1964 wurde das Soziale Jahr erfunden. Margrit Sander leistete es, noch bevor der Bundestag auf die Idee kam.

Hamburg. Margrit Sander ist Pionierin. Eine Pionierin der Sozialarbeit. Es war 1962, und das Freiwillige Soziale Jahr, für viele junge Menschen heute eine anerkannte Möglichkeit sich zu engagieren und zu orientieren, gab es noch nicht. Dafür aber den Vorläufer, das sogenannte Diakonische Jahr, das seit 1954 angeboten wurde. Margrit Sander gehörte zu den Ersten in Hamburg, die sich dafür meldeten. Sie leistete ein freiwilliges soziales Jahr, noch bevor es vor 50 Jahren erfunden wurde.

Schon mit 20 Jahren wusste Margrit Sander, dass sie in einem sozialen Beruf arbeiten wollte. Mit dem Abschluss auf der Höheren Handelsschule und nach einem Jahr als Sekretärin in der Jugendberufshilfe stellte sie sich am Sozialpädagogischen Institut vor, damals im Gebäude der Talmud-Thora-Schule am Grindelhof, und hätte direkt mit der Ausbildung anfangen können. Aber die junge Frau aus Hamburg hatte einen anderen Plan. Sie entschied sich, erst mal, ein Jahr im Freiwilligendienst zu arbeiten. „Ich war sehr idealistisch“, sagt sie. „Ich wollte Menschen helfen, die es brauchen.“

Am 1. April vor 52 Jahren stand sie mit gepacktem Koffer vor dem Kinderheim „Friede“ im schleswig-holsteinischen Prisdorf. Zwölf Monate lang betreute sie in dem von Diakonissen geleiteten Haus Jungen und Mädchen im Krabbelalter. „Ich war in der Gänseblümchen-Gruppe.“ Daran erinnert sie sich noch genau. Und an die blau-weiß karierten Arbeitskleider. „Wenn wir mit den Kindern zu tun hatten, trugen wir weiße Schürzen“, erzählt die heute 73-Jährige auf der Terrasse ihres Hauses in Lohbrügge. Für die Hausarbeit gab es blaue. Streng sei es gewesen. „Und sehr fromm. Aber so war damals die Zeit.“

Die Geschichte des Freiwilligen Sozialen Jahres begann vor 60 Jahren in der nordbayrischen Provinz. Bei der Hundertjahrfeier der Diakonie Neuendettelsau hatte der Pastor Hermann Dietzfelbinger junge Frauen dazu aufgerufen, „ein Jahr ihres Lebens für die Diakonie zu wagen“. Es ging darum, angesichts des Mitarbeitermangels im Nachkriegsdeutschland das Interesse an der Sozialarbeit zu wecken, außerdem sollte jungen Menschen Bildung für ihre Lebenspraxis vermittelt werden. Die Idee setzte sich schnell durch. Erst in kirchlichen Einrichtungen, später auch bei anderen Trägern sozialer Arbeit. Zehn Jahre später, im August 1964, verabschiedete der Bundestag ein Gesetz zur Förderung eines Freiwilligen Sozialen Jahres. Es wurde ein Erfolgsmodell. Bundesweit sind heute 100.000 Freiwillige im Einsatz, nicht nur im sozialen Bereich, sondern auch in Umwelt, Kultur und Sport. In Hamburg leisten allein bei der Diakonie 600 Menschen einen Freiwilligendienst.

Für Margrit Sander war die Arbeit im Kinderheim „Friede“ eine völlig neue Erfahrung. Morgens um 7 Uhr ging es los, sechs Tage die Woche: Die Kinder anziehen, Windeln wechseln, füttern, spielen, aber auch Waschen und Putzen waren ihre Aufgaben. „Für alles gab es klare Regeln. Heute würde man vieles so nicht mehr machen“, sagt sie. Und manchmal war es auch ganz schön anstrengend. Es gab den frechen Lothar, der alle Kinder mit Scheuermittel einstäubte, wenn die jungen Helferinnen mal nicht hinschauten, und die süße Monika mit dem chinesischen Vater. Insgesamt war sie für 30 Kinder zuständig. „Ich hatte viel Verantwortung, das war eine große Herausforderung.“ Aber aufgeben sei für sie nicht infrage gekommen, auch nicht, als sie Weihnachten zum ersten Mal nicht bei ihren Eltern verbringen konnte. Es war ein gutes Jahr, sagt die Freiwillige der ersten Stunde. „Ich habe viel gelernt, bin selbstständig geworden.“

Der Abschied war schwer. Zurückgekehrt ist sie nicht wieder auf das Gelände in Prisdorf, auf dem die Großstadt-Mission heute eine Einrichtung für Menschen mit Behinderung und zwei Jugendwohngruppen unterhält. Aber das Jahr habe ihr Leben nachhaltig beeinflusst, sagt Margrit Sander. Nach der Ausbildung zur Sozialarbeiterin beriet sie 40 Jahre lang Jugendliche bei der Berufswahl. „Das hat auch mit der Arbeit im Kinderheim zu tun“, sagt sie. Ihre Begeisterung für den Dienst am Menschen hat sich auch in ihrer unmittelbaren Umgebung ausgewirkt. Als sie in Prisdorf aufhörte, begann ihre Freundin Dorothea Kaufmann dort zu arbeiten. Und auch ihre ältere Tochter Imke absolvierte nach dem Abitur ein Freiwilliges Soziales Jahr in einer Kirchengemeinde in Bergedorf. Mit direkten Folgen. Sie studierte Theologie, ist heute Pastorin in Eidelstedt.