Die Schauspielerin, Autorin und Regisseurin Liv Ullmann über ihren neuen Film „Fräulein Julie“, ihre besondere Beziehung zur Hansestadt – und den guten Geruch ihrer Oma

Sie war der Star bei der Vergabe der Europäischen Filmpreise im Dezember in Riga. Liv Ullmann macht sich sonst eher rar in der Öffentlichkeit. Als Laudatorin übergab sie in Lettland aber einen der Preise. Wim Wenders, Präsident der Europäischen Filmakademie, nannte die 76-Jährige bei dieser Gelegenheit „eine großartige Frau, die uns die unvergesslichsten Kinomomente gegeben hat“. Sie sah bei dieser Veranstaltung sehr elegant und um Jahre jünger aus. Die Schauspielerin, Buchautorin und Regisseurin ist in jüngster Zeit wieder ziemlich aktiv geworden. An diesem Donnerstag kommt ihr Film „Fräulein Julie“ ins Kino. Das Beziehungsdrama nach August Strindberg hat sie mit Jessica Chastain, Colin Farrell und Samantha Morton in Irland inszeniert. Eine Begegnung.

Hamburger Abendblatt:

Frau Ullmann ...

Liv Ullmann:

Sie kommen aus Hamburg? Das ist ein besonderer Ort für mich. Meine Großmutter war meine beste Freundin auf der Welt und wir haben uns oft über Tante Harriet in Hamburg unterhalten. Wann kann sie zu uns kommen oder wir zu ihr? Aber es hat nie geklappt. Ich weiß nicht einmal, warum nicht. Vielleicht konnte sie es sich nicht leisten. Hamburg war immer die Stadt der Familie meiner Großmutter. Sie hat ihren Ehemann in Dachau verloren, auch ihr Sohn starb im Krieg. Meine Mutter und sie waren keine Freunde. Meine Oma ist sehr einsam gewesen und starb, als ich um die 20 gewesen bin. Hamburg war für mich immer ein Ort, nach dem ich mich sehnte, zu dem ich aber nie gekommen bin. Ich weiß gar nicht, warum ich Ihnen das erzähle.

Vielleicht tut es Ihnen gut, sich an Ihre Großmutter zu erinnern.

Ullmann:

Sie ist jetzt schon so viele Jahre tot, und immer noch rede ich über sie. Ich habe gern bei ihr auf dem Schoß gesessen, und sie hat mir Geschichten erzählt. Ich habe mich bei ihr wunderbar gefühlt und bin dabei oft eingeschlafen. Sie hat so gut gerochen in der Halsbeuge. Es war der Duft von Sicherheit. Ich habe ihn danach immer gesucht, aber ihn lange nicht wiedergefunden. Aber das ist eine andere Geschichte. Kann ich sie Ihnen erzählen?

Natürlich. Bitte!

Ullmann:

Viele Jahre später, ich muss um die 45 Jahre alt gewesen sein, bin ich nach Macao gekommen. Wir haben dort Flüchtlinge besucht, ich sollte etwas über sie schreiben. Da waren viele Boat People aus Vietnam, die unglaubliche Geschichten erzählen konnten. Ein Teil von Macao war durch einen Zaun abgetrennt. Viele der Menschen dort waren an Lepra erkrankt. Ich sollte eigentlich nicht zu ihnen, aber dann kam ein Priester und nahm mich mit. Ich hatte fürchterliche Angst. Eine alte Frau lag auf dem Boden und schluchzte. Ich habe mich zu ihr herabgebeugt und sie trotzdem in den Arm genommen. Sie hörte auf zu schluchzen und duftete im Nacken wie meine Großmutter. Das ist das Wichtigste, was mir je im Leben widerfahren ist. Meine Großmutter war wieder da. Es ist eine Gnade des Lebens, dass es manchmal solche Geschenke verteilt. Und jetzt bringen Sie mir die Erinnerungen an Hamburg zurück.

Sie müssen auf dieser Reise viel Leid gesehen haben.

