Gesundheitsbehörde bereitet Cannabis-Aufklärungskampagne vor. Start ist im Herbst

Hamburg. Irgendwann ist er nicht mehr S-Bahn gefahren. Er hat sich einfach nicht mehr getraut. Eigentlich ist Hannes ein kräftiger Kerl, selbstbewusst schätzt er sich selbst ein. Aber wenn jemand in den Waggon stieg, der groß und breit war, wollte er nur noch raus. „Ich hatte eine leichte Paranoia“, beschreibt der 19 Jahre alte Schüler seine Panikattacken. Das war im vergangenen Jahr. Jetzt sitzt Hannes (Name von der Red. geändert) im zweiten Stock eines Backsteingebäudes auf dem UKE-Gelände, die Jugendsuchtstation. Fünf Jahre hat er regelmäßig gekifft. Zum Schluss war ihm nichts wichtiger als der nächste Joint. Er ging nicht mehr raus, und schon gar nicht in die Schule. Bis er zum zweiten Mal sitzen blieb. Hannes zog die Notbremse, er erzählte seinen Lehrerinnen von seiner Sucht – und wies sich selbst ein.

Bei 4,5 Prozent der Bundesbürger ab 18 Jahren liegt eine Cannabisabhängigkeit oder problematischer Cannabiskonsum vor. Diese Zahl aus dem Epidemiologischen Suchtsurvey hat die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen am gestrigen Dienstag im Jahrbuch Sucht 2014 veröffentlicht. Tendenz: steigend. Das bestätigt auch der aktuelle Rauschgiftbericht der Drogenbeauftragten, nach dem Cannabisdelikte im vergangenen Jahr weiter stiegen und mit 145.013 polizeilich registrierten Straftaten (2012: 134.739) einen neuen Höchststand seit 2008 erreichten. „Besonders Jugendliche rauchen immer häufiger Cannabisprodukte – und früher“, sagt Professor Rainer Thomasius, Suchtforscher und Leiter des Deutschen Zentrums für Suchtfragen des Kindes- und Jugendalters am UKE.

Hannes war 14 Jahre alt, als er sich zum ersten Mal einen Joint drehte. Anfangs nur ein-, zweimal die Woche. „Es hat Spaß gemacht, alles war leichter“, sagt er. Dann wurde es immer mehr. Er fing an zu jobben, um sich den Stoff zu besorgen. „Irgendwann haben meine Eltern es gemerkt, aber sie konnten sich das Ausmaß nicht vorstellen“, sagt Hannes, und es klingt so, als spräche er über einen anderen. Er erfand Lügengeschichten, warum er nicht in die Schule musste. Es war wie eine Spirale, die sich immer schneller drehte. Mit 17 Jahren fing er an zu dealen. Dann brach einer seiner Kifferfreunde bei seiner Familie ein, klaute Computer und Spielekonsole. Das war wie ein Weckruf. „Ich habe begriffen, dass ich was ändern muss.“

In Hamburg hat fast jeder fünfte Schüler Erfahrung mit Cannabisprodukten wie Marihuana oder Haschisch. Das ergab eine Umfrage, die die Hamburger Landesstelle für Suchtfragen im vergangenen Jahr veröffentlichte. Auf die Frage, ob sie in den vergangenen 30 Tagen Cannabis konsumiert haben, antworteten fast 13 Prozent der 14- bis 15-Jährigen mit Ja. 2009 waren es nicht mal acht Prozent. Auch wenn nicht jeder gleich süchtig wird, sehen Suchtexperten die Entwicklung mit zunehmender Sorge. Denn: Regelmäßiger Konsum führt nach jüngsten Studien zu Veränderungen im Gehirn. Die Jugendlichen riskieren Gedächtnis-, Aufmerksamkeits- und Intelligenzdefizite. Es kann zu Entwicklungsrückständen von mehreren Jahren kommen. Auch Psychosen können ausgelöst werden. Cannabis ist zudem immer wieder auch der Einstieg für harte Drogen.

„Cannabis ist in den vergangenen Jahren aus dem Fokus der Suchtprävention geraten“, sagt Suchtforscher Thomasius. Wie andere Experten wartet er dringend auf die Ergebnisse über den Cannabiskonsum im Rahmen des 2012 durchgeführten Jugendsurveys, die noch nicht veröffentlicht wurden. Denn er sieht noch einen Faktor für den Konsumanstieg: die aktuelle Legalisierungsdebatte für Cannabisprodukte. In den USA erlaubt fast die Hälfte der Bundesstaaten den medizinischen Einsatz von Marihuana. Colorado hat es für den Privatgebrauch freigegeben.

In Deutschland fordern Rechtsprofessoren vehement eine Reform des Betäubungsmittelgesetzes. Derzeit gilt die widersprüchliche Regelung, dass zwar der Konsum von Cannabis erlaubt ist, nicht aber der Besitz – wenn dieser einen Wirkstoffgehalt von 7,5 Gramm THC (Tetrahydrocannabinol) übersteigt. „Jugendliche denken, wenn Erwachsene über die Gefährlichkeit von Cannabisprodukten streiten, kann es so schlimm nicht sein“, sagt Thomasius. Die Gesundheitsbehörde will den „Verharmlosungstendenzen“ etwas entgegensetzen. 50.000 Euro stehen für eine Aufklärungskampagne bereit, die gerade vorbereitet wird. Geplant ist auch ein Wettbewerb für Plakate und Videos, an dem Jugendliche sich beteiligen können. Der Start der Aktion ist im Herbst.

Hannes ist einmal rückfällig geworden. Aber er hat eine zweite Chance auf der Jugendsuchtstation bekommen. Jetzt hat er den zwölfwöchigen Entzug fast geschafft, an einzelnen Tagen geht er wieder in die Schule. Es ist hart, aber seine Freundin habe ihm geholfen, sagt er. Mit seinen alten Freunden hat er nichts mehr zu tun. In zwei Jahren will er Abitur machen. Auch das Verhältnis zu den Eltern hat sich gebessert. „Das Geld, das ich meiner Mutter früher aus dem Portemonnaie geklaut habe, gibt sie mir jetzt fürs Schwimmbad.“