Rosamunde Pietsch ist gestern 100 Jahre alt geworden. Sie war die „Frau der ersten Stunde“ bei Hamburgs Polizei – und kann entsprechend viel erzählen.

Hamburg. Diese Sache mit den Hosen ist eine Anekdote, die ihre Schwester ganz besonders gern erzählt: „Sie wollte nicht, dass ihre Polizistinnen Hosen trugen.“ Keine Hosen, nur Röcke durften sie. Rosa, erzähl doch mal! Aber dann muss erst der Sessel aufgerichtet werden, elektronisch, mit Fernbedienung; der Hosenstoff glatt gestrichen werden. Na ja, sagt sie, so war das halt damals: „Ich hab immer gesagt, eine Hose verführt leicht dazu, mal so einen Klaps auf den Hintern zu geben.“ Einen Klaps, auf den Hintern. „Oh, da bin ich aber von den männlichen Kollegen angegriffen worden.“ Albern sei das, habe es geheißen. Pietsch lacht, winkt ab.

Ihr Blick fällt auf Koppeln und Felder. Spärliches Grün am Kornhoob. Der Flughafen ist nicht weit, dröhnende Flugturbinen. Norderstedt – große Gärten, altes Reetdach neben Architektenträumen, bürgerliche Idylle. Fünf Kilometer nur sind es bis nach Langenhorn, der alten Heimat. Von dort, von Hamburg aus, hatte sich ein Zug in Bewegung gesetzt, am gestrigen Montag. Eine Prozession könnte man sagen, nicht zu Fuß, motorisiert. Der Polizeipräsident. Der alte Polizeipräsident auch. Der Innensenator. Und ja, auch der Bürgermeister. Der Bürgermeister! Betonung auf der dritten Silbe. Sie muss ein bisschen lachen. Aber so ist das halt, wenn man 100 Jahre alt wird. 100 Jahre! Das ist schon was Besonderes! Da muss sie gleich noch mal schmunzeln.

Sie hat die Geschlechterrollen neu definiert

Wobei, sie ist nicht die Älteste hier. Das hatte die Pflegeschwester des Altenheims schon beim Hinaufgehen gesagt: „Zwei 103-Jährige haben wir noch.“ Ein Ort zum Altwerden. Die anderen sind vielleicht älter, aber längst nicht so bekannt, so verdient. Sie hat viel bewegt, angestoßen, war Vorreiterin, hat Geschlechterrollen neu definiert, hat umgekrempelt. Sie hat der Polizei ein moderneres, weiblicheres Antlitz gegeben. Rosemarie Pietsch war Polizistin der ersten Stunde, der Stunde null, wie es heißt. War die erste Leiterin der weiblichen Schutzpolizei, die erste Polizistin im Rang einer Kommissarin. „Mutter der Hamburger Polizistinnen“ wird sie genannt.

Ein erlebtes Jahrhundert, wo fängt man da an? „Am 24. Oktober 1945“, sagt Pietsch. Und dann sprudelt es aus ihr heraus, als wäre es nicht 70 Jahre zuvor, sondern erst gestern gewesen. „An dem Tag wurden wir in die Viktoria-Kaserne in Altona einberufen.“ Fünf Frauen und 20 Männer pauken ein Vierteljahr Grundbegriffe polizeilicher Arbeit. „Bis Weihnachten waren wir in der Schule.“ Die Hälfte des Kasernenblocks war nach einem Bombentreffer nur provisorisch wieder zugemauert worden. „Alles war feucht und kalt. Wir haben nie wieder so gefroren wie in dieser Zeit.“ Sie bekommen alte Luftwaffenmäntel geschenkt. „Die durften wir auch im Unterricht anziehen.“ Der zerschlissene Mantel wird ihre erste Uniform, legitimiert durch eine weiße Binde mit der Aufschrift „Polizei“.

