Mit riskanten Situationen kennt sich Reinhold Messner aus. Der Gipfelstürmer verlässt sich dann auf seinen Instinkt. Über Grenzerfahrungen spricht er vor Hamburger Managern.

Nein, er hat sich nicht verirrt. Reinhold Messner steht in dem neonbeleuchteten Konferenzsaal im hit-Technopark in Moorburg vorne neben dem Stehpult vor der großen Leinwand. 250 Unternehmer und Entscheider aus der Hamburger Wirtschaft sitzen erwartungsfroh auf ihren Stühlen, um von dem wohl bekanntesten Extrembergsteiger etwas über „Risikomanagement“ zu erfahren. Es ist ein bisschen so, als würde ein altes 8-Spur-Tonbandgerät in einem komplett digitalisierten Musikstudio seine Dienste anbieten. Immerhin sind die Harburger Berge gleich um die Ecke.

Reinhold Messner stand als erster Mensch der Welt auf den Gipfeln aller 14 Achttausender der Erde. Er hat als Erster im Alleingang den Nanga Parbat, ebenfalls einen Achttausender, bestiegen. Er war als Erster zusammen mit Peter Habeler ohne Zuhilfenahme von Flaschensauerstoff auf dem Mount Everest. Das ist jetzt 36 Jahre her. Aber Messner, schlank, Vollbart, dicke Lockenpracht, sieht aus, als würde er immer noch täglich auf die Berge stürmen. Die Zeit jedoch kann auch ein Naturbursche nicht bezwingen. Im September wird der Südtiroler 70 Jahre alt.

Was kann er den Managern und Kaufleuten erzählen? Was können sie lernen von einem, der es sich zur Lebensaufgabe gemacht hat, sämtliche Gipfel zu erklimmen und dabei psychische und physische Grenzen a) zu ignorieren und b) zu überschreiten?

„Auch Sie haben täglich viele Entscheidungen zu treffen und müssen Risiken managen“, sagt er gleich zu Beginn zu den Gästen. Das aber, so beugt er vor, sei es wohl schon mit den Gemeinsamkeiten. „Ich habe mich in Gebieten aufgehalten, in denen der Mensch eigentlich nicht überleben kann.“ Und deshalb könne er den Zuhörern heute Abend auch nicht sagen, wie sie ihre Risiken managen sollten. „Ich kann Ihnen nur erzählen, wie ich in Risikosituationen gehandelt habe.“

Reinhold Messner ist 24 Jahre alt, als er mit seinem Bruder Günther den Heiligkreuzkofel-Mittelpfeiler in den Dolomiten in Angriff nimmt. Irgendwann hängt er „in einer 60 Meter steil aufragenden Wand, bei der es kein Zurück mehr gab“. Sie sind damals ohne Bohrhaken geklettert. Ohne Absicherung also. Nach unten ging es irgendwann nicht mehr, „es gab nur die Ausflucht nach oben“. Aber auch dort sah er mit einem Mal keinen Weg mehr. „30 Minuten Hoffnungslosigkeit“, sagt Messner. Eine halbe Stunde hilflos gefangen zwischen Himmel und Erde. Dann hat er sich konzentriert. Er hat die Wand noch einmal „nach winzigen Rauigkeiten“ abgesucht. Er sagt: „In dieser Notlage sind mir plötzlich Kraft und Konzentration zugeflogen.“ Er spricht von einem „Flowzustand“, der ihn in die Lage versetzt hat, Griff und Tritt zu finden und diese Passage zu meistern. Er hat damals für sich gelernt: „Wenn ich zu hundert Prozent bei meiner Sache bleibe, sind Ziele erreichbar, von denen ich vorher dachte, dass sie nicht zu schaffen sind.“

Die Geschichten von Reinhold Messner, der mit acht Geschwistern in Villnöß in Südtirol aufgewachsen und heute Ehrenbürger der Gemeinde ist, handeln meist von Leben und Tod. Und wenn man ihn fragt, wie oft er selbst dem Tod in die Augen geschaut hat, hebt er seine rechte Hand und spreizt fünf Finger. „Öfter nicht.“ Na dann.

