Manfred Neuffer von der Hochschule für Angewandte Wissenschaften sagt nach Tod der kleinen Yaya: „Zu viel Bürokratie behindert die Jugendhilfe“

Hamburg. Der Tod der drei Jahre alten Yagmur Y., genannt Yaya, erschüttert Hamburg. Hunderte Anwohner zogen am Sonntag in einem Trauermarsch durch Mümmelmannsberg, wo das Mädchen gestorben war. Professor Manfred Neuffer von der Hochschule für Angewandte Wissenschaften (HAW) beschäftigt sich seit Jahren mit der Kinder- und Jugendhilfe in der Hansestadt. Er übt scharfe Kritik an der Sozialbehörde und dem Gesetzgeber.

Hamburger Abendblatt:

In Hamburg ist wieder ein Kind gestorben, das von staatlichen Stellen betreut worden ist. Yagmur ist nur drei Jahre alt geworden.

Manfred Neuffer:

Es bestürzt mich sehr, dass das Leben eines wehrlosen Kindes so früh zu Ende gegangen ist.

Wie konnte es dazu kommen?

Neuffer:

Das Jugendamt war von Geburt an beteiligt. Da drei Jugendämter mit dem Fall beschäftigt waren, sind vermutlich bei irgendeinem Übergang Informationen verloren gegangen. Generell sind in Hamburg die Übergänge, wenn die zuständige Behörde wechselt, konzeptionell schlecht organisiert. Man muss tief durchatmen, wenn man darüber nachdenkt, was das Mädchen neben den Misshandlungen an Veränderungen durchmachen musste: Erst zur Pflegemutter, dann zu den leiblichen Eltern, ins Kinderschutzhaus und dann wieder zu den leiblichen Eltern – diese vielen Brüche darf es bei einem kleinen Kind nicht geben. Zudem spielt die Problematik, dass die Mitarbeiter des Allgemeinen Sozialen Dienstes zu wenig Zeit für ihre Klienten haben, eine Rolle.

Wer sind dann die eigentlichen Verantwortlichen in diesem Fall?

Neuffer:

Neben Jugendamtsleitern und Bezirkschefs die Sozialbehörde: Sie bestimmen die Rahmenbedingungen für die ASD-Mitarbeiter. Die Behörde legt jedoch wenig Wert auf Beratungsarbeit, sondern will, dass die ASD-Mitarbeiter Fallmanagement betreiben, also Fälle beurteilen, Entscheidungen treffen und dann in Hilfen vermitteln. Das ist der falsche Ansatz. Die Sozialbehörde überzieht die Mitarbeiter seit Jahren mit kostenträchtigen Kontroll- und Dokumentationssystemen, eine Globalrichtlinie jagt die andere. Die Sozialarbeiter sitzen mehr vor ihrem PC und managen Hilfeleistungen, als sich auf ihre eigentliche Kompetenz zu konzentrieren. Die Familien zu beobachten, zu beraten und zu betreuen bleibt auf der Strecke. Wen wundert es, wenn sich Krankheiten, Überlastung, Resignation bei den Mitarbeitern einstellen und Stellen nur notdürftig besetzt werden können. In dieser Gemengelage entstehen dann auch Fehlentscheidungen.

Welche Konsequenzen muss es jetzt geben?

Neuffer:

Was jetzt nicht passieren darf, ist, dass die Behörde nun noch mehr Kontrollinstrumente einführt. Wichtiger ist, innezuhalten und dafür zu sorgen, dass die ASD-Mitarbeiter wieder ihre eigentliche sozialarbeiterische Tätigkeit ausüben können. Sie müssen Zeit haben, um sich mit ihren Klienten auseinanderzusetzen. Es reicht nicht aus, sich ab und zu ein Kinderzimmer anzuschauen, um zu entscheiden, ob das Kindeswohl gefährdet ist.

Was halten Sie von der Jugendhilfeinspektion, die nach dem Methadon-Tod des Pflegekindes Chantal von der Sozialbehörde eingerichtet wurde?

Neuffer:

Es ist ein weiteres Kontrollinstrument, das wieder Druck erzeugt. Die Fachbehörde sollte lieber ihrem Namen gerecht werden: Sie sollte Fachlichkeit in den Mittelpunkt stellen, auch konstruktiv-kritische Diskurse ermöglichen, Jugendhilfe weiterentwickeln und Sorge für die Arbeitsfähigkeit der ASD-Mitarbeiter tragen. Eine Jugendhilfeinspektion wird dann überflüssig.

Auch die teure Software namens Jus IT wurde nach Chantals Tod eingeführt, damit keine Daten mehr zwischen den unterschiedlichen Behörden verloren gehen.

Neuffer:

Die Devise ist hier Datensammeln, Kästchen ausfüllen um sich abzusichern, statt face-to-face Arbeit. Die Arbeit am PC und andere Verwaltungsaufgaben nehmen inzwischen bis zu 70 Prozent der Tätigkeit ein. Dieses Verhältnis ist schief. Natürlich müssen Fälle dokumentiert werden, aber die Dokumentation darf die eigentliche Arbeit nicht behindern. Die Mitarbeiter müssen allein für das diagnostische Verfahren bei Kinderschutzfällen 40 bis 60 Seiten ausfüllen. Diese Zeit wäre besser investiert, wenn der Mitarbeiter bei dem Kind und seiner Familie wäre.

Welche Auswirkungen haben die tragischen Todesfälle der vergangenen Jahre auf die Mitarbeiter der Jugendämter?

Neuffer:

Die Mitarbeiter fühlen sich unter Druck, da die Staatsanwaltschaft bei den Todesfällen insbesondere bei den Jugendamtsmitarbeiter ermittelt, die Entscheidungen in dem Fall getroffen haben. Es gibt einen hohen Krankenstand bei ASD-Mitarbeitern. Wer seine Stelle wechseln kann, wechselt.

Was muss passieren, um Kinder in Hamburg künftig besser zu schützen?

Neuffer:

Es muss ausgemistet werden: Alle Globalrichtlinien, Handreichungen und Managementfantasien müssen auf den Prüfstand und auf Notwendigkeit, Wirksamkeit, Nachhaltigkeit untersucht werden. Die Bedürfnisse der Klienten müssen Ausgangspunkt für fachliches Handeln der Sozialarbeiter werden, nicht das Hilfesystem mit den Vorgaben von Jus IT. Die Kinder- und Jugendhilfe muss auskömmlich finanziert werden. Ein weiteres Problem ist, dass das Elternrecht im Grundgesetz vor dem Kinderrecht steht und das Prinzip gilt, Kinder unbedingt den leiblichen Eltern zurückzuführen. Deshalb entscheiden Jugendamtsmitarbeiter und Familienrichter häufig zu voreilig, das Kind wieder den leiblichen Eltern anzuvertrauen. Das kann fatal sein.

So wie bei Yagmur, die im Sommer erneut zu ihren Eltern kam ...

Neuffer:

Diese Entscheidung war ein großer Fehler. Es fehlt in Hamburg generell ein Konzept, wie man Eltern darauf vorbereitet, ihr Kind wieder bei sich aufzunehmen. Wichtig ist dabei die Erziehung, die Beziehung der Eltern, die häusliche und finanzielle Situation zu stabilisieren. Die Eltern müssten zunächst ein halbes Jahr oder länger begleitet und betreut werden, bevor sie das Kind zurückbekommen.