Einmal im Jahr wird in Hagenbecks Tierpark Inventur gemacht. Mit erstaunlichen Ergebnissen – mancher Bewohner ist etwas pummelig geworden

Stellingen. Diese Waage. Raffaello ahnte schon, was da kommen würde. Das half der Fransenschildkröte am Freitag allerdings auch nicht weiter. Obwohl sie sich heftig wehrte, mit den Krallen um sich schlug und zu beißen versuchte, ließ Tierpfleger Florian Ploetz nicht los und setzte den übel gelaunten Raffaello zum Wiegen in die weiße Plastikkiste. 8,6 Kilogramm. Eine Gewichtszunahme von 400Gramm binnen eines Jahres. Ohne nennenswerten Panzerzuwachs. Das ist gewaltig – Raffaellos Geheimnis damit gelüftet.

„Der klaut wohl bei seinen Mitbewohnern“, sagte Reiner Reusch, Vizechef des Tropenaquariums bei Hagenbeck – und kündigte Konsequenzen an.

Einmal im Jahr, traditionell kurz vor Silvester, werden im Tropenaquarium die Tiere gezählt, gemessen und gewogen. Um den Überblick zu behalten, aber auch um den Gesundheitszustand der mehr als 13.400 Exemplare zu kontrollieren. „Wenn man sie zählt, muss man sie individuell betrachten“, sagte Reiner Reusch. Dabei falle auf, was im Alltag manchmal untergehe.

Dass manche Arten sich doch nicht so gut wie gedacht vertragen, zum Beispiel. Dass manche Anlagen nicht optimal für ihre Bewohner gebaut wurden. Dass manche Tiere zu pummelig sind, was es – wie beim Menschen auch – zu vermeiden gilt. Und dann wird ein Jahr lang umgesetzt, umgebaut und gehungert – bis zur nächsten Inventur.

Der namenlose Krokodilteju hat seine Diät schon hinter sich. Mit 2,3 Kilogramm war er aufgefallen, für Echsenverhältnisse eindeutig zu viel Speck auf der Hüfte. Ein paar Monate lang gab es Magerkost, am Freitag stimmte das Gewicht dann endlich wieder – 2,1 Kilo . Zur Belohnung gab es eine Extraportion Muscheln und Weinbergschnecken, die das in Südamerika beheimatete Tier mit Genuss zerkaute und auslutschte, bevor es die Schalenstücke wieder ausspuckte.

Für ihre Mitarbeit war kurz zuvor bereits den Kattas am Eingang des Tropenaquariums gedankt worden. Auch sie hatten sich, mit Karottenstückchen bestochen, auf die Waage gesetzt und alle ein Lemuren-Idealgewicht zwischen zwei und maximal dreieinhalb Kilogramm nachgewiesen. So viel zum Gewicht. Aber was sagen die Zahlen? Die Bilanz des Vizechefs fiel positiv aus. „Wir haben ein recht ruhiges und erfolgreiches Jahr hinter uns“, sagte Reiner Reusch. Gelungen sind Nachzuchten von Seepferdchen und den auch als Clownfisch bekannten Anemonenfischen, von denen inzwischen mehr als 100 Exemplare im Rundbecken des Tropenaquariums von Hagenbecks Tierpark schwimmen.

Aufzuchten von Fischen sind schwierig, Jungtiere reagieren empfindlich und benötigen Spezialfutter. Bei den Zebrahaien Harry und Sally zum Beispiel gab es in diesem Jahr wieder befruchtete Eier, der erhoffte Nachwuchs blieb jedoch aus. Reiner Reusch ist trotzdem zuversichtlich: „Wir geben nicht auf und versuchen es weiter.“

Zwei Zebrahaie, das lässt sich leicht zählen. Aber wie viele Goldmakrelen schwimmen zurzeit im Hai-Atoll? Die metallisch-glänzenden Raubfische werden zwar bis zu 1,20 Meter lang, leben aber in Schwärmen. Im Gedrängel wird überholt, gebremst, gewendet, manchmal gibt es Ausbrüche nach vorn, ab und zu trödelt einer. Tierpflegerin Ina Gooßen hatte ihre Mühe und kam schließlich auf 14 Tiere.

14 Goldmakrelen – die Stimmung im Hai-Atoll scheint bestens zu sein

Hervorragend, Bestand gehalten. Das ist eine wichtige Information für die Tierpfleger, denn die Makrelen passen nach Aussage von Vizechef Reiner Reusch „perfekt in die Futterstruktur der Haie“. Würden welche fehlen, ohne dass ihr Verschwinden bisher auffiel, könnte das ein Hinweis auf ein schlechtes Nachbarschaftsverhältnis unter Fischen sein. Dann müssten die restlichen Makrelen zum eigenen Schutz umziehen. Aber mit 14 nachgewiesenen Goldmakrelen scheint die Stimmung im Hai-Atoll bestens zu sein.

Noch schwieriger geriet das Zählen des Pazifischen Segelflossendoktorfisches im Korallensaumriff. Zum einen, weil die handtellergroßen Fische mit anthrazit-gelben Streifen ständig durcheinanderschwimmen. Zum anderen, weil sie sich das mit zahlreichen Verstecken ausgestattete Becken mit 60anderen Arten teilen, deren Vertreter ebenfalls ständig durcheinanderschwimmen.

Tierpflegerin Christin Zimmer schritt am Freitag bei der tierischen Volkszählung die Glasscheibe konzentriert ab und zählte. Hin ging sie und wieder zurück. Und noch einmal hin und noch einmal zurück. „Neun“ verkündete sie schließlich. Nur neun? Die gelben Doktorfische bringen es auf mehr als 30 Tiere, die orangen Farnbarsche sind eine Korallengroßmacht mit mehr als 50 Exemplaren. Ob es den Pazifischen vielleicht einfach zu eng geworden ist? Oder zu laut?

Nachweisbar besser als noch vor einem Jahr geht es in diesem Jahr einem Trio Infernale: einem Teufelsfisch, einem Rotfeuerfisch und einem Schluckspecht. Sie gehören zur Familie der Skorpionfische und tragen hochgiftige Stacheln auf dem Rücken. Ihr Becken wurde in diesem Jahr umgestaltet, bietet jetzt mehr Raum und sogar einen Tunnel zum besseren Flossenvertreten.

Umgebaut wurde in Hagenbecks Tierpark auch das Mangroven-Becken, das mit einer neuen Technik ausgestattet Ebbe und Flut simulieren kann. Strömung und Wassersog zwingen die dort lebenden Schlammspringer auf diese Art und Weise zu deutlich mehr Bewegung, was sich natürlich äußerst positiv auf das Gewicht auswirkt.

Anders gesagt: An ihnen sollte sich Fransenschildkröte Raffaello ein Beispiel nehmen. Ein bisschen mehr Sport, dann kann er der Waage im kommenden Jahr gelassen entgegensehen. Und muss nicht mehr zittern, wenn er schon ahnt, was da traditionell wieder auf ihn zukommt, bei der jährlichen Volkszählung bei Hagenbeck.