Der Verein Mehr Demokratie will die Struktur der Stadt grundlegend reformieren und per Volksentscheid die Schaffung von 23 eigenständigen Kommunen innerhalb des Bundeslandes Hamburg durchsetzen. Das wäre das Ende des bekannten Stadtstaates – und der Beginn des großen Hauen und Stechens. Ein Szenario

Als Steffen Heidrich den kleinen Sitzungssaal betritt, lächelt er souverän. So wie es ein Politiker eben tut, wenn er richtig gute Nachrichten zu verkünden hat. Und der Hauptausschuss, das wichtigste Gremium der Rahlstedter Stadtverordnetenversammlung, wird es als erstes erfahren. „Ich habe immer gesagt, dass es zu unseren wichtigsten Aufgaben gehört, die Wirtschaftskraft Rahlstedts zu stärken“, sagt der Bürgermeister der Stadt im Nordosten Hamburgs. „Und jetzt sind wir einen großen Schritt vorangekommen.“ Was Heidrich nun verkündet, ist die Neuansiedlung eines Betriebes mit 400 Arbeitsplätzen im Gewerbegebiet Höltigbaum-West. Und das bedeutet vor allem: Rahlstedt wird seine Gewerbesteuer-Einnahmen kräftig steigern können. Geld, das die 80.000-Einwohner-Stadt dringend braucht: für die anstehende Sanierung des Gymnasiums Oldenfelde, für die neue Kita, für die seit der Rezession von 2021 ständig steigenden Sozialausgaben. Rahlstedt kann Erfolge gut gebrauchen – und Bürgermeister Heidrich auch. Im nächsten Jahr muss er sich der Direktwahl stellen – und der 52-Jährige braucht noch eine Amtsperiode, bevor die Pension gesichert ist.

Zeitgleich tritt auch Stephanie Meyer-Lamprecht vor ihren Hauptausschuss. Sie blickt die Stadtverordneten ernst an. So wie es eine Politikerin eben tut, wenn sie schlechte Nachrichten zu verkünden hat. „Ich habe immer gesagt, dass es im Wettbewerb um Gewerbebetriebe in Hamburg keine Chancengleichheit gibt“, sagt Eimsbüttels Bürgermeisterin. „Wir haben alles versucht, aber wir konnten die Abwanderung nach Rahlstedt nicht verhindern.“ Sie beklagt die hohen Grundstückspreise in ihrer dicht besiedelten Stadt und die niedrigen Gewerbesteuersätze in Rahlstedt, mit denen Firmen weggelockt würden. Nun verliert Eimsbüttel einen seiner wichtigsten Gewerbesteuerzahler. Dabei braucht man das Geld dringend: für die anstehende Schulsanierung am Kaifu-Gymnasium, für die neue Kita und die ständig steigenden Sozialausgaben. Und Meyer-Lamprecht braucht dringend Erfolge – im nächsten Jahr muss sie sich der Direktwahl stellen.

Im Herbst 2014 gibt es keine Bürgermeister namens Heidrich oder Meyer-Lamprecht, es gibt auch keine Städte namens Rahlstedt oder Eimsbüttel. Doch in zehn bis 15 Jahren könnte das die Realität sein. Denn es gibt eine Debatte um die große Hamburger Kommunalreform. Angestoßen wurde sie von Mehr Demokratie, einem kleinen, aber ungemein einflussreichen Verein, der nach mehreren Wahlrechtsreformen nun per Volksentscheid den ganz großen Wurf plant. Hamburg soll kein Stadtstaat mehr sein, sondern ähnlich wie ein Flächenland regiert werden. Statt sieben Bezirken soll es eine größere Zahl von Kommunen auf Hamburger Gebiet geben, in einem ersten Entwurf ist von 23 die Rede – und die sollen alle Rechte und Pflichten bekommen, wie sie auch Kommunen in Schleswig-Holstein oder Hessen haben.

Einig sind sich alle, dass dies gewaltige Veränderungen mit sich bringen würde. Manche wären positiv – echte kommunale Selbstbestimmung, höhere Identifikation der Bürger, größere Nähe der Verwaltung zu den Menschen. Doch die negativen Aspekte überwiegen bei weitem, wie sich anhand einer Reihe von Szenarien zeigen lässt.

