Oberbaudirektor setzt auf neue Architektur. Viele Bürger und einige Planer bevorzugen dagegen ältere Stilelemente. Eine Debatte

Hamburg. Die Reaktionen auf seinen Entwurf hätten kaum unterschiedlicher sein können. Als der Hamburger Architekt Jakob Siemonsen seine Zeichnungen für ein viergeschossiges Wohnhaus in Eimsbüttel dem Bauamt präsentierte, erntete er zunächst Kopfschütteln. Gründerzeit neu bauen, selbst wenn es ein Passivhaus ist? Nein, das stieß dort auf wenig Gegenliebe.

Bitte nicht „historisierend“, hieß es zunächst, erinnert sich Siemonsen. Anders die Reaktionen vieler Passanten, nachdem er und sein Bauherr sich beharrlich doch noch mit der Idee durchsetzen konnten, ein modernes Haus in einem Stil mit historischen Anklängen zu bauen.

„So viel Zuspruch, das war schon ungewöhnlich“, sagt der 40-Jährige. Ähnlich die Reaktionen in der Internetgemeinde: „Geht doch!“ „eine Wohltat fürs Auge!“ – so und ähnlich lauten viele Kommentare im Netz zu Berichten über das ungewöhnliche Gebäude. Und auch bei einer Online-Umfrage des Hamburger Abendblatts votierten 92Prozent der Teilnehmer für eine Rückbesinnung auf alte Stilelemente bei Neubauten. So wie es Siemonsen gemacht hatte.

Ganz deutlich äußert sich die Internetgemeinde auch regelmäßig, wenn es um die große Architektur-Wettbewerbe in Hamburg geht. Etwa für die Neue Mitte Altona, wo kürzlich die Pläne für die ersten Wohnblöcke dieses neuen Stadtteils von einer Fachjury um Oberbaudirektor Jörn Walter ausgewählt wurden. Moderne, eher rechteckige Flachdachbauten sind dort nun geplant, so wie sie vielfach auch in der HafenCity und an vielen anderen Ecken der Stadt gerade neu gebaut werden. „Bauklötzchen mit angeklebten Balkonen“ oder „Tetris-Architektur“ sind da noch freundlichsten Formulierungen der vielen ätzenden Kommentare.

Offensichtlich klafft im Geschmacksempfinden zwischen Bürgern und vielen Fachleuten in Sachen Architektur eine riesige Kluft. Architekt Siemonsen spricht gar von einem Krieg der Stile. Entwürfe mit Anlehnungen an frühere Architektur seien ihm und seinen Kommilitonen schon im Studium von den Professoren um die Ohren gehauen worden.

Eine Chance mit solchen Gründerzeit- oder Jugendstilentwürfen für die großen, städtischen Wettbewerbe wie für HafenCity oder Neue Mitte sieht er aber kaum. Und selbst die beamteten Stadtplaner in den Bezirksämtern sperren sich dagegen. „Zu replikenhaft“ sei der Entwurf, bekam Siemonsen erst kürzlich wieder in Altona zu hören, als er für einen Neubau Entwürfe präsentierte.

Auch der Architekt Matthias Ocker macht oft solche Erfahrungen. Der Hamburger gilt als der wohl bekannteste Planer traditioneller Architektur in der Hansestadt. Ocker baute bereits in der Schweiz, in den USA, in Kroatien und anderen Ländern. Nirgendwo aber ist die Ablehnung traditioneller Formen so vehement wie in Hamburg, sagt er. Bei Architektur-Wettbewerben unter städtischer Regie werde er deshalb gar nicht erst eingeladen. „Und wenn ein Investor darauf drängt, weiß ich, dass ich auf dem letzten Platz lande.“

Wenige Planer sind so deutlich wie Ocker. Die meisten machten das Spiel mit, um weiter am Tisch sitzen zu können, glaubt er. Aus gutem Grund: In der hochverdichteten Stadt lässt sich heute kaum bauen ohne Ausnahme oder Befreiung vom gültigen Bebauungsplan. Und das ist dann der Hebel für Behörden, ihre Stilvorstellungen durchzusetzen. Und sei es nur, dass es eben dauert mit der Genehmigung, weil noch Diskussionsbedarf besteht. Viel Zeit oder gar einen langen Rechtsstreit mag sich allerdings kaum ein Investor erlauben. „Eine Stadtentwicklungsbehörde darf aber keine Geschmacksbehörde sein“, sagt Ocker.

Dass Anlehnungen an historische Architektur in Ämtern und bei Wettbewerben auf geradezu reflexartigen Widerspruch stößt, erlebt auch der Altonaer Baupolitiker Uwe Szczesny immer wieder. Gerade in Hamburg, gerade in Altona, wie er sagt. „Das beklage ich schon lange, das muss sich ändern“, fordert er. Doch woher kommt dieser Widerwille gegen „historisierende oder auch Retro-Architektur“, wie sie von Kritikern bezeichnet wird? Die Argumente, die der Kommunalpolitiker Szczesny auf seine Anmerkungen zu hören bekommt, sind immer gleich: Man dürfe andere Epochen nicht einfach kopieren, jeder Bau müsse auch ein „Ausdruck seiner Zeit“ sein.

