Sie sind hypersensibel und verstehen weder Ironie noch Small Talk: Dafür haben Autisten andere, erstaunliche Fähigkeiten. In Bramfeld werden sie in einer eigenen Klasse unterrichtet. Ein Besuch.

Hamburg. Eigentlich ist Mathe dran an diesem Morgen. Auf dem Tisch vor Kim-Yannick liegen Arbeitsblätter mit Aufgaben, Stifte und ein kariertes Heft. Neben ihm sitzt sein Lernbegleiter. Aber statt die Größen von Dreiecken zu berechnen, hat der 15-Jährige ein Blatt Papier zu einem kleinen Kunstwerk gefaltet. „Ich löse nicht so gern einfache Aufgaben, mich interessieren die Gesetzmäßigkeiten dahinter“, sagt er. Darin ist er richtig gut. Am liebsten arbeitet Kim-Yannick am Computer. Nach der Schule programmiert er Erweiterungsmodule für eine Spielefirma. Aber bevor er in einen vollen Bus einsteigen muss, geht er lieber zu Fuß. Zu viele Menschen, zu nah.

Kim-Yannick ist ein bisschen anders als andere Jugendliche. Er leidet am Asperger-Syndrom, einer Form des Autismus. Es fällt ihm schwer, soziale Kontakte aufzubauen oder jemand auch nur in die Augen zu schauen. Er findet es sinnlos, wie die anderen über Fußball reden oder über Mädchen. Und er hasst es, wenn es laut ist. So wie in seiner alten Schule. „Da sollte ich immer nur spielen, konnte nichts lernen“, sagt der Teenager. Seine Lehrerin habe gemeint, aus ihm könne sowieso nichts werden. So schrecklich war es für ihn, dass er nicht mehr hingehen wollte. Jetzt ist Kim-Yannick ein guter Schüler. Seit drei Jahren besucht er eine spezielle Klasse für Autisten am Johannes-Brahms-Gymnasium in Bramfeld.

Ein kleiner Kosmos für sich

„JBG-A“ steht über der Tür im obersten Stock des Mittelstufengebäudes. Dahinter liegen die drei Räume der A-Klasse – ein Kosmos für sich. Vom alltäglichen Lärmpegel einer Schule ist hier nichts zu hören. An den Wänden hängen weder bunte Zeichnungen noch Unterrichtsmaterialien. Das Besondere: Jeder der acht Schüler zwischen 14 und 20 Jahren hat einen abgeschirmten Arbeitsplatz mit Tisch, Stuhl und Regal. „Wir versuchen, die Reize möglichst gering zu halten, damit unsere Schüler sich besser konzentrieren können“, sagt Malte Kühn. Er ist Sonderpädagoge mit Schwerpunkt Autismus und seit dem Start 2010 Lehrer für die Jungen der A-Klasse.

Nicht nur der Raum ist ein bisschen anders als in einer normalen Schulklasse, auch der Unterricht hat eigene Regeln. Routine ist wichtig, feste Strukturen. Es ist 10.30 Uhr, jetzt beginnt zeitversetzt zu den anderen Gymnasiasten der zweite Lernblock. Schüler und Lernbegleiter sitzen an einem großen Tisch, Klassenlehrer Kühn fragt nach den Arbeitsergebnissen der ersten Doppelstunde und verteilt neue Aufgaben. „Jeder Schüler ist ganz anders. Entsprechend individualisiert muss der Unterricht gestaltet werden“, sagt der Pädagoge.

In Geografie geht es gerade um Afrika. Während sich Patrick mit dem Klima beschäftigt, bearbeitet Justus Fragestellungen zum Völkermord in Ruanda. Das ist auch bei Kim-Yannick dran, nicht gerade sein Lieblingsfach. „Aber“, sagt er, „hier kann ich in meinem Tempo arbeiten.“ In einzelnen Fächern nehmen die A-Schüler inzwischen auch am Unterricht in den anderen Klassen teil, denen ohne Sonderbezeichnung. Bei Kim-Yannick ist es Physik. „Anfangs war es gar nicht so einfach, dahin zu gehen“, sagt der Neuntklässler. Aber es geht immer besser, er hat sich sogar mit einem Schüler angefreundet.