Grenzziehung

Bei der Aufteilung in 23 Kommunen wäre es ein Ding der Unmöglichkeit, alle ungefähr gleich groß (die Einwohnerzahl betreffend) und etwa gleich leistungsfähig zu machen. Es gibt nur wenige „natürliche“ Kommunen in Hamburg, wie etwa Harburg, Rahlstedt oder Bergedorf. Grenzen müssten also mehr oder minder willkürlich gezogen werden. Und dabei geht es immer vor allem um eines: Geld. Denn im Gegensatz zu den Bezirken, die kaum eigene Einnahmen haben, sondern Geld vom Senat bekommen, erheben die neuen Städte selbst Steuern. Die wichtigsten sind die Gewerbe- und die Grundsteuer, deren Höhe jede Kommune in ganz Deutschland festlegen kann. Die Steuerbelastung von Grundeigentümern und Unternehmen ist also innerhalb Hamburgs unterschiedlich hoch – denn eine einheitliche Regelung für ganz Hamburg dürfte schwer durchzusetzen sein (siehe Info-Kasten).

Außerdem bekommen die Kommunen festgelegte Anteile an der Lohn- und Einkommenssteuer, die die Bürger einer Stadt bezahlen. Das bedeutet: Je mehr ertragstarke Unternehmen und je mehr gut verdienende Bürger in einer Stadt leben, desto größer sind die Einnahmen. Je mehr Menschen auf Sozialleistungen angewiesen sind, desto geringer die Einnahmen – bei gleichzeitig steigenden Ausgaben. Denn viele Sozialleistungen werden von den Kommunen finanziert.

Nehmen wir das Beispiel Finkenwerder. Der Stadtteil ist mit 13.000 Einwohnern eigentlich zu klein, um selbstständig zu werden, auch wenn dies von Mehr Demokratie so vorgeschlagen wird. Doch ganz gleich, ob es autonom oder zu einer der neuen Städte gehören wird: Finkenwerder ist ein Gewinner. Nicht weil die Bürger dort überdurchschnittlich reich sind – sondern weil auf Finkenwerder Gebiet mit Airbus und Dutzenden Zulieferbetrieben Gewerbesteuerzahler mit überragender Bedeutung liegen. Ähnlich ist es mit der Altstadt und ihren Geschäftszentren und Firmenzentralen oder Fuhlsbüttel mit dem Flughafen und Lufthansa Technik. Da die Lohnsteuer am Wohnort, und nicht am Arbeitsort, bezahlt wird, sind wohlhabende Stadtteile finanziell von großer Bedeutung. Salopp formuliert: Jeder will Nienstedten haben, niemand Billstedt. Ein weiteres Riesenproblem: die Infrastruktur. Während Stadt A Glück hat, weil das Straßennetz größtenteils frisch saniert wurde, hat Stadt B schon bei ihrer Gründung einen Riesen-Investitionsstau, weil sie zufällig viele nicht sanierte Straßen hat. Das große Hauen und Stechen ist also programmiert.

Kommunaler Finanzausgleich

Weil es unmöglich ist, 23 Kommunen mit ähnlichen Voraussetzungen zu bilden, wird es ein Ausgleichssystem geben. Diesen „Kommunalen Finanzausgleich“ gibt es in allen Flächenländern – und er ist ein bürokratischer Albtraum. Ähnlich wie beim Länderfinanzausgleich ist er ein hoch kompliziertes Gebilde, bei dem von Gerechtigkeit dennoch nicht die Rede sein kann. Das Prinzip ist einfach: Die Reichen geben den Armen, damit die Lebensverhältnisse ungefähr gleich sind. In der Praxis werden Hunderte Faktoren berechnet, und am Ende fühlen sich alle benachteiligt. Dabei kann es zu zwei Extremen kommen. Entweder wird den reichen Städten eher wenig genommen – dann wird die Ungleichheit größer. Oder ihnen wird viel genommen – dann werden sie sich unter Umständen gar nicht mehr bemühen, weitere Einnahmen zu erzielen, da sie kaum etwas davon haben. So kann es etwa sein, dass eine arme Stadt keinen Platz hat, um Gewerbeflächen zu schaffen. Die reiche hat Platz, tut es aber nicht, weil sie von den Einnahmen kaum profitiert, aber wegen der Verkehrs- und Lärmbelästigungen von Gewerbebetrieben Ärger mit ihren Bürgern bekommt.

Planung von Baugebieten

Die Zeiten, in denen der Senat „durchregieren“ kann, sind mit der Reform vorbei. Heute kann der Senat im Zweifel bestimmen, wo Wohnungen gebaut werden, wo Gewerbe angesiedelt wird und wo gar nicht gebaut werden soll. Künftig hätte der Senat nur eine „Positiv-Befugnis“: Er kann dann festlegen, wo was möglich ist und wo nicht. „Raumplanung“ heißt das. Aber er kann nichts gegen den Willen einer Kommune durchsetzen. Wenn zum Beispiel Niendorf fünf Wolkenkratzer plant, kann der Senat das verhindern. Wenn wiederum Niendorf sich weigert, Flächen für Wohnungsbau auszuweisen, gibt es kein Gremium auf der Welt, das die Stadt dazu zwingen könnte. Wenn der Senat also heute in der Lage ist, vor Ort unpopuläre Bauprojekte durchzusetzen (etwa in den Walddörfern), wäre künftig die Gefahr groß, dass die Kommune aus Angst vor der Wut der Bürger davor zurückschreckt. 5000 wütende Bürger sind bei 1,3 Millionen Wahlberechtigten politisch hinnehmbar. Bei 50.000 Wahlberechtigten in einer Stadt sind sie ein immenser Faktor.

