Jede Fachkraft im Jugendamt muss im Schnitt 89 Fälle bearbeiten. Jetzt fordern die Bediensteten eine Obergrenze von 28 Fällen. „Sozialsenator Detlef Scheele (SPD) schenkt der Unterbesetzung und damit der permanenten Belastung der Mitarbeiter kaum Beachtung“, heißt es in einer Stellungnahme.

Hamburg. Sie hatten sich weiße T-Shirts übergezogen, auf denen ihre Forderung prangte: 28 Fälle – das ist nach Meinung vieler Jugendamtsmitarbeiter in Hamburg die Obergrenze, um ihre anspruchsvolle Arbeit mit immer mehr problematischen Familien vernünftig zu erledigen und Todesfälle wie Yagmur und Chantal zu verhindern.

Am Freitag trugen Mitarbeiter des Allgemeinen Sozialen Dienstes (ASD) ihren Protest auf die Straße. „Es ist inzwischen die Mehrheit beim ASD, die unzufrieden ist. Was wir brauchen, ist mehr Zeit und Kontakt zu den Familien. Wir möchten, dass Sozialsenator Scheele uns endlich unterstützt“, sagte eine Sozialarbeiterin bei der Versammlung im Hamburg-Haus in Eimsbüttel und erhielt langen Beifall von 250 Kollegen.

„Sozialsenator Detlef Scheele (SPD) schenkt der Unterbesetzung und damit der permanenten Belastung der Mitarbeiter kaum Beachtung“, heißt es in einer Stellungnahme des ASD-Vernetzungstreffens. Das ist ein Zusammenschluss von rund 60 Mitarbeitern aus allen Hamburger Bezirken, die nicht zuletzt angesichts des tragischen Todes der dreieinhalb Jahre alten Yagmur im Dezember 2013 mit sehr konkreten Forderungen auftreten: Neben der Obergrenze von 28 Fällen verlangen sie als Sofortmaßnahme die Einstellung von 65 neuen Mitarbeitern für den ASD in den Jugendämtern sowie die Abschaffung der Jugendhilfeinspektion, die von der Behörde nach dem Methadon-Tod des Pflegekinds Chantal eingesetzt worden war. Außerdem soll das 133,5 Millionen Euro teure Computersystem Jus-IT, das vor zwei Jahren eingeführt wurde, auf den Prüfstand.

„Wenn wir jetzt nicht weitreichende Unterstützung erhalten, dann müssen wir auch die Frage stellen, wer dann in Zukunft die Verantwortung für diese Politik trägt – wir sind es nicht“, heißt es in einer Erklärung der ASD-Beschäftigten. Sie wollen es nicht mehr hinnehmen, dass es in ihrer sozialen Arbeit zunehmend um Kontrolle und Kostensenkung geht. „Ich mache meine Arbeit sehr gerne, und das seit mehr als 20 Jahren“, sagte eine Jugendamtsmitarbeiterin. „Aber warum gibt es denn immer mehr tote Kinder in Hamburg? Weil der Wasserkopf immer größer wird, während uns immer weniger Zeit bleibt, um mit den Familien zu sprechen.“ Lauter Beifall.

Den gab es auch für Professor Manfred Neuffer. Der renommierte Erziehungswissenschaftler: „Die Hamburger Jugendhilfe ist auf einem Irrweg“, sagte er. „Statt mehr Kontrolle und mehr Bürokratie brauchen wir mehr Zeit für Gründlichkeit und mehr Fachlichkeit.“ Die Einsetzung der Jugendhilfeinspektion, um die Arbeit der ASD-Mitarbeiter zu überprüfen, sei ein Fehler gewesen. In einem Zwangskorsett könne sich kein Vertrauen entwickeln. Die Mitarbeiter bräuchten mehr Gestaltungsspielräume und weniger neue Regeln.

Im Jahr 2013 musste eine sozialpädagogische Fachkraft im Schnitt 89 Fälle bearbeiten, 2012 waren es 79. Ende vergangenen Jahres waren im ASD 358 der 369 Stellen besetzt. Die Arbeitsbelastung der Jugendämter wird auch durch die hohe Anzahl von Überlastungsanzeigen deutlich. Allein 2012 gab es aus den ASD-Abteilungen 95 individuelle und kollektive Überlastungsanzeigen. Kollektiv bedeutet, dass die gesamte Abteilung eine Überlastung anzeigt. Laut Senat wurden 2012 die meisten individuellen Anzeigen in den Bezirken Eimsbüttel (26) und Hamburg-Mitte (25) registriert. Scharfe Kritik übte Neuffer auch an Jus-IT. Es sei eingeführt worden, „um Notfälle sofort zu erkennen“ und „in dem Konstrukt der Hilfe nicht den Überblick zu verlieren“. Nach Schilderung der ASD-Mitarbeiter ist das genaue Gegenteil der Fall. „Es ist unübersichtlich“, „ich bin immer wieder fassungslos“, „es ist ein Knüppel zwischen den Beinen“, „man fliegt aus Textmasken raus, weil die Zeit abgelaufen ist“, „Zahlungen sind plötzlich nicht mehr möglich“ – die Anwesenden äußerten Wut und Empörung über „ein Computerprogramm, das auf Kontrolle ausgelegt ist und darauf, beim Vorgesetzten zu petzen“. Für einen Bruchteil des Geldes hätte man IT-Leute anstellen können, „die uns ein anständiges Programm geliefert hätten“.

Neuffer: „Abschaffen wird man Jus-IT nicht, dazu war es zu teuer. Aber verschlanken kann man es allemal, man muss sich nur auf den Weg machen.“ Schließlich forderten die Protestler mehr Wertschätzung – und dass die Politik die eklatanten Fehler korrigiert. „Ich kann es nicht nachvollziehen, dass hier nicht mehr Verantwortung übernommen wird. Senator Scheele weiß doch, wie viele Fälle wir haben. Warum stellt er sich nicht vor uns und erklärt den Menschen, was für einen harten Job wir jeden Tag machen müssen?“