Er spricht dabei, und das klingt fast beschwichtigend, von „ganz kurzen Notsituationen“ oder „von Krankheiten in großer Höhe“. Wie fühlt sich das an? „Am Anfang ist man verzweifelt“, sagt er. Und wenn die letzte Hoffnung verloren ist? „Dann lässt man sich in den Tod fallen.“ Er ist aber jedes Mal wieder aufgewacht und weiß heute, „dass das Sterben keine anstrengende Sache ist“.

Reinhold Messner hat während seiner Touren einige Kameraden verloren. Bei der Besteigung des Manaslu in Nepal über die bis dahin völlig unbekannte Südwand starben 1972 Franz Jäger und Andi Schlick, die sich verirrt hatten. Warum hat es immer die anderen getroffen und nie ihn? „Ich bin ein ängstlicher Mensch“, sagt er. Als er 15 Jahre alt gewesen ist, sei er sehr naiv auf die Berge gestiegen. Mit 18 habe er sich von anderen Kletterern ganz viel abgeschaut. „Und als ich das gleiche Können hatte wie die Besten, war ich allen überlegen, weil ich mich auf meinen Instinkt verlassen konnte.“ Entscheiden tut immer der Instinkt, sagt Messner.

Er hat auch seinen Bruder verloren. Im Mai 1970 trat eine Expedition mit 18 Teilnehmern an, um den Nanga Parbat über die damals noch niemals bestiegene Rupalwand zu erklimmen. „Die höchste Eiswand der Welt, sie fängt da an, wo die Eigernordwand aufhört.“ Messner machte sich am Morgen des 27. Juni allein vom letzten Hochlager auf. Sein Bruder Günther stieg ihm unbemerkt nach. Sie erreichten zusammen den Gipfel. „Mein Bruder erlitt einen Kollaps, er hatte sich völlig verausgabt.“

Durch den geringeren Sauerstoffpartialdruck in großen Höhen, sagt Messner, „werden Wille, Entscheidungsfreude und Urteilskraft deutlich reduziert“. Und der Abstieg ist noch einmal viel schwieriger als der Aufstieg. „Bis zu minus 40 Grad, vor uns ein einziger Abgrund, die größten Gefahren sind immer Lawinen und Steinschlag.“ Günther wurde beim Abstieg kurz vor dem Ziel von einer Lawine verschüttet. Reinhold erlitt so starke Erfrierungen, dass ihm sieben Zehen amputiert werden mussten. „Ich bin am Ende auf Knien und Händen talwärts gekrochen.“

Später gab es jahrelange Gerichtsprozesse zwischen den Teilnehmern und gegenseitige Vorwürfe wegen unterlassener Hilfeleistung.

Warum hat Messner danach weitergemacht? Was hätte noch passieren müssen, um ihn zum Aufhören zu bewegen? Was ist es wert, das Risiko immer wieder aufs Neue so kühn herauszufordern? Natürlich, sagt Messner, haben ihm viele anschließend gesagt: „Hör doch endlich auf mit dem Blödsinn!“ Aber man könne ja Ereignisse nicht rückgängig machen. „Und dieses Erleben gräbt sich tiefer ein als alles andere – das wollen Sie einfach immer wieder haben.“

Ist das eine Sucht? Ist Messner vor allem ein kranker Gipfel-Junkie gewesen? „Ich bestreite das“, sagt er. Es sei auch kein Rausch oder etwas Ähnliches, was ihn immer wieder angetrieben habe. Was war es denn? „In solchen extremen Momenten kommen alle menschlichen Werte zum Tragen“, sagt er. Jeder Mensch habe Angst. Die sei auch wichtig. Aber dagegen könne man den Mut setzen. Und daraus wachse das Selbstwertgefühl.