Doch die vehemente Ablehnung dürfte noch viel tiefere Ursachen haben. Vor dem Zweiten Weltkrieg wollten die Vertreter des Bauhauses eine neue demokratische Architektur: kein Ausschweifen mehr in einer opulenten Fassaden-Ornamentik, die aber triste Hinterhöfe zulässt. Stattdessen forderte eine neue Architektengeneration durchdachte, luftige, besonnte Quartiere. Verständlich in einer Zeit, als die Menschen in den heute so begehrten Gründerzeitquartier häufig sehr beengt wohnen mussten. Die Form müsse der Funktion folgen, hieß es und: „Weniger ist mehr“ – das waren die Leitsprüche dieser neuen Richtung, die mit bescheidenden Mitteln Gutes für die große Masse bauen wollte. Das Flachdach wurde so zum Dach der Moderne.

Die Nazis zwangen dann wieder zu Entwürfen, die mit traditionellen Formen arbeiteten. Pathos und Symbole der Macht prägten diese kurze Architekturepoche. In Hamburg wurden gar moderne Flachdachbauten wieder mit Dächern versehen. Vertreter des neuen Bauens wurden aus den Ämtern gejagt, so wie Oberbaudirektor Fritz Schumacher in Hamburg und Bausenator Gustav Oelsner in Altona. Steckt diese Erfahrung hinter der Ablehnung traditioneller Formen vieler Stadtplaner gerade in Hamburg? Ist es eine Art Abgrenzung zur Nazi-Architektur? Historisch zu bauen gilt zumindest oft als reaktionär und irgendwie politisch stramm rechts. Das Gegenteil ist dann eben die Moderne, das Flachdach, der Verzicht auf Symbole, eckige, klare Formen.

Als „Rechte-Winkel-Fetischisten“ bezeichnet der Architekturkritiker Holger Reiners die heute herrschende Lehrmeinung und fordert wieder mehr Mut zum Dekor – so wie bei den Entwürfen von Siemonsen oder Ocker _ „Die Leute wollen Emotionen, emotionale Architektur“, sagte er in einem Abendblatt-Interview.

Bis in die Gründerzeit, bis in die Jugendstilzeit habe man das zugelassen. „Dekor. Dachformen, unterschiedliche Fassaden, jedes Haus hatte eine eigene Adresse“, sagt Reiners. Die Moderne, das heutige Bauen sei hingegen oft lediglich eine „Fehlinterpretation des Bauhauses.“ Architekten, forderte Reiners in einer Streitschrift, müssten sich ihre Bestätigung wieder mehr bei den Menschen holen, nicht allein in der eigenen Zunft.

Diese Sehnsucht vieler Bürger nach traditionellen Formen kennt auch Hamburgs Oberbaudirektor Jörn Walter. Sie habe ihre Ursache in den vielen Kriegszerstörungen, vermutet er. Viel Altes sei daher verschwunden. „In italienischen Städten haben Sie diese Kontroverse nicht.“ Walter sieht sich selbst dennoch als Verfechter des zeitgenössischen Bauens. „Es stört mich beispielsweise überhaupt nicht, wenn in einem Gründerzeitviertel Gebäude mit einer historisierenden Fassade gebaut werden. Das stört das Stadtbild nicht, auch wenn es die Architektur baukünstlerisch nicht voranbringt.“

Anders in neuen Stadtteilen wie der HafenCity und der Neuen Mitte Altona: „Dort sollte im Stile unserer Zeit gebaut werden. Es geht dabei um die Implementierung der neuen Herausforderungen: die Suche nach einer baukünstlerischen Gestalt für unsere Wohn- und Arbeitsbedürfnisse und ökologischen Ansprüche in einem bezahlbaren wirtschaftlichen Rahmen.“ Das bedeute aber keine Abkehr von Traditionen: Größe, Höhe, Maßstäblichkeit der Gebäude in der Neuen Mitte etwa seien aus den umliegenden Stadtvierteln Altona-Nord und Ottensen hergeleitet worden. „Aber natürlich wird die Mitte Altona ein neuer Stadtteil. Bauen in der Stadt heißt weiterbauen, sagt Walter.

Architekten wie Ocker halten dagegen: Es gehe gar nicht darum, ein Museum zu bauen. Sondern darum, den Charakter der eigenen Stadt zu erkennen und traditionelle Formen weiterzuentwickeln, um den Menschen eine Identifikation zu geben: „Warum soll alles aussehen wie in Dubai?“ Man müsse wieder Vielfalt zulassen. Das fordert auch Bezirkspolitiker Szczesny. Beides müsse möglich sein: traditionell und modern. Die Architektur der ersten Gebäude in der Neuen Mitte Altona lehnt er deshalb auch nicht ab. „Die sind ganz okay“, sagt er. Begeisterung klingt allerdings anders.