Birgit Reimann blickt auf 30 Dienstjahre zurück– von Beziehungstaten bis zur Obduktion. Über die hellen und dunklen Seiten der Großstadt Hamburg lässt sie sich nichts mehr vormachen.

Der Mann ist wütend. „Komm, Sylvi“, brüllt er, „komm jetzt endlich rein!“ Seine Frau sitzt wie ein Häufchen Elend vor einer Haustür in Wilhelmsburg, ihr langes braunes Haar fällt ihr ins Gesicht und verdeckt die geschwollene rechte Wange, das Blut läuft ihr aus der Nase. Birgit Reimann kriegt kein Wort aus ihr heraus. Die Polizistin kniet neben der Frau, als ihr Kollege vom Streifenwagen her ruft: „Achtung, Birgit, er hat ein Messer!“ Die Waffe des Mannes ist auf sie gerichtet.

Birgit Reimann spürt ihren Herzschlag bis zum Hals. Reden, denkt sie, Zeit gewinnen und reden. „Wir wollen doch nur wissen, was passiert ist. Alles wird gut. Herr Baumann, bitte legen Sie das Messer weg.“ Wie oft sie das sagt, weiß sie später nicht mehr. Der Mann beschimpft Birgit Reimann und ihre Kollegen, ist immer noch in Rage. Aber sie bleibt stehen. Streckt schließlich die linke Hand aus, wiederholt: „Geben Sie mir das Messer, und alles wird gut.“ Ihre Rechte liegt an ihrer Dienstwaffe, einer P6. Sie sagt es noch mal und noch mal. Schließlich ergreift sie den Griff des Messers, und er lässt es los.

Birgit Reimann ist 1,81 Meter groß und kräftig, Kollegen nannten sie „Big B“. Vielleicht wäre dieser Vorfall damals in Wilhelmsburg anders ausgegangen, wenn sie kleiner wäre. Aber das glaubt sie nicht. „Das Wort ist die schärfste Waffe des Polizisten“, sagt sie. „Das war so ein Merksatz, den wir in der Ausbildung immer gehört haben. Und er stimmt.“

Die Polizei kommt ins Spiel, wenn etwas außer Kontrolle gerät

Über die hellen und dunklen Seiten der Großstadt Hamburg lässt sich Kriminalhauptkommissarin Birgit Reimann, 52, nichts mehr vormachen. Als Hamburg Anfang der 1980er-Jahre als erste deutsche Stadt den Polizeidienst für Frauen öffnete, gehörte sie zu den ersten, die diese Chance ergriffen. Seither hat sie viele Bereiche kennengelernt: den Dienst in Revierwachen, die Arbeit im Opferschutz, bei der Kripo und im Landeskriminalamt im Bereich Kinderpornografie. „Die Polizei kommt ja immer dann ins Spiel, wenn etwas nicht stimmt, wenn etwas außer Kontrolle geraten ist, wenn Menschen in Not sind“, schreibt sie jetzt in ihrem Buch „Die Großstadt ist mein Revier“. Was die Männer und Frauen in Uniform dabei erleben, hat sie selbst oft an ihre Grenzen gebracht. Es war Zeit für einen Rückblick, fand sie, einen sehr persönlichen, der aber auch einen Einblick in authentische Polizeiarbeit in Hamburg gibt. Die kennen wir ja scheinbar so gut aus Fernseh-Serien – aber das ist ein Irrtum.

Eigentlich ging sie zur Polizei wegen Herrn Vollmer, erzählt sie beim Interview in einem Café am Stadtpark. Das war ihr Verkehrserzieher in der Grundschule, der Ruhe und Umsicht ausstrahlte: „Ich dachte, das ist jemand, der Respekt verdient und etwas Gutes tut.“ Nach bestandenem Abitur und zwei Semestern Ägyptologie an der Uni Hamburg bestand sie auch den polizeilichen Eignungstest. Ihre erste Uniform hatte Männergröße – auf eine Frau ihrer Länge war man nicht vorbereitet. Und ihre erste Polizeiwache war die in Wilhelmsburg.

Kein leichtes Pflaster, aber für Reimann „fantastisch zum Lernen“. Eine verwirrte alte Frau ins Pflegeheim zurückbringen. Schlägereien schlichten. Gegen häusliche Gewalt einschreiten wie bei den Baumanns. Einen plötzlichen Todesfall in einer Wohnung aufklären, die erste Obduktion in der Gerichtsmedizin miterleben. „Tote anzusehen ist mir immer schwergefallen“, sagt sie. Nur ein einziges Mal hat sie erlebt, dass ein Kollege seine Waffe abfeuerte – er erschoss einen schwer verletzten Hund. Die meisten Kolleginnen und Kollegen schafften es, ohne Waffengebrauch durch ihre Dienstzeit zu kommen, sagt sie, und es klingt erleichtert. Allerdings musste sich die Polizei in den 1980ern erst noch emanzipieren von der Vorstellung, es sei allein Männersache, den Staat und die Allgemeinheit zu schützen.