Austistische Störung wird oft gar nicht erkannt

Wenn Mona Meister so etwas hört, strahlt sie. Die Leiterin der Schule für Haus- und Krankenhausunterricht, die jetzt unter dem Namen Bildungs- und Beratungszentrum Pädagogik bei Krankheit/Autismus firmiert und in Hamburg für Schüler zuständig ist, die keine normale Schule besuchen können, hatte vor vier Jahren die Idee für die A-Klasse. Gleichzeitig betreute ihr Team damals mehrere Jungen mit Asperger-Syndrom. „Die waren durch ihre Vorerfahrungen so traumatisiert, dass sie die Schule komplett verweigert haben“, sagt Meister. Das Problem: Die autistische Störung wird oftmals gar nicht erkannt. Lehrer und Klassenkameraden können mit den besonderen Schülern nicht umgehen, die oft sehr intelligent sind und ausgeprägte Spezialinteressen haben, aber häufig auch Schwächen wie Wahrnehmungsstörungen, keine Gestik, kaum Mimik und kein Gefühl für Ironie. Manche sprechen gar nicht, andere immerzu (siehe Infotext). Nach dem Vorbild aus Berlin entstand das Konzept für die A-Klasse am Johannes-Brahms-Gymnasium. Das Ziel: die Schüler so zu stabilisieren, dass sie wieder am normalen Unterricht teilnehmen können.

Dorian war von Anfang an dabei. Auch er hatte die Schule eigentlich schon abgehakt. „Ich hatte immer Probleme mit anderen Kindern“, sagt der 18-Jährige. Statt zu spielen prügelte er sich auf dem Schulhof, auch in den Stunden fiel er immer wieder auf. Familie und Lehrer waren überfordert. Schulabschluss, Zukunftsaussichten – eine einzige Leerstelle. Wenn man ihn heute sieht, kann man sich das kaum vorstellen. Dorian sitzt ganz selbstverständlich auf seinem Platz im Deutschkurs im 11. Jahrgang. Es geht um Kafka. Im vergangenen Jahr hat er seinen mittleren Schulabschluss (früher Realschulabschluss) mit einer Eins vor dem Komma gemacht. Jetzt ist er auf dem Weg zum Abitur – als erster Schüler der A-Klasse.

Er war schon 14 Jahre alt, als bei ihm das Asperger-Syndrom diagnostiziert wurde. „Ein Vorteil war, dass ich in diese spezielle Klasse gekommen bin“, sagt er heute. In den Pausen und auch zum Arbeiten zwischendurch kommt er in die Räume, in denen er den Sinn von Schule wiedergefunden hat. „Das ist ein bisschen wie Heimat für mich.“ Aber die meiste Zeit ist Dorian mit den anderen Oberstufenschülern zusammen. Als Profil hat er „Medien und Gesellschaft“ gewählt. Politik interessiert ihn, Deutsch mag er auch. Gerade hat er eine Klausur über die Wirtschaftskrise in Europa geschrieben und Lösungsansätze entwickelt. „Dorian ist einer Besten in der Stufe“, sagt seine Mitschülerin Janiosa. Und er ist einer von ihnen, nur dass er für einen Abschluss vier statt zwei Jahre Zeit hat. Und trotzdem ist auch etwas anders. „Man kann super mit ihm übers Lernen reden“, sagt Elaha, „aber nicht so richtig über private Sachen.“

Rückzug ist wichtig

Rückzug ist wichtig. Auch beim Mittagessen in der großen Pausenhalle ist Dorian selten dabei. Einige der anderen Schüler der A-Klasse sitzen mit Klassenlehrer Kühn an einem der Tische und essen Eintopf. Die Pause ist extra so gelegt, dass sie vor dem großen Schüleransturm fertig sind. „Die A-Klasse ist Teil des Schulkonzepts“, sagt Schulleiter Christoph Preidt. „Das ist der Bereich von Inklusion, den wir leisten können.“ Neben Klassenlehrer Kühn ist stundenweise eine Sonderpädagogin in der Klasse – und die sechs Schulbegleiter, die mit den Schülern an den Aufgaben arbeiten. Besonders stolz ist die Schule, dass die Jungen einmal in der Woche gemeinsam am Englisch-Unterricht teilnehmen, den Beratungslehrerin Marianne Beck mit Studentin Hanna Zamel eingeführt hat. „Das funktioniert“, sagt die 25-Jährige, die ihre Masterarbeit über das Thema schreibt. Dazu müsse man sich auf die Schüler einstellen, Fragestellungen übersichtlicher gestalten und die persönlichen Interessengebiete der Schüler einbauen, ergänzt Marianne Beck.

