Jedes Jahr werden in Deutschland schätzungsweise bis zu 200.000 Kinder missbraucht. Der Hamburger Verein Dunkelziffer bietet seit 20 Jahren Aufklärung, Prävention und Therapien.

Es war einmal mehr geschehen, diesmal im Stadtteil Hoheluft-Ost, an den Falkenried-Terrassen, nur drei Wochen nachdem in Harburg eine Fünfjährige von einem 63 Jahre alten Mann in dessen Wohnung verschleppt, gefesselt und missbraucht worden war: Diesmal traf es zwei Mädchen, sieben und neun Jahre alt. Sie hatten am Sonntag gegen 17.15 Uhr Klingelstreiche gemacht, als plötzlich ein Mann auftauchte. Er war etwa 30 bis 45 Jahre alt, 1,75 bis 1,80 Meter groß, mit dunklen, kurzen Haaren. Er trug eine dunkle Jacke und eine dunkle Hose mit hellem Gürtel, gab sich als Polizist aus und drohte den Mädchen, ihre Eltern ins Gefängnis zu bringen, wenn sie seinen Forderungen nicht nachkommen würden. Im Eingangsbereich eines Hauses soll er sie dann zu sexuellen Handlungen genötigt haben, die Aussagen der beiden Mädchen, so Polizeisprecher Andreas Schöpflin, „sind absolut glaubhaft gewesen.“

Nach dem Täter wird nach wie vor intensiv gefahndet. Die Mutter der Siebenjährigen wollte, dass der Fall an die Öffentlichkeit kommt, „um andere Kinder zu schützen und den Täter möglichst schnell zu fassen“, sagte sie. Den beiden Mädchen geht es den Umständen entsprechend. Das Gefühl, dass ihnen geglaubt wird und man ihnen helfen wolle, tue ihnen gut. Die Siebenjährige geht schon wieder zur Schule. „Wir wollen die Normalität so gut es geht aufrecht erhalten“, sagt die Mutter, „um es nicht noch schlimmer zu machen.“

Eltern sind seit dem Skandal an der Odenwaldschule stärker sensibilisiert

Bis zu jenem verhängnisvollen ersten Advent des Jahres 2013 hatte sich vermutlich kaum jemand in diesem bürgerlichen, besseren Wohnquartier vorstellen können, dass hier so ein abscheuliches Verbrechen passieren könnte; in einer „gut funktionierenden Nachbarschaft, wo man gegenseitig auf sich aufpasst, vor allem auf die Kinder“, wie es eine Anwohnerin formulierte.

Denn sexueller Missbrauch ist ein vielschichtiges Thema, das in der Öffentlichkeit jedoch nach wie vor stark tabuisiert wird und um das sich eine Menge Mythen ranken. „Leider, und diese Liste ist lang“, sagt Vera Falck, Geschäftsführerin von Dunkelziffer e.V., einer privaten Organisation, die seit nunmehr 20 Jahren permanente Aufklärungs- und Präventionsarbeit betreibt sowie kostenlose Therapien für missbrauchte Kinder anbietet. Zurzeit werden 40 Kinder und Jugendliche in der Einrichtung am Albert-Einstein-Ring in Bahrenfeld regelmäßig betreut. „So heißt es beispielsweise immer wieder, dass sexueller Missbrauch hauptsächlich in unteren sozialen Schichten durch sexuell abartige Triebtäter geschehen würde“, sagt Vera Falck, „doch die Realität ist, dass sexueller Missbrauch in allen sozialen Schichten stattfindet und sich die Täter äußerlich nicht von anderen Menschen unterscheiden.“ Die elegant gekleidete Frau, sie ist Anfang 60, die man eher in der Vorstandsetage einer Bank vermutet (und tatsächlich ist Vera Falck Betriebswirtschaftlerin), hat in den vergangenen zwei Jahrzehnten die Erfahrung gemacht, dass Dunkelziffer e.V. in den sogenannten besseren Stadtteilen sogar eher auf Ablehnung stößt, wenn es um Aufklärung und Prävention im Rahmen des Schulunterrichts geht. „Meist hören wir dann, ‚hier gibt es so was nicht‘“, sagt sie, „und dann fühlen wir uns manchmal regelrecht abgebügelt. In den sozial schwächeren Stadtteilen reagieren die Schulen dagegen häufig sensibler auf unser Angebot und sind in der Regel offener. Fakt ist, dass die Prävention immer noch zu kurz kommt.“ Deshalb sei es ja auch richtig und wichtig, dass Missbrauchsfälle wie jene in Harburg und Hoheluft öffentlich gemacht werden, auch wenn es sich in diesen Fällen um Fremdtäter gehandelt habe, die mit etwa 25 Prozent die weitaus kleinere Tätergruppe darstellt. „75 Prozent der Täter stammen aus dem nahen sozialen Umfeld der missbrauchten Kinder; aus der Nachbarschaft, aus dem Freundes- und Verwandtenkreis und nicht selten sind es auch die eigenen Eltern“, sagt Vera Falck, „wobei es sich in der Regel um männliche Täter handelt und der Missbrauch zumeist auch kein einmaliges Delikt darstellt. Im Gegenteil handelt es sich um Wiederholungstaten, die nicht selten über Jahre hinweg geschehen.“

