Die 350 Bewohner in der Siedlung an der Saarlandstraße fahren ausschließlich Fahrrad, Bus, Bahn oder Taxi. Überdurchschnittlich viele Kinder leben in dem Quartier in Barmbek. Ein bisschen fühle es sich dort an wie in Bullerbü. Dritter Teil der Serie

Vom Fahrrad aus sieht man mehr. „Im Auto verhält sich das anders. Der Blick ist eingeschränkt und man guckt an vielem vorbei“, sagt Thomas Pusch. Der Lehrer arbeitet an einer Stadtteilschule und erlebt Hamburg auf dem Weg zur Arbeit täglich hautnah, spürt Wind und Wetter, bemerkt Neues und erlebt die Menschen auf der Straße direkter. Der 51-Jährige verzichtet auf ein Auto und fährt Rad, Bus oder Bahn, oder er ist mit seiner Lebensgefährtin und den fünf Kindern Lena, 16, Julia, 14, Charlotte, 11, Janne, 8, und Mika, sieben Monate, mit dem Kanu unterwegs. Pusch und Ruth Moritz sind keine Missionare, die etwas gegen Autofahrer haben.

Es geht auch nicht um Autofeindlichkeit. Aber in ihr Lebenskonzept passe ein Auto eben nicht und deshalb lebt die Familie mit 350 Gleichgesinnten in der autofreien Siedlung an der Saarlandstraße in Barmbek. Ausgerechnet an der stark befahrenen Saarlandstraße, in Sichtweite zur U-Bahn-Station, liegt dieses Gebiet. In zweiter Reihe zwar, aber der Verkehrslärm ist dennoch allgegenwärtig. Es scheint ein wenig absurd, aber autofrei in einer Großstadt, das bedeutet nicht, dass Autos innerhalb eines bestimmten Radius verbannt sind, sondern lediglich, dass die Bewohner auf ein eigenes Fahrzeug verzichten. Was sie von anderen Bauprojekten unterscheidet: Sie teilen die Ideologie vom autofreien Leben.

Taxi- und Busfahren sind aber durchaus erlaubt. Bewohner Jörg Michael Sohn ist, wie er sagt, „leidenschaftlicher Taxikunde“. Der 60-Jährige hat das autofreie Quartier am Barmbeker Stichkanal Mitte und Ende der 1990er-Jahre mitorganisiert. Er lebt und arbeitet seit fast 14 Jahren dort. Früher, als er mit Ehefrau Inga Kypke noch am Lokstedter Steindamm wohnte, besaß er mal einen Fiat Panda. Er hatte spät, mit 30 Jahren, überhaupt erst seinen Führerschein gemacht und war nie ein begeisterter Autofahrer, was ein wenig kurios ist. Denn Sohn ist Verkehrspsychologe, und ausgerechnet er verhilft unter anderem Menschen, die ihren Führerschein verloren haben, zurück zu ihrer Fahrerlaubnis. Er hat sein kleines Auto mit dem Einzug in die Siedlung wieder abgeschafft. „Das war kein Problem. Es ist immer noch günstiger, ein Taxi zu nehmen als ein Auto zu besitzen“, sagt er.

Ihm helfe seine Einstellung auch im Beruf: „Ich habe eine große Distanz zu Autofahrern und verfalle in keine Kumpanei mit meinen Klienten nach dem Motto: Ach, wir fahren doch alle mal zu schnell.“ Im Wohnprojekt sei er dafür berüchtigt, dass er auch nicht gern Fahrrad fährt. Das sei völlig untypisch. Denn darauf ist baulich fast alles ausgerichtet, es gibt überdachte Fahrradhäuschen vor den Hauseingängen, eine Rampe mit automatisch öffnender Tür direkt in die „Tiefgarage“, die natürlich kein Stellplatz für Autos ist. Hier parken Fahrräder in allen möglichen Größen und Bauarten. Viele besitzen gleich mehrere Räder, hier lagern Thomas Pusch und weitere Nachbarn ihre Kanus und Kajaks. Das lang gestreckte Grundstück ist an zwei Seiten von Wasser umgeben, dem Osterbekkanal im Süden und dem Barmbeker Stichkanal im Osten. Einen eigenen Bootssteg hat die Hausgemeinschaft in Eigenregie gebaut.

