Eine Glosse von Alexander Schuller

In der Halbzeit der Partie Madrid gegen Dortmund, die wir auf Pauls Sofa sahen, klingelte das Telefon. Ich hatte meinem Nachbarn eine Hühnersuppe gebracht, da er sich einen dicken Schnööf aufgesackt hatte: Fieber, dicker Hals, verstopfte Nase. Für einen Mann ertrug Paul dieses Leiden (das ich ja selbst gerade nur äußerst knapp überlebt hatte) jedoch vorbildlich, fast ohne zu jammern. Bis er den Hörer abnahm. Was keine gute Idee war. Denn seine Schwester war dran.

„Wie es mir geht? Rate mal“, sagte Paul mit einer Stimme, die nichts Menschliches mehr besaß. Er verdrehte die Augen und schaltete das Telefon auf Mithören. Seine Schwester sagte: „Ja, das kenne ich. Fies, ganz fies. Du Armer!“ Paul: „Ja.“ Schwester: „Bei mir ist es auch noch nicht ganz weg!“ Paul: „Ja.“ Beide wussten wir, dass seine Schwester zwei Tage zuvor aus ihrem Karibikurlaub zurückgekehrt war. Auf Facebook ging es jedoch nie um Erkältungen – nur um Drinks in der Strandbar in St.Lucia. Sie sagte: „Das haben ja zurzeit alle. Dieses Jahr ist es besonders schlimm.“

Paul kämpfte mit einer Hustenattacke. Seine Schwester: „Das dauert wo-chen-lang! Aber was ich dich fragen wollte, Paul: Könntest du mir vielleicht morgen meine Winterreifen...“ Paul: „Was?“ Schwester: „Oder meinst du, dass es noch mal frieren wird? Also der Wetterbericht meint ja, dass...“ Pauls Gesicht lief rot an. Er würgte. Schwester: „Wir müssten mal nachgucken, ob die Sommerreifen noch genügend Profil haben.“ Paul: „Ja.“ Er begann zu krampfen. Schwester: „Du sagst ja gar nichts!“ Paul rang nach Atem. Ich wand ihm das Telefon aus der Hand und sagte: „Entschuldigung, ich bin der Notarzt. Ihr Bruder kollabiert, wenn ich ihm jetzt keine Spritze gebe!“ Schwester: „Klar. Könnten Sie Paul aber bitte sagen, dass er mich noch mal anruft – wegen meiner Winterreifen?“ Ich legte auf. Paul blickte mich dankbar an. Später sagte er: „Das ist der Unterschied: Freunde kann man sich aussuchen.“