„Was soll man denn auch mit einer Frau bei einer Schlägerei?“, hat Birgit Reimann einen Kollegen damals sagen hören. Was änderte sich, als die Frauen kamen? „Dass der Kaffee besser wurde“, sagt Reimann spontan und lacht. „Nein, den machen Männer genauso gut. Aber es ist eine gute Mischung, mit Männer- und Frauenaugen auf etwas zu gucken. Ein Mann wird vielleicht eher fallbezogen an eine Sache herangehen, eine Frau fragt mehr nach den Hintergründen.“

Heute schalten sich Polizistinnen ganz selbstverständlich auch bei Schlägereien ein, etwa auf dem Kiez. Das könnten Frauen oft gut: reden und besänftigend wirken, um erst mal Ruhe in einen Vorfall zu bringen, meint Reimann. „Es macht eben einen Unterschied, ob zwei Kleiderschränke vor Ihnen stehen und martialisch wirken oder ob eine Frau dabei ist, die das Gespräch lockern kann.“ Vor 30 Jahren hätten Gegner bei Prügeleien noch Hemmungen gehabt, eine Frau zu schlagen. Heute ist sie sich da nicht mehr so sicher.

Gewalt gegen Polizeibeamte, wie erst kürzlich auf St. Pauli, wird nach Polizeistatistiken immer häufiger. Allein Fälle von Widerstand gegen die Staatsgewalt – vor allem unter Alkoholeinfluss – nahmen zwischen 2000 und 2008 insgesamt um 32,2 Prozent zu. Als 2012 knapp 18.000 Polizeibeamte und -beamtinnen in Deutschland befragt wurden, gaben 81,9 Prozent an, dass sie allein in diesem Jahr beschimpft, beleidigt, verbal bedroht wurden; fast jeder zweite wurde gestoßen und geschubst, mehr als jeder vierte geschlagen oder getreten. Die Angriffe kommen vor allem von jungen Männern zwischen 18 und 30 Jahren. Ziel sind Streifenpolizisten ebenso wie Beamte bei Fußballspielen und Großveranstaltungen, Männer wie Frauen.

Woher kommt diese Feindseligkeit? Ist die Polizei zum Ersatzgegner geworden, weil es sonst keine Kampfplätze mehr gibt? „Ich glaube, in der Gesellschaft insgesamt hat sich etwas geändert“, sagt Birgit Reimann. „Hemmschwellen sind gefallen. Wir hatten früher Ehrfurcht vor unserem Verkehrspolizisten. Welches Kind hat die heute noch?“ Wenn die Ausländerbehörde Flüchtlinge überprüfen lässt, muss die Polizei herhalten für politische Konflikte. „Randale ist zu einem milieubedingten Freizeitverhalten geworden. Da kommen Leute aus dem Umland und zünden in der Schanze Müllcontainer an, die sich so etwas zu Hause nie trauen würden.“ Polizisten wird oft heimgezahlt, was der Staat nicht erklärt hat. Sie werden zum ersten Ziel von Enttäuschung oder Wut, wenn der Staat Regeln setzt und damit zur Spaßbremse wird. Die Polizeiarbeit ist gefährlicher geworden.

Aber auch analytischer. Dienststellen und Landeskriminalämter befassen sich mit gesellschaftlichen Veränderungen, mit den Folgen neuer Gesetze. Auch Birgit Reimann. Sie hatte 1996 ihr Studium an der Fachhochschule der Polizei beendet, war Mutter eines Sohnes geworden und teilte sich die Kinderbetreuung mit ihrem Mann, auch Polizist. Die wechselnden Tag- und Nachtschichten schlauchten das Familienleben. Irgendwann habe ihr fünfjähriger Sohn gefragt: Mama, warum gehst du zum Schlafen woandershin? 2002 wechselte sie deshalb zum Bereich Opferschutz und Prävention, Schwerpunkt: Gewalt in Beziehungen und im häuslichen Bereich.

Birgit Reimann hat oft gesehen, wie Gewalt eine Kindheit vergiftet

Beziehungstaten (in denen die Beziehung selbst der Auslöser für den Konflikt ist) werden heute nicht mehr so hingenommen wie vor 100 Jahren. Darunter fällt auch Stalking. Im Januar 2000 trat das Gewaltschutzgesetz in Kraft, das vor Gewalttaten und Nachstellungen im privaten Umfeld schützt. „Wenn ein Mann seine Frau schlägt, kann die Polizei nach diesem Gesetz eine ‚Wegweisung‘ aussprechen: Der Täter darf zehn Tage lang die Wohnung des Opfers nicht mehr betreten. Die Frau soll zur Ruhe kommen und sich überlegen können, ob sie die Beziehung fortführen will. Sie kann sich bei der Interventionsstelle proaktiv in Hamburg beraten und unterstützen lassen.“ Zudem kann die Polizei dem Mann auferlegen, dass er sich der Frau und den Kindern nicht nähern darf, weder zu Hause noch anderswo. „Besonders gut finde ich, dass das Gesetz auch die Kinder schützt“, sagt Reimann. „Denn oft bedroht der Aggressor das Opfer, indem er sagt: ,Ich weiß, wo deine Kinder zur Schule gehen.‘“