Ullmann:

Ich habe viel von diesen Leuten gelernt, die nichts mehr besaßen. Aber sie hatten etwas, das wir verlieren, weil wir im Überfluss leben. Ich habe ihre Geschichten aufgeschrieben, denn ich bin eine Erzählerin, und sie haben sonst keine Stimme. Wir sind nicht nur die Zeugen ihres Leids, sondern daran beteiligt.

Eine Erzählerin sind Sie auch als Filmregisseurin. Woher kam die Idee, ausgerechnet „Fräulein Julie“ zu verfilmen?

Ullmann:

Bevor ich „Endstation Sehnsucht“ mit Cate Blanchett inszeniert habe, las ich das Drama noch einmal. Tennessee Williams hat nämlich eine Menge bei August Strindberg geklaut. Eugene O’Neill hat sich auch bei Strindberg bedankt, als er den Literaturnobelpreis gewonnen hat. Vor drei Jahren haben mich auf der Berlinale zwei Produzenten gebeten, für sie einen Film zu drehen. Es sollte um eine Femme fatale gehen. Weil ich „Fräulein Julie“ gerade gelesen hatte, habe ich es vorgeschlagen. Ich habe mir viele Übersetzungen angesehen, aber keine wollte mir so richtig gefallen. Also habe ich es selbst übersetzt. Bei mir darf Julie jetzt Dinge sagen, die sie bei Strindberg nur denkt.

Sie haben ihr eine neue Stimme gegeben?

Ullmann:

Ja, dieses Stück brauchte die Stimme einer Frau, denn Strindberg war kein großer Frauenfreund. Ich habe mich auf drei Charaktere konzentriert. Weil ich nicht zu viel ändern durfte, ist die Musik im Film sehr wichtig. Sie sagt manchmal mehr als Worte.

Sie haben da drei ziemlich gute Schauspieler...

Ullmann:

Wir haben zusammen vier oder fünf Tage lang geprobt und dann in 27 Tagen gedreht. Aber trotz des geringen Budgets sieht der Film opulent aus. Die Schauspieler haben mich bei der Arbeit immer wieder überrascht. Es war ein Segen.

Haben Sie die Julie auch mal selbst gespielt?

Ullmann:

Nein, ich habe mich überhaupt nicht für Strindberg interessiert. Ich stand mehr auf Tschechow und Ibsen. Aber August ist sogar noch unglaublicher. Er geht dorthin, wo es in der menschlichen Seele am dunkelsten ist.

Warum haben Sie in Irland gedreht? Wegen der Finanzierung?

Ullmann:

Nein, weil es englischsprachig sein musste. So etwas in Schweden zu drehen geht nicht. Und in Irland sind wir ja schon als Wikinger gewesen, dort feiert man auch die Sonnenwende wie in Schweden, das geht also in Ordnung. Und dann habe ich das Schloss gefunden. Es war so gut geeignet mit der breiten Treppe für die Herrschaften und der schmalen für die Diener. Es gab sogar einen Tunnel zum Boteneingang, damit die Hochwohlgeborenen ihre Angestellten nicht sehen mussten, wenn sie das Haus betraten oder verließen. Für mich hat das sehr viel mit der Welt zu tun, in der wir heute leben. Wir wollen die nicht sehen, denen es schlecht geht, wir wollen keine Flüchtlinge, wir wollen nichts von den Schmerzen anderer Menschen wissen. Bitte stören Sie nicht unsere wundervolle Gesellschaft!

Was für eine Art Regisseurin sind Sie: streng, provokant oder ganz anders?

Ullmann:

Man kann gute Schauspieler nicht provozieren. Sie können dir doch Dinge zeigen, von denen du gar nichts weißt. Man provoziert niemanden, den man liebt. Auch nicht im Bett. Oder da vielleicht doch? Das ist natürlich eine andere Art von Liebe. Ich möchte jedenfalls weder im Bett noch im Film so sein. Ich möchte, dass die Menschen ihr Bestes geben können. Ein bisschen ungeduldig bin ich mit Menschen, die mich nicht unterstützen, sondern den Film lieber selbst drehen würden. Dann werde ich auch schon mal wütend.

