Hamburgs Reifeprüfung: Der Senat muss die Abitur-Vorwürfe ernst nehmen – das ist er den Schülern schuldig

Wer denkt angesichts der aktuellen Debatte um die Anforderungen an Hamburger Abiturienten nicht unwillkürlich zurück an das eigene Abitur oder die Abschlussprüfung? Und schwelgt in der Erinnerung daran, was wir damals alles leisten mussten? Allerhand, ganz klar. Da mag es schon überraschen, dass Hamburgs Abiturienten heute in wesentlichen Fächern bis ins Detail wissen, welches Thema sie in der schriftlichen Klausur erwartet, welche Vergleiche sie mit welchen Methoden anstellen müssen und was sie dafür alles an Literatur gelesen haben sollten. Wer clever ist, kann sich hervorragend vorbereiten. Denkt man.

In der Erinnerung wird manches allerdings nostalgisch verklärt. Schon lange sind die Themenfelder, die im Abitur drankommen, zumindest grob bekannt. Zu behaupten, nur weil die Abiturienten um diese Themen wissen, lösten sich auch die Fragestellungen quasi von selbst, ist natürlich populistisch überzogen. Ebenso wie die Annahme, Schüler könnten sich von älteren Semestern die Antwortvorlagen besorgen. Deren Klausuren sind auf Jahrzehnte unter Verschluss, und die Fragestellungen ohnehin (etwas?) andere.

Dieses Vorgehen zeugt davon, wie sich Pädagogik gewandelt hat. Sie zielt heute gerade in Hamburg darauf ab, dass Schüler nicht mehr so sehr zu einem riesigen Strauß von Themengebieten eher oberflächliches Wissen abrufen, sondern vielmehr in vertiefter Analyse ihre Kompetenzen anwenden können. Im Kern geht es im gegenwärtigen Konflikt also um die Frage, ob Schule Kompetenzorientierung oder einen Wissenskanon vermitteln soll. Kein Wunder, dass das Thema den Schulaktivisten Walter Scheuerl und sein Elternbündnis „Wir wollen lernen“ auf den Plan gerufen hat.

Vermutlich brauchen Schüler aber beides – Kompetenzen und Wissen. Und wenn hinter der Kritik die Sorge steht, das Hamburger Abitur sei zu leicht oder zumindest leichter als das anderer als bildungsstark bekannter Bundesländer, dann ist diese Sorge ernst zu nehmen. Denn der notorisch schlechte Ruf ihres Abschlusses schadet den Abiturientinnen und Abiturienten aus der Hansestadt gleich in zweierlei Hinsicht: Zum einen haben sie einen Anspruch darauf, ähnlich gut ausgebildet zu werden wie ihre Altersgenossen in Baden-Württemberg, Bayern oder Sachsen. Zum anderen leiden sie im bundesweiten Wettbewerb um Ausbildungs- und Arbeitsplätze unter dem miesen Image des Hamburger Abiturs – sei dies nun berechtigt oder nicht.

Das muss sich ändern. Dafür ist ein vergleichbares Abitur mit einem gemeinsamen Aufgabenpool in allen Bundesländern von 2017 an, das Schulsenator Ties Rabe (SPD) als Vorsitzender der Kultusministerkonferenz angestoßen hatte, der richtige Weg. Es soll das Leistungsniveau, das Schüler in allen Teilen Deutschlands zeigen, endlich vergleichbar machen. Dann schlägt die Stunde der Wahrheit. Gut möglich, dass die Anforderungen in Hamburg dadurch steigen werden und sich die Schüler mehr anstrengen müssen. Sicher aber ist, dass sich das Unken über das Hamburger Abitur erübrigen wird, weil es belastbare Fakten gibt.

Diese Chance sollte nicht vertan werden. Und deshalb ist die Ausgestaltung des Zentralabiturs entscheidend. Wenn sich 16 Kultusminister auf ein gemeinsames Verfahren einigen müssen, geht es mitunter etwas bürokratisch zu. Das darf aber nicht dazu führen, dass die einzelnen Bundesländer aus dem Aufgabenpool dieselben Abiturfragen für ihre Prüflinge entnehmen, die sie vorher selbst eingestellt haben – und die externe Prüfung durch Experten aus falsch verstandener Rücksicht bloße Formsache bleibt. Das Ergebnis wäre ein Zentralabitur, das seinen Namen nicht verdient.