Briten raus? Wie die Europäische Union auf Camerons Erpressungsversuch reagieren sollte

Ein Schlüsselelement jedes demokratischen Prozesses ist die Akzeptanz eines Wahlsiegers auch durch jene, die für einen anderen Kandidaten gestimmt haben. Bei der Ermittlung eines neuen Kommissionspräsidenten der Europäischen Union scheint dieses bewährte Prinzip im Macht- und Interessengeflecht der Mitgliedstaaten ein wenig auf der Strecke zu bleiben.

Nach Lage der Dinge, also dem Resultat der Europawahl, vermag der konservative Luxemburger Jean- Claude Juncker die größte Fraktion im Europaparlament hinter sich zu vereinen. Dass die deutsche Kanzlerin ein Votum des Parlaments für Juncker als „Kriegserklärung“ bezeichnete und zunächst gar eine Blockade des Kandidaten zusammen mit dem britischen Premier David Cameron ins Spiel brachte, ist gelinde gesagt problematisch. Nun ist bekannt, dass Merkel Vorbehalte gegen Juncker hat, den manche einen „Mann ohne Eigenschaften“ nennen. Der Schlingerkurs Merkels mit dem zähneknirschenden, pragmatischen Schwenk zu Juncker demonstriert, wie schwierig Deutschlands Position in der EU geworden ist.

Die Europawahl hat gezeigt, dass sich das Jahrhundertprojekt EU im Belagerungszustand befindet. Virulente Anti-EU-Parteien wie der rechtsextreme Front National (FN) in Frankreich und die Ukip in Großbritannien haben mit ihren spektakulären Wahlerfolgen die traditionelle Parteienlandschaft und Machtmaschinerie in Europa massiv gestört. In Paris fühlt sich FN-Chefin Marine Le Pen zu der falschen Aussage berufen, die EU und Deutschland ruinierten Frankreich. Dabei gilt Deutschland mit seinen schmerzhaften Reformen im Nachbarland als Vorbild; nur hat es kein Politiker bislang gewagt, vergleichbare Schnitte in das verkrustete französische System vorzunehmen. Staatschef François Hollande verschlimmerte die Lage erst noch mit sozialistischen Experimenten. Es kann in Europa ja wohl nicht darum gehen, dass sich Erfolgreiche selber in den Fuß schießen, sondern darum, dass sich die anderen mehr anstrengen.

Und wie verzweifelt erst die Lage des britischen Premiers ist, zeigt sein Versuch einer unverhohlenen Erpressung mit einem möglichen EU-Austritt Großbritanniens, um Juncker noch zu verhindern. Dass Cameron die EU nie verstanden hat, ist nichts Neues, doch offenbar hat er auch das Prinzip Demokratie nicht verinnerlicht. Gewiss, Juncker ist ein Mann, von dem zumindest eines zu erwarten ist: eher mehr Europa und nicht weniger. Die Aussage des CSU-Politikers Hans-Peter Uhl: „Wir lassen uns nicht erpressen“, ist goldrichtig. Dass Cameron befürchten muss, die Wahl Junckers könne die Ukip weiter stärken und ihn schwächen, ist kein Argument dafür, einem Wahlsieger das angestrebte Amt per Erpressung zu verweigern. Die zweite Aussage Uhls allerdings –„wenn die Briten aus der EU wollen, bitte sehr“ – ist fahrlässig und auf Stammtischniveau. Die Briten waren zwar nie begeisterte EU-Europäer und sitzen vorzugsweise hinten im Bremserhäuschen. Sie leiden eben unter dem kollektiven Phantomschmerz ihres verlorenen Empires und unter der Fata Morgana nationaler Weltmachtbedeutung. Aber sie sind schwer verzichtbar für das Konstrukt einer europäischen Staatengemeinschaft. So leicht sollte man auf die Briten nicht verzichten wollen.

Im Übrigen: Falls Großbritannien mit allen Konsequenzen aus der EU austräte, könnte dies einen wirtschaftlichen Absturz nach sich ziehen. Es ist sogar die Option vorstellbar, dass Schottland dann die Union mit London verlässt und in der EU verbleibt. Ein Austritt Großbritanniens wäre für alle Beteiligten, vor allem jedoch für London, mit kaum kalkulierbaren Risiken verbunden. Das Gezerre um den Posten des Kommissionspräsidenten ist jedenfalls wenig angetan, das angeschlagene Vertrauen vieler Europäer in die EU zu restaurieren.