Seit im Jahre 2010 zum ersten Mal einige kindliche Missbrauchsopfer, die heute erwachsen sind, ihr jahrzehntelanges Schweigen brachen und freimütig erzählten, was ihnen damals auf der Odenwaldschule und auf dem Berliner Canisius-Kolleg widerfahren war, sind noch einmal viele Eltern für dieses Thema stärker sensibilisiert worden. „Jeder Skandal, jeder neue traurige Fall hilft anderseits, das elterliche Bewusstsein dahingehend zu stärken, wie ungeheuer wichtig eine frühzeitige Aufklärung für Kinder ist“, sagt Vera Falck. Schließlich seien die Erwachsenen für den Schutz der Kinder verantwortlich, denen vor allem vermittelt werden müsse, dass sie auch vertrauten Personen gegenüber Nein sagen dürfen, wenn sie etwas nicht mögen. Und wenn es auch nur das Küsschen für Omi ist!“ Kinder müssten unbedingt lernen, sich selbstbewusst zu behaupten, und erst recht müssten Kinder sehr stark sein, wenn sie gar als Opfer plötzlich mit dem ermittlungstechnischen Apparat konfrontiert werden. Vera Falck ist jedoch keine, die härtere Strafen fordert. „Was wir jedoch vom Staat verlangen, ist, dass die gegenwärtige Rechtsprechung den bestehenden Strafrahmen besser ausschöpft. Das Gesetz sieht beispielsweise bei Kindesmissbrauch in einem besonders schweren Fall eine Freiheitsstrafe bis zu 15 Jahren vor. Die Urteile lauten jedoch zumeist auf sieben bis acht Jahre. Dabei leiden die missbrauchten Kinder häufig ein Leben lang.“

Gründer Meyer-Andersen hatte in der „Kinderschänder“-Szene recherchiert

Kriminologen gehen davon aus, dass rund 20 Prozent der Täter pädophil sind und um diese Krankheit wissen, die zwar als nicht heilbar gilt, aber zumindest als therapierbar: Die Betroffenen können auf diese Weise die latente Gefahr für potenzielle Opfer und sich selbst verringern. Das Präventionsnetzwerk „Kein Täter werden“ bietet seit acht Jahren ein kostenloses und durch die Schweigepflicht geschütztes Behandlungsangebot für Menschen an, die sich sexuell zu Kindern hingezogen fühlen und deshalb psychologische Hilfe suchen. Mittlerweile gibt es Standorte in Kiel, Hamburg, Hannover, Leipzig, Regensburg und Stralsund. Weitere Anlaufstellen sind mit dem Ziel geplant, ein bundesweites, flächendeckendes therapeutisches Angebot zu etablieren.

Weitere 20 Prozent der Täter werden von Experten als gewaltbereite „Pädokriminelle“ eingestuft, bei den übrigen 60 Prozent handele es sich um klassische Gewalttäter, die ihre Machtgelüste an den Schwächsten ausleben – den Kindern. „Sexueller Missbrauch ist keine Trieb-, sondern eine Gewalttat. Deshalb spricht man auch von sexualisierter Gewalt“, sagt Vera Falck.

Alle diese Erhebungen fußen auf den rund 14.000 Missbrauchsfällen, die jährlich angezeigt werden; eine Zahl, die übrigens seit Jahren relativ konstant sei, so Falck, wobei man auch nach Ansicht von Kriminalwissenschaftlern wohl davon ausgehen müsse, dass es sich um bis zu 200.000 Fälle pro Jahr handeln könne. Diesbezüglich gebe es keine gesicherten Statistiken über Opfer und Täter, sondern ausschließlich Schätzungen, die auf Erfahrungswerten beruhen sowie auf dem Informationsaustausch der verschiedenen Hilfsorganisationen, die wie Dunkelziffer e.V. bundesweit arbeiten.

Die Geschichte dieses Hamburger Vereins begann im Jahre 1989, als Klaus Meyer-Andersen, preisgekrönter Fotoreporter des „Sterns“, mit einer Kollegin für acht Monate in der bis dato beinahe vollkommen unbekannten Szene der „Kinderschänder“ recherchierte. Er schlüpfte zum Schein in die Rolle eines Täters und musste unter anderem fassungslos miterleben, dass ihm Eltern ihre Kinder für Geld anboten. Es entstand daraufhin eine aufrüttelnde Serie, durch die dieses Tabuthema „Sexueller Missbrauch und Kinderpornografie“ erstmals einer breiteren Öffentlichkeit bewusst wurde. Darüber hinaus wurde kurze Zeit später der Besitz von Kinderpornografie unter Strafe gestellt.