Dass sie Polizistin werden will, weiß sie seit früher Jugend. Bei der Kriminalpolizei gibt es auch vor dem Krieg schon Frauen. Doch die Nazis sperren den Vater ein. Der Polizist, ein SPD-Mitglied, wird des Hochverrats verdächtigt, die Töchter in Sippenhaft genommen. Eine Ausbildung zur Polizistin oder auch Lehrerin, wie sie Schwester Elsa anstrebt, rückt in weite Ferne. Rosemarie Pietsch schlägt sich durch, Akkordarbeit in der Wollfabrik, Kochlehre, Kindermädchen. Die Familie überlebt die schlimmen Bombennächte unbeschadet. Als sie im Januar 1946 als Polizistin auf dem Hachmannplatz am Hauptbahnhof steht, ist sie schon 30 Jahre alt. Ihr Traum ist doch noch in Erfüllung gegangen. Der Vater, von den Alliierten eingestellt, der Kollegen auf ihre Nazivergangenheit durchleuchten soll, gab ihr den Tipp: Die englische Besatzungsmacht sucht Frauen als Schutzpolizisten. Ein Novum. „Es gab ja vorher keine uniformierten Frauen. Ich war eine der Ersten.“

24 Frauen sind sie insgesamt, die auf die Reviere verteilt werden, arbeiten an der Seite ihrer männlichen Kollegen. Auch der Sold ist gleich: 245 Reichsmark bringt sie nach Hause. Es reicht zum Überleben. Der Dienst ist Routine, die Zeiten sind hart: Zwei Stunden Streife, zwei Stunden Innendienst. Ihr wachsamer Blick gilt Kindern und Frauen, die zu überleben versuchen. „Sie müssen sich vorstellen, auf dem Hachmannplatz gab es damals überhaupt keinen Verkehr. An der Ecke zum Würzburger Hof, da verkehrten die Engländer. Und die Kinder stellten sich da hin und bettelten.“ Das gefiel den britischen Soldaten nicht. „Die wollten, dass wir dafür sorgten dass die Kinder nicht da sind.“ Die Gören, sagt sie, und meint es anerkennend, die seien so eine raffinierte Bande gewesen. „Wenn wir aus der Wache im Bieberhaus kamen, dann hatten die einen auf den Platz gestellt, der machte Indianergeheul. Alle waren weg, und wir standen da wie die Dummen.“ Erwischen die Polizistinnen doch mal ein Kind, gibt es Ärger von anderer Seite. „Wir haben die gesamte Bevölkerung gegen uns aufgebracht. Die riefen: Sie sollten sich schämen. Sie wissen doch, die haben Hunger.“

Der große Tiefbunker unter dem Hachmannplatz ist voll mit ausgebombten, heimatlosen Menschen. Nach Razzien unter Tage muss Rosemarie Pietsch von ihrer Mutter immer erst entlaust werden, mit einer Petroleum-Haarwäsche, die ihre Kopfhaut verätzt. „Zu uns kamen Leute barfuß im Winter, denen die Schuhe gestohlen worden waren, obwohl sie darauf geschlafen hatten.“ Sie und ihre Kolleginnen müssen die jungen Mädchen von den Mannschaftsquartieren der Engländer fernhalten. „Reiner Paternalismus“, sagt sie. Im Curiohaus verfolgt sie die Prozesse des britischen Militärgerichts gegen NS-Verbrecher, später auch gegen das Hamburger Polizeibataillon 101, das aktiv am Holocaust beteiligt war. „Alles in allem war es eine schlimme Zeit, aber wir haben sie überlebt. Mein Antrieb war, in diese furchtbare Zeit ein bisschen Ordnung reinbringen zu können.“