Diese Grenzerfahrungen seien auch „eine Auseinandersetzung mit der absoluten Freiheit“. In der Wildnis gibt es keinen Lehrer und keinen Vater, keinen Bürgermeister und keinen Pfarrer. „Nur ich selbst bin verantwortlich für mich.“ Ein anarchisches Lebensmuster ohne Richter. „Der einzige Richter ist die Natur“, sagt Messner. Und die mache keine Fehler. „Die Fehler macht immer der Mensch.“

In den 80er-Jahren hat sich Reinhold Messner auch politisch für den Umweltschutz engagiert. 1999 wurde er als parteiloser Kandidat für die Grünen Südtirols für fünf Jahre ins Europäische Parlament gewählt. Danach bewarb er sich für eine Wiederwahl bei den bayerischen Grünen, die ihn aber als Kandidaten nicht akzeptierten.

Nach den Bergen durchquerte Reinhold Messner zweimal die Antarktis. 1990 zusammen mit Arved Fuchs. 2800 Kilometer in 92 Tagen. „Das war mein drittes neues Leben.“ Später lief er durch Grönland und vor zehn Jahren noch einmal durch die Wüste Gobi.

Ja, sagt Messner, er und die vielen anderen Extremsportler seien Radikale. Immer auf der Suche nach dem nächsten Abenteuer. Er betreibe die „Kunst des Nichtsterbens“. Und die Frage sei nicht, ist das richtig oder falsch, was er macht. Sondern: Ist das möglich oder unmöglich? „Es ist nicht nützlich, was wir machen“, sagt Messner, vierfacher Vater und in zweiter Ehe verheiratet, der sich gerne als „Eroberer des Nutzlosen“ bezeichnet. „Aber es war das Sinnvollste, was ich tun konnte.“

Heute lebt er von den Berichten aus der Todeszone. Die Gage für einen Vortrag vor Managern wie in Moorburg könnte er für den Kauf eines Kleinwagens verwenden. Seine Bücher tragen Titel wie „Die Extremen“, „Überlebt – alle 14 Achttausender“ oder „Berge versetzen – das Credo eines Grenzgängers“.

Er wohnt in Meran oder auf seinem unter Denkmalschutz stehenden Schloss Juval in Südtirol. Er züchtet Yaks und hat in einem umgebauten Bergbauernhof das Restaurant „Yak und Yeti“ eingerichtet.

Und er arbeitet seit mehr als fünfzehn Jahren an seinem Messner Mountain Museum. „Ich stecke alle meine Mittel und all meine Begeisterung in dieses Museum. Das macht mir genauso viel Spaß wie die Besteigung des Mount Everest.“ Das MMM besteht aus einem zentralen Teil auf Schloss Sigmundskron und vier Zweigstellen, in denen es um die Dolomiten, um das Eis oder um die unterschiedlichen Bergvölker geht. Im Sommer wird es endgültig fertiggestellt sein. Und dann?

Reinhold Messner sagt, er sei kein Verwalter. Sobald er ein Projekt beendet hat, fängt er etwas ganz Neues an. „Alles, was man hat, ist langweilig.“ Das sich aneignen sei es, was das Leben ausmache. Gibt es noch etwas, was er erreichen will, wird Messner am Ende seines Vortrags im Technopark gefragt? „Ich kann nicht schwimmen“, sagt er. Wahrscheinlich wird er es irgendwann einfach versuchen. Schließlich ist er auch ab und zu auf See. Das sei zwar nicht seine Leidenschaft. Aber die Gewalt des Meeres findet er sogar noch beeindruckender als die Größe der Berge. Und überhaupt, sagt er am Schluss, und gibt seinen Zuhörern dann doch noch etwas für ihren Berufsalltag mit: „Wer etwas nicht wagt, kann nicht einmal scheitern.“