Kosten

Ein Bundesland Hamburg mit 23 Städten ist auf jeden Fall teurer als der heutige Stadtstaat. Zunächst einmal ist es kompliziert (und kostenintensiv), überhaupt 23 Kommunen mit 23 Rathäusern zu schaffen. Doch auch dauerhaft hat die Reform ihren Preis. Zwar bleibt es bei zwei Verwaltungsebenen, aber statt sieben Bezirksverwaltungen gibt es 23 Stadtverwaltungen. Und somit 23 Bürgermeister, 23 Bauämter mit den jeweils benötigten Experten, 23 Ordnungs-, Melde-, Standesämter, et cetera. Ja, diese Dezentralisierung bedeutet mehr Bürgernähe – die aber auch teuer bezahlt werden muss.

Schulen, Kitas, Schwimmbäder, Büchereien

Schulpolitik ist Ländersache. Lehrpläne, Bezahlung von Lehrern, Schulstruktur – darüber wird auch künftig die Bürgerschaft entscheiden. Ganz anders ist es mit den Schulbauten, denn die sind kommunale Angelegenheit. Ob eine Schule also hochmodern oder halb verrottet ist, hat die Kommune zu verantworten. Gleiches gilt für die Sportanlagen, öffentliche Büchereien, Kitas, Feuerwehren und so weiter. Natürlich ist es theoretisch möglich, manche dieser Aufgaben an das Land zu übertragen, damit es einheitlich geregelt wird. Nur braucht das Land dafür Geld – es würde also neben dem Kommunalen Finanzausgleich zwischen den Städten auch noch einen zwischen Städten und Land geben. Mit noch mehr Bürokratie, noch mehr Kosten und noch mehr Streit.

Das „Seehofer“- Problem

Welche Folgen die Reform für die Identität der Menschen haben wird, ist schwer vorherzusagen. Viele werden sich wohl weiter in erster Linie als Hamburger sehen und nicht als Eimsbütteler oder Langenhorner. In Altona, Harburg, Bergedorf oder Wandsbek kann das schon anders aussehen, weil diese Stadtteile auf eine lange eigenständige Geschichte zurückblicken können. Gegen eine hohe Identifikation mit der jeweiligen Stadt ist natürlich auch nichts zu sagen.

Schwieriger wird es auch hier vor dem Hintergrund des Gefälles zwischen Arm und Reich. Wenn Stadt A alljährlich 25 Millionen Euro in den Finanzausgleichstopf einzahlen muss, während Stadt B jedes Jahr 25 Millionen bekommt, dann wird es natürlich Debatten darüber geben, dass A vielleicht besser wirtschaften kann als B. Wenn A dann noch aus Kostengründen auf den Rathaus-Neubau verzichtet, während B ein neues Sportzentrum eröffnet, geht die öffentliche Neiddebatte zwingend los. So wie Horst Seehofer dem Rest der Republik seit Jahren auf die Nerven geht, wenn er immer wieder triumphal-übermütig erklärt, dass in Bayern alles besser sei und die anderen es eben nicht könnten. Und dass er Geld aus dem Länderfinanzausgleich zurückhaben will.

Fazit

Zugegeben: Der Gedanke hat Charme. Die große Hamburger Kommunalreform würde größere Bürgernähe und mehr Demokratie bedeuten. Statt machtloser Bezirksverwaltungen gäbe es starke Stadträte und mächtige Stadtverordnetenversammlungen. Doch die Nachteile sind überwältigend. Hamburg würde nicht nur teurer und ungerechter, sondern auch schwerfälliger, weil bürokratischer und komplizierter werden.

Über die Stärkung der Bezirke wird seit Jahrzehnten ziemlich ergebnislos debattiert. Die gewählten Bezirksversammlungen sind eher eine Spielwiese für politischen Nachwuchs als ernsthafte politische Gremien. Das ist kein Ruhmesblatt für die Regierenden – und die neue Volksinitiative sollte Anlass für ernsthafte Verbesserungen sein.

Der Reformentwurf von Mehr Demokratie aber schießt weit über das Ziel hinaus und schafft mehr Probleme, als er löst. Er wäre schädlich für die Stadt. Um nicht zu sagen: katastrophal.