Am 25. November 1989, kurz nach dem Fall der Mauer, treffen 920 Dresdner auf dem Hauptbahnhof ein. Für eine junge Sängerin wird es eine schicksalhafte Reise Eine Serie von Matthias Gretzschel und Sven Kummereincke.

Als Cornelia Drese und ihr Freund Steffen Friedrich am 24. November 1989 am Neustädter Bahnhof ihrer Heimatstadt Dresden den Zug der Deutschen Reichsbahn besteigen, herrscht Volksfeststimmung. Eigentlich müssten die Menschen an diesem Freitagabend müde sein, denn hinter ihnen liegt ein anstrengender Arbeitstag, aber jeder im Zug ist aufgekratzt. Viele junge Leute sind dabei, begeistert erzählen sie sich Episoden, die sich in den vergangenen Wochen ereignet haben. Unfassbare Geschichten vom Demos, von Enthüllungen über die Stasi und ihren Spitzelapparat, vom Leben der Politbüro-Funktionäre in Wandlitz, aber vor allem von Reisen in den Westen. Erst vor zwei Wochen ist die Berliner Mauer gefallen, und seither gibt es kein Halten mehr. Jeder, der kann, fährt rüber. Will mit eigenen Augen sehen, will selbst erleben, wie es hinter der Mauer aussieht, hinter der Grenze, die noch vor drei Wochen fast unüberwindlich war.

Und heute zeigt man den Grenzern einfach seinen blauen DDR-Personalausweis, und das war’s. Cornelia und Steffen wollten eigentlich längst drüben gewesen sein. Am liebsten wären sie gleich in der Nacht vom 9. November losgefahren. An dem historischen Abend hatten sie auf der Bühne der Dresdner Staatsoperette gestanden, als Darsteller und Sänger in dem amerikanischen Musical „Alexis Zorbas“. Erst nachdem der Vorhang gefallen war, erfuhren sie die unglaubliche Geschichte von der Pressekonferenz in Berlin, auf der Günter Schabowski die Öffnung der Grenzen verkündet hatte. Tausende gingen jetzt nach Westberlin. Jeder konnte rüber, einfach so. Jetzt sitzen die beiden im Sonderzug nach Hamburg, für den sie eher zufällig Tickets bekommen haben. „Wollt ihr fürs Wochenende mit in die Partnerstadt Hamburg fahren?“, hatte ein älterer Kollege gefragt, der bei Gastspielen schon mehrfach im Westen war, und ihnen seine Fahrkarten freundlicherweise überlassen.

Ein paar Abteile weiter sitzt Wolfgang Berghofer, Dresdens Oberbürgermeister. Selbstverständlich ist er Mitglied der SED, aber zu den Hardlinern gehört wer nicht. Schon seit einiger Zeit gilt er als Reformer. 1987 schloss er mit dem damaligem Hamburger Bürgermeister Klaus von Dohnanyi einen Partnerschaftsvertrag zwischen den beiden Elbestädten ab.

Erst vor zwei Tagen hat er die Einladung seines Hamburger Amtskollegen Henning Voscherau angenommen. Ein Sonderzug mit Bürgern aus der sächsischen Partnerstadt sei in Hamburg willkommen, um alles Übrige werde man sich kümmern. Die Organisation ist chaotisch, aber effizient. Die Gastgeber für die Besucher aus Dresden werden per Aufruf im Abendblatt gesucht und sind schnell gefunden. Auch der Rest wird sich finden. Cornelia und Steffen sind glücklich, als sich der Zug endlich in Bewegung setzt. Nie zuvor sind sie im Westen gewesen, kennen Hamburg nur von Postkarten und aus Erzählungen. Und nun werden sie selbst über die Grenze fahren, werden sehen, wie die Menschen dort leben, wie der Alltag dort funktioniert. „Ob es möglich sein wird, ob wir tatsächlich Karten bekommen? Der Andrang soll ja groß sein“, sagt Cornelia. „Und wahrscheinlich sind die Karten extrem teuer. Keine Ahnung, wie das funktionieren soll“, meint Steffen. Eigentlich haben die beiden jungen Leute im Moment nur einen Wunsch, sie wollen eine Vorstellung des Musicals „Cats“ im Hamburger Operettenhaus besuchen. So viel haben sie schon davon gehört, sie haben sich von einer befreundeten Tänzerin die Noten im Westen besorgen lassen, um die Songs selbst singen zu können.