Das Thema ließ Meyer-Andersen jedoch fortan nicht mehr los. Vier Jahre später, 1993, gründete er gemeinsam mit Ärzten, Therapeuten und Lehrern den Verein Dunkelziffer – Hilfe für sexuell missbrauchte Kinder. Seitdem hilft der Verein missbrauchten Kindern mit verschiedenen Projekten und setzt sich für die Aufklärung der Öffentlichkeit ein. Als Klaus Meyer-Andersen im Oktober 2001 im Alter von nur 59 Jahren verstarb, setzte seine Frau, die Journalistin Dorothee Kruse, seine Arbeit fort. „Die Fachkompetenz von Dunkelziffer ist in Workshops, Seminaren und Vortragsveranstaltungen inzwischen sehr gefragt“, sagt die Vereinsvorsitzende, „die öffentliche Anerkennung unserer Arbeit durch Auszeichnungen und die große Akzeptanz in Fachkreisen und Medien haben in den vergangenen 20 Jahren viel zur Wahrnehmung dieses gesellschaftlichen Problems beigetragen.“ Dabei sei ja letztendlich jede ihrer Aufgaben eigentlich eine Staatsaufgabe. Dennoch verzichtet der Verein bewusst auf Zuschüsse der öffentlichen Hand.

„Wir wollen unabhängig sein und ergänzen staatliche Angebote“, sagt Kruse, „daher finanzieren wir Dunkelziffer ausschließlich aus Spenden.“ Der jährliche Etat betrage inzwischen gut eine Million Euro, von ihren insgesamt 15 Angestellten und Honorarkräften arbeiteten allein fünf in der Therapie. Die Zusammenarbeit mit den staatlichen Ermittlungsbehörden verlaufe dennoch gut und vertrauensvoll: „Bis heute haben über 1800 Kriminalbeamte und Staatsanwälte unsere Seminare besucht, die wir dreimal im Jahr jeweils in Hamburg, Dresden und Regensburg veranstalten. Dabei geht es um Hilfestellung bei der Suche und Recherche nach kinderpornografischen Inhalten im Internet.“ Auch die Kosten hierfür trage der Verein, so Dorothee Kruse.

Mittlerweile gibt es dramatische Änderungen im Täterverhalten

„Früher tummelten sich die Täter vorwiegend auf Kinderspielplätzen und vor Kindergärten und Schulen. Heute tun sie das im Internet“, sagt Vera Falck, die im Laufe ihrer jahrelangen Tätigkeit inzwischen einige dramatische Veränderungen im Täterverhalten festgestellt hat: „Dass selbst Säuglinge sexuell missbraucht werden, kannte man vor 15 Jahren noch nicht. Die Gewalt hat erkennbar zugenommen. Was bis vor Kurzem noch Pornografie war, ist heute Folter.“ Besonders erschreckend sei auch, dass es sich bei den Tätern zunehmend um Jugendliche handeln würde. Sie vermutet, dass dieser Umstand auch der fortschreitenden „Pornografisierung unserer Gesellschaft“ geschuldet sei. „Denn mit einem Klick landen Kinder und Jugendliche heute auf tonnenweise einschlägigen Seiten, die überdies kostenfrei sind.“

Dieses pornografische Überangebot führe sicherlich dazu, dass Kinder und Jugendliche von Anfang an einen verkehrten Eindruck von Liebe und Sexualität erhalten können. „Da missbrauchen dann auf einmal zwölfjährige, strafunmündige Jungen auf dem platten Land eine Neunjährige und schicken hinterher stolz die Fotos von ihrem ‚Gangbang‘ herum. Derweil tarnen sich die erwachsenen Pädokriminellen in den diversen Chat-Räumen von sozialen Netzwerken für Jugendliche als Teenager. Sie versuchen, Kinder und Jugendliche dahingehend zu manipulieren, ihnen intime Fotos zu schicken, mit denen sie ihre Opfer später erpressen können.“ Dabei sei bereits die Aufforderung an Minderjährige, Nacktfotos von sich zu erstellen und zu versenden, strafbar.

Viele Mädchen haben Angst, dass Fotos im Internet kursieren könnten

Vera Falck erinnert sich noch gut an einen exemplarischen Fall, als eine 13-Jährige sich auf mehrere Treffen einließ, auf denen sie von einem erwachsenen Mann mehrfach vergewaltigt wurde. Als sich das Mädchen später ihren Eltern und dann der Polizei anvertraute, sagte sie aus, dass ihr dennoch „alles andere lieber gewesen wäre, als wenn der Mann ihre Fotos ins Netz gestellt hätte“. Der Täter wurde aufgrund ihrer Aussage und dem eindeutigen Beweismaterial gefasst und verurteilt.

„Kinder sind von Natur aus neugierig und wissbegierig, und das ist auch gut so“, sagt Vera Falck, „doch neulich haben mir die Schüler einer fünften Klasse regelrechten Nachhilfeunterricht gegeben: Sie haben mich auf Internetangebote aufmerksam gemacht, die ich noch gar nicht kannte.“

Dunkelziffer-Spendenkonten: Konto 868 000 100, Deutsche Bank, BLZ 200 700 24oder Konto 1280333996, Haspa, BLZ 200 505 50