Es ist eine geschützte Welt, in der die Jungen zur Schule gehen. „Autismus ist nicht heilbar, aber mit der richtigen Förderung gibt es große Entwicklungsmöglichkeiten“, sagt Antje Horn-Engeln. Auch ihr Sohn Justus besucht die A-Klasse. Vorher war er jahrelang in der Schule gemobbt und gehänselt worden, bis er nicht mehr konnte und mit zwölf Jahren zusammenbrach. „Die A-Klasse war meine Rettung“, sagt der 18-Jährige, der viel jünger wirkt. „Hier kann ich sein, wie ich bin.“ Auch seine Mutter ist heilfroh. Die frühere Managerin, sie sich seit Jahren in der Elterninitiative Autismus Hamburg e. V. engagiert, sagt aber auch: „Eigentlich müsste es so eine spezielle Klasse nicht geben, wenn das Schulsystem besser auf Schüler mit Autismus eingestellt wäre.“ Viele Schulen seien noch nicht so weit.

Insgesamt wird die Zahl der Schüler mit einer Autismus-Spektrum-Störung, wie das Krankheitsbild offiziell heißt, in Hamburg auf etwa 600 geschätzt. Weil man den Kindern das auf den ersten Blick nicht ansieht, werden sie oft als „schwierig“ abgestempelt. Nachdem das Thema in den Schulen lange wenig Beachtung fand, gibt es inzwischen die Beratungsstelle Autismus, und es werden vermehrt Fortbildungen für Lehrer angeboten. Oft klappt es mit der Integration, längst nicht alle Betroffenen haben auch sonderpädagogischen Förderbedarf. Aber es gibt auch immer wieder dramatische Einzelfälle.

Wie den von Sebastian. Der 14-Jährige leidet am Asperger-Syndrom und hatte zuletzt massive Schulschwierigkeiten. Seit Monaten kämpft die Familie darum, dass er die A-Klasse am Johannes-Brahms-Gymnasium besuchen kann. Die Schulbehörde lehnt das ab und hat ihm einen Platz an einer Stadtteilschule zugewiesen. „Das Angebot ist die Zwangsinklusion in einer Stadtteilschule ohne besondere Ausstattung für Autisten, obwohl allen Beteiligten klar ist, dass dies unserem Sohn schadet“, sagen die Eltern, die ein entsprechendes Attest vorlegen können und inzwischen vor dem Oberverwaltungsgericht dagegen klagen.

Die Schulbehörde weist die Vorwürfe zurück. Einerseits handele sich um eine Gymnasialklasse. Andererseits solle vermieden werden, dass Schüler weite Wege zurücklegen müssten, sagt Behördensprecher Peter Albrecht. Der tägliche Transport des Jungen mit einem Schulbegleiter würde 21.000 Euro pro Jahr kosten. Aus Sicht der Behörde gibt es keinen Bedarf, das erfolgreiche System der A-Klasse auf andere Schulen zu übertragen. „Trotzdem gucken wir uns bei jeder Schulorganisation an, wo es besonderen Förderbedarf gibt, und entscheiden dann, inwieweit es möglich und gerechtfertigt ist, besondere Angebote zu schaffen“, sagt Albrecht. Vielen Eltern ist das zu wenig.

Vielleicht macht Kim-Yannick sogar sein Abi

Am Johannes-Brahms-Gymnasium verlassen nach diesem Schuljahr drei Jungen die A-Klasse. Zwei beginnen eine Berufsausbildung, einer wechselt auf ein technisches Gymnasium. Vier neue Schüler kommen. Kim-Yannick macht weiter. Er hat gerade den ersten Schulabschluss (früher Hauptschulabschluss) bestanden, im nächsten Jahr will er die nächste Prüfung (Realschulabschluss) machen – und vielleicht das Abitur. Daran, dass er das schaffen kann, zweifelt er nicht mehr. Meistens. Und wie es danach weitergehen soll, hat er klar vor Augen. Wenn andere in seinem Alter Arzt werden wollen oder Popstar, möchte er „etwas mit Computern machen, Fachinformatiker, im Bereich System-Integration oder Anwendungsentwicklung“. Die Chancen sind nicht schlecht, der Software-Hersteller SAP etwa sucht Computerexperten und will verstärkt Menschen mit Autismus einstellen. Weil sie ein bisschen anders sind.