Bei Schmidt konnte man immer nur einen halben Satz sagen

Schon am Hauptbahnhof ist sie seit 1948 als Oberbeamtin Vorgesetzte ihrer Kolleginnen, der Beginn einer bis dahin unvergleichlichen Karriere. Sie wechselt an die Davidwache, später nach Bergedorf. „Ich sollte ja so viel wie möglich lernen.“ Moderne blaue Uniformen samt Rock haben da längst die alten Luftwaffenmäntel abgelöst. Pistolen werden an Polizistinnen aber erst viel später ausgegeben. Sie haben Trillerpfeifen, mit denen sie zur Not Hilfe herbeipfeifen. Eindruck macht Rosamunde Pietsch aber auch ohne Waffe. Mit 1,86 Meter Körpergröße überragt sie fast alle anderen. Die Größe liegt in der Familie: „Vater war 2,03 Meter groß, der Bruder 1,97, dann kam ich, dann meine Schwester mit 185,5. Meine Mutter war die Kleinste, mit 1,80. Wenn wir ins Theater kamen, haben die Leute gedacht: Um Gottes willen, hoffentlich setzen die sich nicht vor uns.“

Als einzige Frau ihres Jahrgangs durchläuft sie die Polizeiakademie in Hiltrup (Münster), wird 1954 mit dem Kommissarsrang belohnt. Als Elisabeth II., die frisch gekrönte britische Königin, Hamburg besucht, steht Pietsch auf dem roten Teppich, öffnet die Wagentür. Als Leiterin der weiblichen Schutzpolizei wechselt sie ins Polizeipräsidium, an den Schreibtisch, damals noch am Johannes-Brahms-Platz. 1962 wurde der Neubau am Berliner Tor bezogen. Mit Eifer verfolgt sie den Aufbau der Jugendschutzabteilung, hält enge Verbindungen zum Jugendamt. „Also das ist mein Verdienst, da musste ich meine Vorgesetzten mit weiß ich nicht wie vielen Reden überzeugen.“

Während der Sturmflut 1962 arbeitet sie eng mit dem damaligen Innensenator Helmut Schmidt zusammen, einem Jugendbekannten ihrer Schwester Elsa. „Der war immer so ungeduldig. Während der Lagebesprechung musste jeder sagen, was er machte. Bei Schmidt konnte man immer nur einen halben Satz sagen, dann sagte er schon: Geschenkt!“ Das sei so seine Art gewesen. „So typisch, schnell, schnell.“ Er selbst spreche ja immer so bedächtig. „Komisch, dass er dann immer so schnell ‚Geschenkt!‘ gesagt hat.“

1975 geht sie als Hauptkommissarin in Pension

1975 geht sie in Pension, als Hauptkommissarin, mit 60 Jahren. Mehr Zeit hat sie danach auch nicht. „In unserer Siedlung in Langenhorn gab es immer so viel Gemeinschaftsarbeit. Und ich war wirklich kaum pensioniert, da klingelte das Telefon, ob ich nicht den Seniorenclub übernehmen könnte. Also, ich war sofort voll eingespannt.“ Bis vor zwei Jahren noch lebt sie im Elternhaus. Dann geht es nicht mehr, sie zieht ins Altenheim. Die Schwester kommt im vergangenen Jahr nach. Ein eingeschworenes Team, das sich hält. Es gebe gute und schlechte Tage. „Sie ist gut in Ordnung, da im Kopf. Wenn ich nicht weiß, wo was ist, frag ich sie“, sagt Elsa, mit 93 Jahren die kleine Schwester.

Die letzten 40 Pensionsjahre sind mehr Zeit, als Rosamunde Pietsch als Polizistin gearbeitet hat. Präsent sind die Berufsjahre aber mehr denn je: „Es war ein bewegtes Leben. Ich möchte keinen Tag davon missen. Ich hatte nie ernsthafte Schwierigkeiten, mich in der Männerwelt durchzusetzen. Wurde ich belächelt, habe ich versucht, mich mit Überzeugungskraft durchzusetzen.“ Sie weiß, was sie geleistet hat: „Mein Vorbild hat angeregt und andere Frauen animiert, zur Polizei zu gehen“, sagt sie. „Die Frauen haben sich vorbewegt.“ Schon ihre Nachfolgerin war später erste Revierführerin an der Wache Sedanstraße. Auch so ein Novum. Mittlerweile sind ein Viertel aller Hamburger Polizisten Frauen. Und noch etwas hat sich verändert: Einen Rock trägt heute keine Frau mehr im Dienst.