Ab Mitternacht wird es stiller im Zug. Nachdem später die Grenzformalitäten erfreulich schnell und unkompliziert abgewickelt sind, schlafen viele der Reisenden dann doch ein. Cornelia und Steffen sind zu aufgekratzt. Sie schauen aus dem Zugfenster und sehen Leuchtreklamen im Dunkel. Die Neonlichter von Tankstellen, Häuser mit intakten Dächern und hellen und sauberen Fassaden, es scheint alles anders zu sein als im Osten. Als der Morgen graut, ist schon mehr zu erkennen. Man sieht herausgeputzte Bahnhöfe, Supermärkte, schicke Autos und viele Werbetafeln. Ungewohnt und fremd ist das, fast ein bisschen unwirklich. „Bei wem werden wir wohl landen? Die kennen uns doch gar nicht“, sagt Cornelia noch, bevor der Zug im Hamburger Hauptbahnhof einfährt. Sie schauen aus dem Fenster und sehen schon vom Weitem, dass der Bahnsteig von Menschen wimmelt. Sie winken, und die Dresdner winken aus den Zugfenstern herzlich zurück. Kaum sind die Türen geöffnet, fallen sich wildfremde Menschen in die Arme, es gibt Freudentränen, und alle reden durcheinander.

Ein junges Paar aus Altona nimmt Cornelia und Steffen für das Wochenende auf. Sie haben sich ein großes Programm ausgedacht, wollen den beiden Dresdnern die Alster zeigen, natürlich den Hafen, auch die Reeperbahn. Dann soll es zu den schicken Geschäften auf der Mönckebergstraße gehen und ins Rathaus. „Wir würden so gern das Musical ‚Cats‘ sehen“, sagt Cornelia schüchtern und erzählt ihren Gastgebern, dass sie Sänger an der Dresdner Staatsoperette sind und sich heimlich die Noten von „Cats“ besorgt haben.

Und dann sitzen sie tatsächlich am Abend im Operettenhaus an der Reeperbahn und schauen gebannt zu, wie die Katzen singen und tanzen. Als die alte und schon etwas verlebte Grizabella am Ende des ersten Akts ihren Song „Erinnerung“ singt, flüstert Steffen seiner Freundin allerdings ins Ohr: „Das kannst du besser.“

Am Sonntagabend verabschieden sie sich von ihren Gastgebern und steigen ganz erfüllt von neuen Eindrücken und Erlebnissen wieder in den Reichsbahn-Sonderzug, der sie nach Dresden bringen wird. Die Melodien aus „Cats“ haben sie immer noch im Kopf.

„Ich kann es besser“, sagt Cornelia leise und eigentlich nur zu sich, als der Zug quietschend anfährt und den Hamburger Hauptbahnhof wieder verlässt. Wie alle anderen winken auch Cornelia und Steffen den vielen Gastgebern, die sich am Bahnsteig drängen und Taschentücher schwenken.

Nur zwei Monate später sitzt Cornelia Drese wieder im Zug, diesmal fährt sie nach Wien. Im Koffer sind die Noten zu „Cats“, sie hat sich für ein Vorsingen angemeldet. Im Januar 1990 werden in der österreichischen Hauptstadt Sänger für „Cats“-Produktionen gecastet. Manchmal kann sie es immer noch nicht glauben: Die Grenzen sind offen, ich kann dort hinfahren, muss dafür keinen Antrag stellen, niemanden fragen, sondern kann mich einfach in den Zug setzen. „Ich muss es schaffen. Und ich werde es schaffen“, sagt sich die Dresdner Sängerin, als sie später in Wien auf den Moment wartet, in dem sie es beweisen wird.

„Bitte, du bis jetzt dran“, sagt eine junge Frau mit Wiener Akzent, als sie vor die Jury treten soll. Die amerikanische Pianistin nickt ihr zu, und dann singt Cornelia Drese als Katze Grizabella ihre „Erinnerung“.

Wenig später hat sie einen Vertrag in der Tasche. Jetzt ist sie die Grizabella, Abend für Abend. Aber sie singt und tanzt nicht in Wien, sondern auf der Bühne des Hamburger Operettenhauses, wo sie ein Vierteljahr zuvor noch als DDR-Bürgerin im Zuschauerraum gesessen hatte. Elf Jahre wohnt sie mit ihrem Ehemann und dem Sohn Martin in Hamburg. Geheiratet haben Cornelia und Steffen 1991 im Altonaer Rathaus. Bis 2001, als „Cats“ abgesetzt wird, singt sie fast 1600-mal die Rolle der Grizabella. Anschließend zieht das Ehepaar zurück nach Dresden, Martin bleibt in Hamburg. Seit 2008 betreibt Cornelia Drese in der sächsischen Landeshauptstadt ihre eigene Musical-Schule.

Video: Fragen zur hamburgischen Geschichte www.abendblatt.de/historisch

Das Buch zur Serie ist ab sofort im Handel und kostet 24,95 Euro (Abonnenten 21,95 Euro). Es ist auch im Abendblatt-Shop erhältlich: www.abendblatt.de/shop oder unter 040/347-26566