaublich viel Geld versemmelt“, sagt er.
Andere hätten in dieser Situation wohl schon genug vom Unternehmertum gehabt, doch Müller machte mit Praktika in großen Hamburger Firmen weiter. Unter anderem arbeitete er für den Werbe-Guru Stefan Kolle, analysierte während des Praktikums die Schwächen der Agentur im Onlinebereich und machte danach Angebote, um die Auftritte der Werber zu verbessern.
Parallel dazu baute er diverse Internetdienstleister wie NetImpact oder die Managementberatung eTribes auf. Oft arbeitete er in den Räumlichkeiten seiner Kunden und schaute sich dabei deren Handels-Geschäftsmodelle ab. Das Wachstum seiner Firmen finanzierte der Hamburger aus den laufenden Einnahmen – ohne Risikokapitalgeber. 2013 hatte er rund 100 Mitarbeiter in sechs Firmen und war auf dem Sprung, mit NetImpact in die USA zu expandieren. „Ich hatte sogar schon ein Flugticket ins Silicon Valley und große Kunden an der Angel.“
Doch da kam das Angebot vom Otto-Konzern, „etwas ganz Großes“ im Onlinehandel mit Mode für eine junge Zielgruppe zu machen. Müller verkaufte NetImpact und andere seiner Unternehmungen an den Konzern und widmete sich dem Projekt Collins. Allerdings nicht, ohne zuvor ein Höchstmaß an Freiheit inklusive Erfolgsbeteiligung für sich ausgehandelt zu haben.
Neu ist an den von Müller verantworteten Modeportalen vor allem die Art der Verkäufe. Die Produkte selbst sind es nicht, stammen vielmehr von den üblichen Verdächtigen wie Marc ’OPolo, Tommy Hilfiger oder Adidas. Wer auf About You seine Kleidergröße und diverse andere Daten wie Lieblingsfarbe oder Lieblingsstars preisgibt, bekommt speziell auf ihn oder sie zugeschnittene Angebote – gern auch im täglichen Nachrichtenfeed wie in sozialen Netzwerken.
Als Müller das Projekt vor einem Jahr in einer alten Fabrikhalle in Ottensen präsentierte, da war viel von Technik und vergleichsweise wenig von Mode die Rede. Es ging um sogenannte Apps, die externe Entwickler für About You programmieren konnten, etwa um den Dresscode in einem angesagten Nachtclub anzuzeigen. Dieses offene Geschäftsmodell verfolgt Müller zwar immer noch, doch den Menüpunkt „Apps“ sucht man heute auf der Internetseite vergebens. Vielmehr verstecken sich unter dem Punkt Inspiration diverse Spielereien wie Farbberatungen, Modeblogs oder ein Gürtelkonfigurator, der die Kunden so lange wie möglich auf der Seite halten sollen.
In zwei Jahren soll der Collins-Umsatz auf mehr als 100 Millionen Euro steigen
Ob das alles bei der vor allem weiblichen Kundschaft ankommt, lässt sich noch schwer abschätzen. Bislang sind die Vorstände im Otto-Konzern voll des Lobes über die Entwicklung der Tochtergesellschaft, deren Umsatz nach Abendblatt-Informationen im ersten Geschäftsjahr bei rund 25 Millionen Euro gelegen haben dürfte. Chef Müller spricht offiziell von einem „zweistelligen Millionenbetrag“.
In zwei Jahren soll Collins mindestens 100 Millionen Euro Umsatz erwirtschaften, dabei helfen soll die geplante Expansion nach Österreich und in die Schweiz, sowie in weitere europäische Länder. „Schwarze Zahlen erwarten wir in vier bis sechs Jahren“, sagt Müller. „Wir könnten auch schneller in die Gewinnzone kommen, haben aber entschieden, erst einmal auf Wachstum zu setzen.“
Wie lange Müller selbst bei Collins und in der Otto Group bleiben wird, darüber schweigt er sich aus. „Momentan bin ich hier sehr glücklich“, sagt er. Langfristig kann er sich allerdings vorstellen, wieder andere Unternehmen zu gründen, auch im Non-Profit-Bereich. „Interessant wäre, das Know-how bei der Analyse großer Datenmengen für die Politik und alle Bürger nutzbar zu machen“, sagt er.
Eine Aufgabe im Konzernvorstand kommt für den Collins-Chef jedenfalls nach eigenen Worten nicht in Betracht. Wohl auch deshalb, weil er sich dann häufiger in einen grauen Anzug zwängen müsste.
Mehr Artikel aus dieser Rubrik gibt's hier: Hamburg