Juliane Köhler, mit der Sie „Zwei Leben“ gedreht haben, hat erzählt, dass Sie sehr viel lustiger sind, als man Sie von der Leinwand her kennt.

Ullmann:

Das ist Ingmars Fehler. Ich habe mit ihm all diese traurigen Filme gedreht. Nun denken die Leute, dass ich wirklich so bin. Ich würde gern mal eine Komödie drehen oder zumindest etwas, was die Menschen zum Lächeln bringt. Ich möchte einfach nur glücklich sein. Juliane und ich hatten eine wunderbare Zeit. Wir haben uns über unser Liebesleben und unsere Familien unterhalten. Sie ist eine sehr schöne Frau und Schauspielerin. Ich bewundere sie sehr.

Was wollen Sie in Zukunft noch machen?

Ullmann:

Ich werde ein Theaterstück adaptieren das ich 2015 in den Nationaltheatern von Norwegen und Schweden aufführen möchte. Ich arbeite auch an einem Buchprojekt das „Blue Hours“ heißt. Es geht um die Stunde in der Dämmerung, wenn alles Mögliche passieren kann, und um das Älterwerden. Als ich noch jung war, hätte ich nie gedacht, dass es mir passiert, und jetzt erlebe ich es selbst.

Epilog: Mit Superlativen soll man sparsam umgehen, aber Ullmann ist nun wirklich eine Leinwand-Legende. Die in Tokio geborene Norwegerin war in ihrer Heimat schon eine bekannte Theaterschauspielerin, als sie zum Kino kam. Der große Erfolg kam mit den Filmen, die sie mit Ingmar Bergman drehte. Immer wieder zeigte sie sich dabei als meisterliche Darstellerin psychisch labiler Frauen, spielte uneitel und differenziert. Die Zusammenarbeit begann 1966 bei „Persona“ und endete 2003 mit „Sarabande“. Dazwischen lagen beispielsweise auch noch die Filme „Szenen einer Ehe“ und „Von Angesicht zu Angesicht“. Für ihre Rolle in Jan Troells „Emigranten“ erhielt sie eine von zwei Oscar-Nominierungen, zahlreiche andere Preise konnte sie gewinnen. Bergman und Ullmann verband mehr als nur ein Arbeitsverhältnis. Ihre gemeinsame Tochter Linn Ullmann, heute eine bekannte Schriftstellerin, wurde 1966 geboren. Sie waren nie miteinander verheiratet, blieben aber auch nach ihrer Trennung Freunde.

Liv Ullmann hat selbst zwei Bücher geschrieben, die Autobiografien „Wandlungen“ und „Gezeiten“. Ab und zu führt sie Regie. Sie hat für zahlreiche karitative Organisationen gearbeitet, unter anderem auch für die Unicef. 2009 inszenierte sie „Endstation Sehnsucht“ am Broadway mit Cate Blanchett in der Hauptrolle, es wurde ein spektakulärer Erfolg.

Vor der Kamera steht Liv Ullmann nur noch selten. Eine Ausnahme machte sie vor zwei Jahren für das Lebensborn-Drama „Zwei Leben“ von Georg Maas. Sie habe vor der Begegnung mit ihr Angst und Ehrfurcht gehabt, erinnert sich Juliane Köhler an die Begegnung mit der Frau, die schon ihre Mutter verehrt habe. Aber dann kam es anders. „Bei den Proben habe ich schon gemerkt, was für ein herzensguter und lustiger Mensch sie ist.“ Sie sei am Set „die Mutter von allen“.

Diese Fürsorglichkeit blitzt wieder auf, als wir uns verabschieden. Wir hatten schon einmal miteinander gesprochen, als sie bei den Nordischen Filmtagen in Lübeck, deren Ehrenpräsidentin sie ist, vor einigen Jahren ihren Film „Trolösa“ vorgestellt hat. „Das ist lange her“, seufzt sie und blickt besorgt. „Ich hoffe, wir haben es damals gut miteinander gehabt.“