Wer auf Autos verzichtet, hat viele Vorteile: kaum parkende Autos – bis auf Notfallparkplätze. Die sind für Rettungswagen eingerichtet worden, für Besucher und für besondere Situationen. Zum Beispiel, falls jemand aus gesundheitlichen Gründen doch einmal ein Fahrzeug benötigt, so wie die hochschwangere, freiberufliche Hebamme, die ihre Hausbesuche mit einem Auto erledigen muss. Wo in anderen Siedlungen Platz für Autos wäre, ist hier ein Basketball- und ein Volleyballfeld, eine Schaukel und eine Fläche zum Boulespielen. Und viel Grün! Der Begriff ist überstrapaziert, wenn es um besonders idyllische Wohnformen geht, aber er beschreibt die besondere Atmosphäre doch sehr gut: Bullerbü.

In dem Quartier leben viele Kinder. Sie haben eigene Räume gestaltet

An die 20 Kinder und Jugendliche leben in dem Quartier. „Es ist toll, dass ich rausgehen kann, ohne das Grundstück verlassen zu müssen“, sagt Charlotte. „Hier ist so viel Natur und es gibt so viele andere Kinder, mit denen verstehe ich mich auch gut.“ Die Jungen und Mädchen haben einen Raum, den sie nach eigenen Vorstellungen ausgestattet haben, es gibt einen Tischtennisraum. „Kinder in der Stadt können nicht schöner wohnen“, sagt Ruth Moritz. Ihre Kinder, sagt die 42-Jährige, haben hier die Möglichkeit, selbstständig zu sein.

Sie gehört mit ihren vier Mädchen und Baby Mika wohl zu den kinderreichsten Familien im Quartier. Als Mika vor sieben Monaten zur Welt kam, sang der hauseigene Chor ein Willkommenslied, wie bei jedem Baby, das in den beiden Gebäuderiegeln der autofreien Kleingenossenschaft „Wohnwarft e.G.“ und der Eigentumsgruppe „Barmbeker Stich“ geboren wird. Für Mika war es ein norwegisches Lied, weil die Familie großer Norwegen-Fan ist. Eine Liebe, die sie mit Jörg Michael Sohn und dessen Frau teilt. So kommt es auch, dass die beiden Familien eine besondere Nachbarschaft pflegen. Eines ist das Quartier aber nicht: eine erweiterte Wohngemeinschaft. Jeder führt sein eigenes Leben, eingebettet in eine funktionierende Nachbarschaft. Und so ist der Gemeinschaftsraum so etwas wie das Dorfgemeinschaftshaus in kleineren Orten. Dort wird Theater gespielt, Musik gemacht, gesungen und gefeiert, werden Urlaubsdias gezeigt. An diesem Sonntagnachmittag feiern Helga und Rainer dort einen Geburtstag mit Kaffee und Kuchen.

Ohne Auto zu leben, das bedeutet nicht, dass man nicht mobil ist. Bester Beweis ist die Familie von Thomas Pusch. Jeden Sommer geht es mit Faltbooten im Gepäck nach Norwegen zum Kanufahren. Das müssen entspannte Eltern sein, sagen viele, wenn sie mit ihren Kindern 400 Kilometer an der norwegischen Küste entlangpaddeln. Zu Hause haben sie es seit Kurzem ein wenig komfortabler, seitdem sie eine zweite Wohnung auf derselben Etage dazu mieten konnten und nun auf insgesamt 130 Quadratmetern leben. „Unser Projekt ist gut darin, kreative Lösungen zu finden“, sagt Jörg Michael Sohn.

Bis zu 40 Prozent der 164 Wohnungen in dem Quartier sind barrierefrei

Weil sie die größere Wohnung bekam, musste die Familie nicht ausziehen. Das autofreie Quartier besteht zu einem Teil aus Eigentumswohnungen, zum anderen aus Genossenschaftswohnungen mit acht verschiedenen Quadratmeterpreisen, da diese sich nach dem jeweiligen Einkommen der Mieter richten.

Im sogenannten Punkthaus, das seinen Namen seiner runden Form verdankt, sind Behindertenwohnungen. 30 bis 40 Prozent der 164 Einheiten sind barrierefrei. Ein eigenes kleines Blockheizkraftwerk in der „Tiefgarage“ erzeugt Wärme und Strom. Das sorgt für niedrige Energiepreise und damit für niedrige Mieten. Die Verwaltung ist ehrenamtlich organisiert ebenso die vielen Arbeiten, wie der jährliche Frühjahrs- und Herbstputz, die Gartenarbeit, der Verwaltungsrat.

Über alles wird gesprochen, es werden Normen vermittelt und dann wird demokratisch abgestimmt, auch über die Frage, ob eigentlich jeder auf dem Grundstück gegrüßt werden soll oder nur diejenigen, die zum Projekt gehören? Das Ergebnis: Es wird natürlich gegrüßt.