Für eine LKA-Studie über Beziehungsgewalt in Hamburg werteten Birgit Reimann und eine Kollegin in zwei Monaten mehr als 800 Fälle aus. Das Gewaltschutzgesetz habe tatsächlich viel bewirkt, sagt sie. „Viele Opfer haben es mithilfe der Polizei und der Opferhilfestellen geschafft, sich zu trennen. Das müssen viele Frauen erst lernen. Manche gehen bis zu fünfmal ins Frauenhaus, bevor sie so weit sind.“ Bei einem Teil der Täter wirke die Wegweisung gleich beim ersten Mal abschreckend. „Es ist ein Schuss vor den Bug: Du kannst nicht machen, was du willst. Andere Täter machen allerdings einfach weiter. Das werden wir wahrscheinlich nie zu 100 Prozent verhindern können.“

Birgit Reimann hat viele Familien erlebt, in denen Kindheiten durch Gewalt vergiftet wurden. Am bedrückendsten aber waren Kinderschicksale, die sie im Landeskriminalamt in Fällen von Kinderpornografie ermittelte. Dabei wertete sie auch Computerdateien und DVDs der mutmaßlichen Täter aus. „Für jedes Bild und jede Aufnahme wird eine Kinderseele zerstört“, sagt sie. „Das Internet macht es sehr einfach, anonym an diese Sachen heranzukommen.“ Jede Verurteilung sei ein Erfolg, aber es müsse mehr geben, sagt Birgit Reimann. Etwa Präventionsprogramme für Täter, mit denen die Charité in Berlin angefangen hat und die inzwischen auch im Hamburger UKE angeboten werden.

Die Polizistinnen und Polizisten, die die Filme ansehen müssen, sind oft selbst Mütter und Väter. Wie wird man die Bilder wieder los? Die Belastung war größer, als Birgit Reimann gedacht hatte. „Ich war darauf gefasst gewesen, dass ich sexuelle Gewalt gegen Kinder sehen würde“, sagt sie. „Aber womit ich nicht gerechnet hatte, war, dass ein Säugling sadistisch gequält wurde. Das Baby war etwa zwei Monate alt.“

Der Täter konnte überführt werden, aber Birgit Reimann merkte nach und nach, dass bei ihr eine Grenze erreicht war. Ihr war kalt, zu Hause bekam sie einen Weinkrampf, hatte plötzlich eine Abneigung gegen den Raum, in dem sie die Filme sichtete. „Das Problem war, dass ich den Täter und einige der Opfer aus unserem Wohnort kannte“, sagt sie. „Der Fall kam zu nah an mich heran. Und dann schafft man es nicht mehr.“ In ihren Albträumen sah sie die Filme des Täters, wachte schweißgebadet auf. Familie und Kollegen sagten: Du hast dich verändert.

Mithilfe eines Polizeipsychologen und des Polizeiseelsorgers musste sie sich zu der Einsicht vorarbeiten, dass sie nicht so weitermachen konnte. Das sei wie bei Sozialarbeitern, sagt sie. „Man fühlt sich omnipotent, man kann alles, macht alles. Aber es ist ein großer Fehler zu sagen, alles geht immer. Man muss lernen zu sagen: Zwar ist der Fall noch nicht abgeschlossen, und ich weiß, ich könnte ihn aufklären, aber ich selber gehe jetzt vor.“ Nach einer Pause wechselte sie in die Abteilung Kommunikation und Datenverarbeitung.

Wie fast alle jungen Polizisten sei sie Idealistin gewesen, als sie anfing, sagt Birgit Reimann. Der Blick auf die hässlichen Seiten der Gesellschaft desillusioniert mit den Jahren. Das passiert jedem bei der Polizei. Und jeder und jede muss es für sich verkraften lernen.

In unserem medialen Bild von der Polizei kommt das allerdings nur am Rande vor. „Die größte Frechheit ist, dass die Fernseh-Polizisten ihre Fälle in 45 oder 90 Minuten lösen“, sagt Reimann und lacht. „Wir sitzen Stunden an Akten und Papierkram. Klar, das ist langweilig, das zeigen sie im Fernsehen nicht. Schon für einen Ladendiebstahl muss die Anzeige geschrieben werden, die Person wird überprüft und vorgeladen, oft nicht nur einmal, alles ein großer Papieraufwand.“ Trotzdem findet sie einige der TV-Kollegen wunderbar: „Ich mag Eva Mattes im ‚Tatort‘. Und ich liebe Bella Block. Sie ist kein Topmodel, nicht super jung, schlank und sportlich, sie trinkt Wein, hat einen Freund. Man kann sich an ihr reiben.“ So sollte es sein: Die Leute bei der Polizei seien „nicht perfekt. In den Uniformen stecken Menschen. Das sollte man nicht vergessen.“

Birgit Reimann (mit Henriette Dyckerhoff): „Die Großstadt ist mein Revier“. Verlag Fischer Krüger, 285 S., 14,99 Euro